Smells like Gerontokratie

 

In der KUNO-Reihe mit dem Schwerpunkt Trash beschäftigen wir uns mit der Ausstellung Grass als Soldat im Lübecker Grass-Haus. Diese Präsentation über die Mitgliedschaft des Autors in der Waffen-SS ist wenig erhellend und auch kein Zeugnis einer Auseinandersetzung mit dem Skandal aus dem Jahr 2006, berichtete Till Briegleg in der SZ:

Sie folgt im Kern Grass‘ Argumentation, dass vor dem Hintergrund seines enormen, jahrzehntelangen Engagements für die gute politische Sache dieser Fehler doch verzeihlich sein müsse.

Eine Biographie? – Als würde diese Generation über etwas anderes reden können, als sich selbst.

„Die Erinnerung ist eine Fata Morgana in der Wüste des Vergessens“, lautet das Motto von Gerhard Roth. Sein Buch »Das Alphabet der Zeit« versteht sich als Mißtrauensvotum gegen die Authentizität von Erinnerung. Welche Folgen dies allerdings für diese Erzählung oder für Literatur allgemein zeitigen könnte – außer daß es der Phantasie des Schriftstellers einen Freibrief ausstellt, den er längst hat –, kann man bei GraSS nachlesen. „Das ist der Vorteil des Schriftstellers: Wenn man etwas loswerden will, schreibt man ein Buch“, schreibt Peter Bamm. „Wenn jemand spricht, wird es hell“ – wie poetisch dieses Freud–Zitat bis heute klingt. Man sieht sofort bildhaft vor sich, um was es geht. Wenn die Welt schweigt, ist es dunkel. Wir bedürfen vom ersten Tag unseres Lebens an der Ansprache. Wir bedürfen des Klangs in unserem Ohr, der von einem Du kommt und uns berührt. Man weiß, daß Kinder, die nicht gestreichelt werden, verkommen. Kinder, zu denen niemand spricht, aber auch. Wie unpoetisch, wie unzärtlich wirkt dagegen der gesamte Bedeutungsraum um ein Wort herum, das mit der Ansprache verwandt, aber konnotativ ihr gegenüber krass benachteiligt ist: die Aussprache „Wir müssen uns endlich mal aussprechen.“ – „Ein Schriftsteller existiert eigentlich nur in seinen Texten“, schreibt Joyce Carol Oates. „Schriftsteller sind Leute, die ihre ungelösten Lebensprobleme, interessant verpackt, an andere weiterreichen. Gegen bar“, schreibt Hanns–Hermann Kersten. Das Bessere, das Ich und seine Lebendigkeit, ist immer anderswo. Das gilt sowohl für die Verhältnisse im Buch als auch für das zwischen dem Buch und dem Leser. Wenn das Buch den Leser aussperrt, wirft es ihn auf sich als auf einen anderen. „Ein Schriftsteller ist jemand, dessen Intelligenz nicht groß genug ist, um mit dem Schreiben aufhören zu können“, schreibt GraSS, der sich jüngst als SS–Mann geoutet hat. Wir erkennen, daß die Feigheit zur Lüge gehört, der Mut zur Wahrheit, wir hören, die „nachwachsende Scham“ habe GraSS zum späten Geständnis gedrängt, wie steht es mit der Reue, wächst sie hinterher?

Wer seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS verschwiegen hat, sollte sich zu Charakterfragen besser nicht mehr äußern.

Oskar Lafontaine

Mich fasziniert der hochfahrende Moralismus, mich begeistert diese bürgerliche Entwicklungsgeschichte in unbürgerlicher Zeit, das gibt es nurmehr im Mikromilieu des Anstands, dem Gegenbild zu der von antibürgerlichen Affekten geprägten Welt des Haifischkapitalismus. Deutschland ist das einzige Land, in dem die Intellektuellen sich weigern, Patrioten zu sein, wo das Wort Patriotismus schon eine Beleidigung ist. Niemand ist hier stolz auf sich oder sein Land oder seine Kultur. Diese Angst, dieser Masochismus, dieser Kult der Niederlage, der schon bei Thomas Mann zu finden ist – all das hat doch den nationalistischen Chauvinismus verhindert.

Die Aufarbeitung der Geschichte ist schwierig, das Aufarbeiten der dunklen Seiten der Geschichte, der eigenen Schande, der persönlichen Schuld und Unterlassungen, der Verwicklungen der einzelnen Menschen ist ein wichtiger Teil der nationalen Abrechnung… Der Gewissensbiß, der GraSS seit seinem Einsatz in der SS–Panzerdivision „Frundsberg“ gequält haben mag, hat GraSS nicht nur als Grundtatsache seines literarischen Werkes verwendet, sondern als moralischen Blasebalg – damit hat er den Lesern Deutschen seit mehr als einem halben Jahrhundert Feuer gemacht. Was seine Literatur und seinen moralischen Appell für lange Zeit so verführerisch machte, war, daß beide durch die Person des Autors beglaubigt schienen. Kein anderer deutscher Autor hat seine Vergangenheit, seine geschichtlichen Erfahrungen und seinen persönlichen Lernprozeß scheinbar so kompromißlos ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt wie GraSS. Das Wichtigste, was an der Aussprache zu loben wäre, ist: Sie klärt. Wenn jemand spricht, wird es zwar hell. Wenn zwei miteinander sprechen, wird es hell und klar. Der Ausdruck „klare Aussprache“ spricht in seiner Doppelbedeutung ja für sich. Er betrifft Artikulation wie Kommunikation, und in beiden Fällen ist das Nuscheln verschenkte Lebenskunst. GraSS, das vermeintliche Gewissen vieler Deutscher, brauchte über 60 Jahre, um über seine Vergangenheit zu sprechen. Aber auch um ein Geständnis abzulegen und die Verantwortung zu übernehmen. Seine Glaubwürdigkeit wird darunter leiden. Man kann das Werk eines Künstlers nicht von seinem Schöpfer und dessen Leben trennen. Verwerflich ist, daß GraSS in der Pose des selbstgewißen und von Eitelkeit nicht freien Moralisten versucht aus seinem Schuldgeständnis ein ästhetisches Kapital zu schlagen. Dieser Autor hat wie kein Anderer die deutsche Schuldverstrickung im Nationalsozialismus zu seinem Thema gemacht. Er war ein Mensch, dessen großes Werk es den Deutschen ermöglicht hat, ohne Grimasse und Heuchelei in den Spiegel ihrer nazistischen Vergangenheit zu schauen. Und nun hat GraSS zugegeben, daß er ein Leben lang darüber geschwiegen hat, was er selbst während des Zweiten Weltkriegs war. Sogar Papst Benedikt XVI. war Mitglied der Hitlerjugend und wurde zur Wehrmacht eingezogen. Aber: Der Papst desertierte aus der Armee und verschwieg seine Vergangenheit nicht. Der Fall GraSS ähnelt eher dem Fall Kurt Waldheim: Der ehemalige UN–Generalsekretär hatte verschwiegen, daß er im Krieg Einheiten kommandierte, die Gräueltaten in Westbosnien verübten. Der moralische Rigorismus des GraSS, den es zur Elite der Barbarei getrieben hat, zur SS–Division „Frundsberg“, offenbart sich in diesem Licht als Ersatzhandlung, seine Polemiken zielen nicht allein ‚auf die Sache‘, sie speisen sich aus verschwiegener Scham und Schuld. Diese Prätorianer–Garde gehörte ursprünglich nicht zur Wehrmacht, sondern bildete eine durch extreme Härte und Rücksichtslosigkeit ausgezeichnete Einheit der nationalsozialistischen Partei, die das Standardwerk von Bernd Wegner als „Hitlers politische Soldaten“ bezeichnet. Die Liste der Verbrechen, vor allem Untaten in den KZ und den Vernichtungslagern, nicht zuletzt auch Kriegsverbrechen bei der so genannten „Partisanenbekämpfung“ ist lang: Die Massaker von Oradour sur Glane oder Sant’Anna di Stazzema, bei denen ganze Ortschaften samt Greisen und Säuglingen hingeschlachtet wurden, sind von der Waffen–SS begangen worden. Sie gehören in den Sommer 1944, in jene Wochen, in denen GraSS, kurz vor dem siebzehnten Geburtstag, seinen Einberufungsbefehl erhielt. Es war folgerichtig, daß er zur Waffen–SS gelangte. Für Naturen wie ihn, die von sexueller Frustration, Sozialneid, Ressentiment und seelischer Unempfänglichkeit geprägt waren, wurde sie erfunden. Die islamischen Terror–Kommandos dürften sich aus ähnlich gearteten Jungmännern rekrutiert haben. Wie GraSS die letzten Kriegswochen erlebt hat, daran kann er sich angeblich nicht erinnern: „Aber dann reißt der Film. Sooft ich ihn flicke und wieder anlaufen lasse, bietet er Bildsalat.“ Das sind rührend hilflose Ausdrücke für einen Mann, dem es sechzig Jahre lang über Zehntausende von Seiten niemals an Worten gefehlt hat. Man merkt diesen Zeilen förmlich an, daß sie nichts mit literarischer Insuffizienz, sondern schlichterdings mit dem Mangel an Courage zu tun haben.

Mit dem Outing des Großschriftstellers GraSS, dem die Nazis im Sinne Benjamins auch einmal zu „seinem Ausdruck“ verhalfen, hat die alte BRD ihren letzten Medienskandal. Man kann den Fall GraSS getrost als ausgefuchste Marketingstrategie erledigen, bliebe in seinem Fällen nicht ein Unbehagen in der Kultur und winkte das Verdrängte nicht aufdringlich über den heimischen Gartenzaun. Hier verübelt das aufgeklärte Publikum ihrem Matador das Schweigen, das auf es selbst zurückfällt. Selten dämlich auch seine Stotterei in seinem FAZ–Promo–Interview: „Mein Schweigen über all die Jahre zählt zu den Gründen, warum ich dieses Buch geschrieben habe. “ Das Problem ist nicht, das sich GraSS in seiner penetranten Selbstgerechtigkeit moralisch zu einem überdimensionalen Ochsenfrosch aufgeblasen hat, sondern auch, daß sich die BRD–Intelligenzia darin wiedererkannt hat. GraSS pflegt eine demonstrative Unbedarftheit, die in einem irritierenden Kontrast zu seiner politischen Bescheidwisserei steht. Der politisierende und nicht selten polternde Literat ist in seiner plump moralisierenden Grobschlächtigkeit schwer erträglich. GraSS spürt seine Wesensmitte: Die Bedrohung durch die Barbaren. Während er darüber nachsinnt, wie er die Leiden der Welt mindern könnte, fliegen ihm die Bomben durchs Teegeschirr. Infernalische Urmenschen neiden ihm seine Freiheit, seine Zivilisiertheit, seine Gesittung. Und deshalb muß der er tun, was ihm furchtbar widerstrebt: Er muß wieder los, um das Napalm der Freiheit in die Köpfe der Finsternis zu bomben, mit dem Uran der Demokratie die Kinder verstrahlen und mit Dioxin den Ernst seiner Mission segnen. Kurz, er muß tun, was er seit 500 Jahren tun mußte: den Rest der Welt verwüsten. Zu dieser Sorte heulender Angriffskrieger hat sich der polternde Präzeptor Germaniae bekannt. GraSS brandmarkte er die Ära des Wiederaufbaus unter Adenauer und Erhard als Epoche der Restauration aus Verdrängung und schlechtem Gewissen. Später polemisierte er gegen den Nato–Doppelbeschluss, warb um Sympathien für die DDR, demonstrierte seine Verachtung der USA und geißelte den global ausgreifenden Kapitalismus. Diese Einmischungen von GraSS verraten eine erstaunliche Blindheit. Sie gipfelten in der nunmehr verständlichen These, die deutsche Wiedervereinigung verbiete sich wegen Auschwitz, und beim Anschluß der neuen Bundesländer handele es sich bloß um „ein Schnäppchen namens DDR“. Er hat derlei mit nervtötender Ausdauer wiederholt. Hierbei verfuhr er ganz unzimperlich; auch genoß er sichtlich die Resonanz seiner Invektiven. Zu dieser Selbstgerechtigkeit des nahezu unheilbar guten Gewissens paßt die späte Offenbarung gar nicht. Nun ist die Blase geplatzt und sieh „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

Wer einen Sinn fürs Theatralische und für Überspitzungen hat, kann in derlei Bezichtigungen und Selbstbezichtigungen die bizarre Abschiedsvorstellung einer abtretenden Generation zu sehen, einer Generation von Intellektuellen, die in der westdeutschen Bundesrepublik ab dem Ende der 1950-er Jahre die tonangebende war und es in manchem Betracht auch im wiedervereinigten Deutschland geblieben ist. Bei dieser Diskussion scheint es so, als würde das Naziregime doch noch zum Tausendjährigen Reich.

Die Frundsberg–Parole, unter der seine Waffen–SS–Einheit antrat lautet: „Viel Feind, viel Ehr“. Die Vorstellung von Schriftstellerei und militärischem Ruhm, siehe auch Ernst Jünger, hält noch bis ans Ende des Zweiten Weltkrieges vor. Die jüngsten Jahrgänge hatten eine Vorstellung von Heldentum, quasi Fremdenlegion in den eigenen Reihen. Hinter all dem steckt ja das Pathos des Antibürgerlichen, Draufgängertum, Landsknechtsfantasien, Kriegsrittertum. Die anti–bürgerlichen Fantasien der Generationen nach dem Kriege, auch die der Achtundsechziger, waren strikt anti–militärisch. Allenfalls gab es noch den Revolverhelden der RAF – aber die Idee des soldatischen Mannes war verschwunden. Bei der Generation der damals Siebzehnjährigen am Ende des Zweiten Weltkriegs war dieses Ideal aber offenbar noch vorhanden. Es gab sicherlich einen großen Drang, zur Truppe zu gehören, die Vorstellung des intensiven Lebens. Der Typus des soldatischen Schriftstellers hat davon noch gezehrt. In wenigen Wochen ist ein unglaublicher Fundus von intensiven Bildern entstanden, von euphorisch aufgeladenen Situationen, die man dann das ganze Leben lang entwickeln konnte als Film. Auch wenn GraSS sich mit diesem Buch einem späten einem Entnazifizierungsverfahren unterwirft, es ist ein Pathosgefälle zwischen einem Mitglied der Waffen–SS und einem Flakhelfer oder Pimpf zu erkennen. Die Flakhelfer sind eine vergiftete Generation, eine Generation, die in der Schizophrenie lebt. Einerseits hat sie politisch und intellektuell mit der Nazi–Herrschaft radikal abgerechnet, andererseits ist sie nicht imstande, die eigenen und selbst eingestandenen, oft diffusen und zwiespältigen Scham– und Schuldgefühle ähnlich klar und unmißverständlich zu artikulieren wie der Pfarrerssohn Friedrich Dürrenmatt, der im Mai 1941 für einige Monate der „Eidgenössischen Sammlung“ beitrat – einer rechtsradikalen, vom Faschismus faszinierten Studentengruppe, die offen für den Anschluß der Schweiz an Nazi–Deutschland eintrat: „Zwar war mein Vater ein überzeugter Antimarxist, ich hätte mich, um ihn und die christlichen Kreise zu provozieren, auch als Kommunisten ausgeben können. Aber ich hatte vom Marxismus nur eine verzerrte Vorstellung, er war ein Gerücht, nicht eine mögliche Gegenwelt.“ Was blieb also dem 20–jährigen Rebellen übrig, der eine Gegenwelt zu der seines Vaters suchte? „Ein nebulöses Parteinehmen für Hitler“.

Lieber fühlen sich BRD-Schriftsteller als Opfer einer ungerechten Öffentlichkeit. Exemplarisch ist dies in Martin Walsers Paulskirchenrede von 1998 deutlich geworden, als er nebulös von der „Instrumentalisierung unserer Schande“ und der „Moralkeule“ Auschwitz sprach und sich als gleichsam als Opfer der Geschichte beschrieb – fast so, als würden die Millionen Ermordeten nun zu geisterhaften Tätern am schlechten Gewissen der Deutschen. Walsers Werk und Person steht seit der Friedenspreisrede von 1998 unter politischem Generalverdacht. Ihm werden antisemitische Ressentiments und der Willen unterstellt, die Geschichte der deutschen Verbrechen zu verdrängen. Wie GraSS fühlt er sich im Innersten verletzt und wählt als literarische Form der Gegenwehr nicht die Streitschrift, nicht das polemische Pamphlet, auch nicht die Satire oder die Parodie, sondern die lyrische Selbstbeobachtung und Selbstentblößung. Wie GraSS bleibt er eine öffentliche Figur, diese Haut kann er nicht abstreifen. Doch stellt er nun die Empfindsamkeit und Empfindlichkeit dieser Haut aus. Die einen wird das peinlich berühren, die anderen werden erschrocken sein über die persönlichen Kosten des massenmedialen Meinungszirkus.

Man kann Sex haben, ohne zu penetrieren, Haschisch rauchen, ohne zu inhalieren – aber kann man auch Mitglied der NSDAP gewesen sein, ohne es zu wissen? Solche sarkastische Fragen wachen in dem Masse, wie die Liste der Intellektuellen immer länger wird, die in der NSDAP waren, dies aber nie von sich aus thematisierten. Kunde davon, daß sie in die Partei entweder aufgenommen worden waren oder zumindest einen Antrag auf Aufnahme gestellt hatten, gab es in den letzten Jahren von den Historikern Martin Broszat und Fritz Fischer, den Literaturwissenschaftern Peter Wapnewski, Walter Jens und Walter Höllerer sowie dem Literaturkritiker Friedrich Sieburg. Dazu kommen die Schriftsteller der so genannten Flakhelfer–Generation: Martin Walser und Siegfried Lenz sowie der Kabarettist Dieter Hildebrandt. Wenn Grass, Walser und andere Autoren die Verbrechen der Deutschen während des Nationalsozialismus mit literarischen Mitteln ins öffentliche Bewußtsein rückten, haben sie sich damit um ihr Land verdient gemacht. Daß sie ihr eigenes Verstricktsein in Denken und Habitus des Nationalsozialismus nicht aufarbeiteten, zeigt sich vor allem bei vielen Mitgliedern der Gruppe 47: das Pöbelhafte ihrer Rituale, ihr Fremdeln vor den literarischen Emigranten, vor allem aber das Ausgrenzen von differenzierter organisierten Naturen, wie es im Umgang mit Paul Celan oder Hermann Lenz zum Ausdruck kam, dieses Verharren in einer Art Volksgemeinschaftswahn zeugt davon, daß sie Freuds Gebot vom Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten nicht befolgt haben. Wenn Grass aber eingesteht, selbst ein wesentliches Detail seiner Nazi-Vergangenheit über Jahrzehnte verborgen zu haben, führt kein Weg daran vorbei, ihm einen erheblichen Verlust seiner politischen Glaubwürdigkeit zu attestieren. Die Goldhagen– ebenso wie die Walser–Bubis–Debatte, die Vergegenwärtigungen der Wehrmachtsverbrechen, die Auseinandersetzungen um das Berliner Holocaust–Mahnmal, womöglich auch die GraSS–Aussprache sind keine gedächtnispolitischen Marginalien gewesen. Die Wortgefechte zwischen den Generationen ebenso wie die hartnäckigen Vergewisserungen der Nachgeborenen haben das Selbstverständnis dieser Republik gefestigt. Man muß das bißchen Mut fordern, das nötig ist, um überhaupt noch das Wort von Aufklärung und Wahrheit im Munde führen zu können. Vor über 60 Jahren war GraSS ein junger deutscher Nazi, ein Führer–Gläubiger, ein Opportunist und Mitläufer. In dem Kapitel „Wie ich das Fürchten lernte“ beschreibt er seine Erinnerungen an die Kriegszeit. Er nennt die näheren Umstände seines Einberufungsbefehls nicht und beschreibt die Zeit bei der Waffen–SS ab der Seite 121, wie in folgenden Wortlaut–Auszügen dokumentiert:

„Der Zwiebelhaut steht nichts eingeritzt, dem ein Anzeichen für Schreck oder gar Entsetzen abzulesen wäre. Eher werde ich die Waffen–SS als Eliteeinheit gesehen haben, die jeweils dann zum Einsatz kam, wenn ein Fronteinbruch abgeriegelt, ein Kessel wie der von Demjansk aufgesprengt oder Charkow zurückerobert werden mußte. Die doppelte Rune am Uniformkragen war mir nicht anstößig. Dem Jungen, der sich als Mann sah, wird vor allem die Waffengattung wichtig gewesen sein: wenn nicht zu den U–Booten, von denen Sondermeldungen kaum noch Bericht gaben, dann als Panzerschütze in einer Division, die, wie man in der Leitstelle Weißer Hirsch wußte, neu aufgestellt werden sollte, und zwar unter dem Namen ‚Jörg von Frundsberg‘. Der war mir als Anführer des Schwäbischen Bundes aus der Zeit der Bauernkriege und als ‚Vater der Landsknechte‘ bekannt. Jemand, der für Freiheit, Befreiung stand.

Was für ein grauenhafter Text! „eher werde ich… gesehen haben…“ Ist er sich schon völlig abhanden gekommen? Wieso schreibt er nicht: ich kriegte doch auch einen hoch, wenn ich das Gebrülle hörte, ich wollte doch auch SIEGEN, und Russen abknallen, blonde Mädels beschützen und die Besiegten tot vögeln usw… ich war mehr als ein Mitläufer, ich war drauf und dran, zum Täter zu werden.“ Wenn er das sagen würde, wäre das zwar shocking, aber es wäre ehrlich und dann könnte man mal ehrlich diskutieren, was da subkutan noch alles eitert bei den Zeitgenossen. Dann hätte er beschreiben können, wie es war, als sich sein Sinn drehte (die Kehre!) – das wäre mal spannend. Aber leider kann er’s nicht erzählen, erstens, weil es gar keine innere Wende gab, sondern sich nur der Wind drehte, und mit ihm der Bartträger und Pfeifenraucher, der dann später noch einen gewissen Intelligenz–Schub erfuhr und zweitens könnte es gar nicht in Worte fassen, wenn es denn eine Wende gab, denn der Worte scheint er nicht mehr mächtig. Dieser Text ist ein Gestammel. Und wie egoman, was interessiert mich seine Erleichterung? Um die geht es doch nur, nicht um das Poltische. Er wollte sich erleichtern wie man einen Furz läßt und die Geschäfte ankurbeln und ist nun bass erstaunt, daß der Wind doch etwas rauer ins Gesicht weht. Und so rasch kann er sich nicht mehr drehen… Wohin auch?

Die Pointe des Schuldbekenntnisses ist, durch ihr Bekenntnis eine neue Unschuld beanspruchen zu dürfen. Der Universalisierungseffekt: Die Schuldigen sind die neuen Unschuldigen, die im Unterschied zu allen anderen „aus der Geschichte gelernt haben“, ja die anderen Nationalgeschichten gegenüber dem Vorteil eines historisch neuen Paradigmas beanspruchen. GraSS verhällt sich wie Albert Speer, er übernimmt Gesamtverantwortung, ohne individuelle Schuld zu bekennen. Man findet daßselbe Muster in vielen Interviews mit Zeitzeugen: Einerseits befinden sie sich voll auf der Höhe eines Vergangenheitsdiskurses, der keinen Zweifel erkennen läßt, daß das „Dritte Reich“ ein verbrecherisches System war, der Vernichtungskrieg ein maßstabloses Verbrechen und der Holocaust ein Ereignis, das „nie wieder“ geschehen darf. Andererseits aber, emotional, sprechen sie vor dem Hintergrund einer gelebten Erfahrung, die ganz andere Vergangenheitspartikel in das Gesagte, Gedachte und Gefühlte einfügt. Man sieht an dieser Differenz zwischen dem öffentlichen Reden und dem privaten Fühlen allgemein, daß ein einziges Bewußtsein ein Universum von Widersprüchen integrieren kann; man sieht aber auch einen frappanten Mangel an Transferleistungen – zwischen der fortdauernden Empörung über die „Verlogenheit“ der anderen und dem eigenen, sehr bewußten Schweigen etwa. Auch die Bemerkung über die Seelenlage eines jüdischen Dichters, den Organisationen wie die Waffen–SS eigentlich zur Ermordung vorgesehen hatten, zeigt, daß Moralismus gut ohne Selbstreflexion auskommt.

„Selbst wenn mir tätige Mitschuld auszureden war, blieb ein bis heute nicht abgetragener Rest, der allzu geläufig Mitverantwortung genannt wird.“ Scham ja – Schuld nein: Das ist die Formel, die hinter verschwiemelten Formulierungen wie dieser zu stehen scheint. Tatsächlich hat das vermeintliche Schuldeingeständnis etwas Trauriges, wenn man darin die Not erkennt: Die Not, nicht sagen zu können, worauf sich die Scham eigentlich richtet. Nicht seine Herkunft ist das Problem – wohl aber der moralisch–idealistische Jargon, der sich aus ihr erklärt. Vor allem aber moralische Indignation darüber, daß der Erzrepräsentant der deutschen Schulderinnerung nach fast 50 Jahren antifaschistischer Rhetorik, den Enthusiasmus eben nicht des Flakhelfers, wie er bislang behauptet hatte, sondern des Waffen–SS–Soldaten für Hitler und Reich kundgab. Viele der nach dem Zweiten Weltkrieg als öffentliche Ankläger der deutschen Schuldvergangenheit bekannt gewordenen Intellektuellen entstammen – selbsteingestanden oder nicht – nationalsozialistischen beziehungsweise nationalreaktionären Elternhäusern oder aber waren als Jugendliche gläubige Mitglieder der politischen Jugendorganisationen des „Dritten Reiches“ gewesen. Bleibt die Abenteuergeschichte, wie GraSS hinter die russischen Linien geraten ist. Er irrt Tagelang mit anderen Versprengten durch den Zwiebeldunst von Kiefernschonungen und Dörfer und will, vor Angst zitternd, „Hänschen klein“ im dunklen Wald gesungen haben – eine unvergeßliche Episode, so hat man sich die heldenhafte SS vorgestellt.

Diese Unfähigkeit, sich selbst zu belehren, findet sich bei vielen Angehörigen dieser Generation – Martin Walser hat sie sogar zum Programm erhoben –, und sie äußert sich in der völligen Unverbundenheit von historischer Bewertung und lebensgeschichtlichem Erzählen. Es sind dieselben fehlenden Transfers, die wir in den Interviews für die Untersuchung „Opa war kein Nazi“ finden, wenn ein ehemaliger SS–Mann erzählt, wie er Kriegsgefangene erschossen hat, „die so blöd waren, sich zu ergeben“, zugleich aber erschüttert über den Vernichtungskrieg und den Holocaust ist. Es sind dieselben Transfers, die fehlten, als so viele ehemalige Soldaten die sogenannte Wehrmachtsausstellung besuchten und beim Hinausgehen empört und einmütig mitteilten, so etwas habe es bei ihnen nicht gegeben. Dabei handelt es sich nicht um Verleugnung. Es ist schlimmer: In ihrer damaligen Wahrnehmung waren sie ja nicht an Verbrechen beteiligt, sondern sie versuchten, „durchzukommen“, waren „kameradschaftlich“, blieben immer „anständig“ – eben nach den Normen der Zeit. GraSS sieht sich selbst als Opfer: Er betrachtet sich als Opfer der Nazi–Propagandamaschine, so wie er sich als Flüchtling stilisiert oder als jemand, der mit den wenigen Fotos auskommen muß, die seine Mutter aufbewahren konnte. Statt Selbstmitleid wäre Einsicht angebrachter. Wenn er seine Geschichte kurz nach dem Krieg oder zu dem Zeitpunkt erzählt hätte, als er zur öffentlichen Figur wurde, hätten die meisten Menschen seine Position wahrscheinlich akzeptiert. Wenn er damals gesagt hätte: „Ich war in der SS, ich wurde zwangsweise eingezogen, und außerdem war ich ein Kind und habe keine Verbrechen begangen“ – dann wäre das etwas anderes gewesen, und vielleicht wäre er sogar als eine andere Art Opfer betrachtet worden.

Erhellend vor diesem Hintergrund ein Brief von GraSS, der er um 1970 an den SPD-Politiker Karl Schiller geschrieben hat, in dem er diesen auffordert, seine SA-Mitgliedschaft zu gestehen: „Ich möchte Sie, lieber Karl Schiller, noch einmal an unser Gespräch erinnern und Sie unumwunden bitten, bei nächster Gelegenheit – und zwar in aller Öffentlichkeit – über Ihre politische Vergangenheit während der Zeit des Nationalsozialismus offen zu sprechen. Die Nachkriegsgeneration kennt nur Beschwichtigungen, unzulässige Verharmlosungen des Bundeskanzlers, zum Beispiel, er sei weder aus Überzeugung noch als Opportunist Mitglied der NSDAP gewesen. Ich hielte es für gut, wenn Sie sich offen zu Ihrem Irrtum bekennen wollten. Es wäre für Sie eine Erleichterung und gleichfalls für die Öffentlichkeit so etwas wie die Wohltat eines reinigenden Gewitters.“ GraSS‘ öffentliche Abrechnung mit dem Mann, den er einst bereits im Kanzleramt gesehen hatte, und viele andere Anfeindungen jener Zeit stürzten Karl Schiller bald darauf in eine tiefe Krise und ließen ihn verstummen.

Im Lauf der Diskussion wurden Stimmen laut, die zwischen dem Schriftsteller und dem engagierten Bürgen trennen wollen. Die Rede vom „jungen Picasso“, vom „mittleren Beethoven“, vom „alten Goethe“ zerstückelt einen Künstler in Torsi, gibt vor, man könne seine Geistesarbeit, um ein Lieblingswort Thomas Bernhards zu benützen, in Fragmente und Phasen teilen. Was aber das „Jugendwerk“ und das „Alterswerk“ zusammenhält, ist eben der Künstler. Ihn unverstümmelt vorzustellen, hat somit etwas Humanes. Das zentrale Skandalon bleibt der Mangel an der Aufrichtigkeit eines Moralisten, diese läßt sich auch nicht mit dem Euphemismus „nachwachsender Scham“ schönreden. Ein moralischer Appell gewinnt seine Wahrheit durch Gründe und Argumente, nicht durch die Person des Autors. Auch wenn ein notorischer Übeltäter dazu aufriefe, Verbrechen aufzudecken und zu bestrafen, so verlöre diese Aufforderung nichts von ihrer Richtigkeit. Aber vieles von ihrer Berechtigung – und allerhand von ihrer Wirkung. Was die Angehörigen dieser Generation nie begriffen haben, ist, daß sie Teil eines gegenmenschlichen Projekts waren, das es ohne ihre Teilhabe nicht gegeben hätte. Das erinnerungspolitische Zauberkunststück, sich permanent aus jenem Zusammenhang herauszudefinieren, den man zugleich „niemals zu vergessen“ behauptet, beherrschen sie mit solcher Sicherheit, daß die Frage, warum sich ganz normale Deutsche mehrheitlich in erstaunlich kurzer Zeit für die Unmenschlichkeit entschieden haben, bis heute unbeantwortet geblieben ist. Dafür, daß diese Generation im Nationalsozialismus sozialisiert worden ist, kann sie freilich nichts, wohl aber für das nur zögernd bröckelnde Bild von einem „Dritten Reich“ ohne Nazis, einem gigantischen Gewaltausbruch ohne Täter, einer Schuld ohne Schuldige. Dieses rhetorisch überdonnerte und sozial entleerte Geschichtsbild stellt sich über die immer gleichen Konstruktionen her, daß jemand „sich in den Dienst der Nazis“ gestellt habe, sich habe „verführen“ oder „missbrauchen“ lassen.

„Zwar war während der Ausbildung zum Panzerschützen, die mich den Herbst und Winter lang abstumpfte, nichts von jenen Kriegsverbrechen zu hören, die später ans Licht kamen“, schreibt der spätere Nobelpreisträger über seine Zeit bei der Waffen–SS, „aber behauptete Unwissenheit konnte meine Einsicht, einem System eingefügt gewesen zu sein, das die Vernichtung von Millionen Menschen geplant, organisiert und vollzogen hatte, nicht verschleiern.“ Das ist nicht die Sprache, die in den eigenen Abgrund blickt. Das ist das Erbe der nationalsozialistischen Zeit: Eine Distanzlosigkeit sich selbst gegenüber, die eine Anerkennung dessen, was anderen angetan wurde, über bloße Bekenntnisrhetorik hinaus nie im Sinn und, vor allem, nie im Gefühl gehabt hat. Ein Habitus des Immer–recht–Habens, der Larmoyanz, der vollständigen Unfähigkeit zur Ambivalenz, frei von jeder Selbstironie. Totalitäre Systeme sind solche, in denen die größte Gewißheit darüber besteht, was richtig und was falsch ist. Wer in einer Gewißheitswelt groß geworden ist, scheut Ambivalenzen wie der Teufel das Weihwasser. Daß GraSS nun behauptet, seine erste Begegnung mit direktem Rassismus habe er in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager erlebt, obwohl er in der schlimmsten und offenkundigsten rassistischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts groß geworden ist, zeigt, daß er der Wahrheit seiner eigenen Geschichte und der seines Landes nicht wirklich nahe gekommen ist. Die absurde Anekdote, mit der er unterstellt, daß er zum ersten Mal mit direktem Rassismus konfrontiert gewesen sei, als er hörte, wie weiße amerikanische Soldaten ihre schwarzen Kameraden „Nigger“ nannten. Hat GraSS im Ernst erwartet, daß irgend jemand, der einen Funken klaren Menschenverstand besitzt und schon einmal etwas von der deutschen Rassenpropaganda vor und im Krieg gehört hat, ihm das glauben würde?

Sich selbst als Fremden zurüsten, um aus der Distanz zu sehen und – im Idealfall besser – zu urteilen, das ist kein volkstümliches Verfahren. Wohl aber ein bevorzugtes Autorenverfahren, seit Anbeginn der Moderne. „Ich ist ein anderer“, heißt es bei Rimbaud. Doch GraSS entpuppt sich überdies auch als schlechter Autor. Der häufige Gebrauch von entpersönlichten Infinitiv– und Adverbialformen, die an den Stoßseufzer des alten Goethe erinnern, man werde sich doch langsam selbst historisch. Eine Sprache, die tänzelt und nicht tanzt, die zwischen Benennen und Umschreiben schwankt, und Manierismen zur Auflockerung braucht. Dieses Machwerk sollte künftigen Lesern den Blick schärfen für die dunklen Seiten des Grassschen Universums, die man ihm nicht zutraute, weil er sie mit burleskem Getue überspielt hat, weil sein derb–plebejisches Marionettentheater, seine Baalsche Welttrunkenheit, seine hormongesteuerte Exzentrik immer um sich selbst kreisten. Zu Zeiten der Gruppe 47 schwieg GraSS und log, und damals, in den Zeiten des ideologischen Furors war das schlau. Er wollte nicht zugeben, daß er sich freiwillig zur Waffen–SS gemeldet hatte, siegeshungrig, minderjährig, besoffen von Goebbelsschen Phrasen, ein todessüchtiger, dummer Junge. Auf zum letzten Gefecht. Er wäre plötzlich mit seinem Feindbild verschmolzen. Im Rückblick auf das Ende des Zweiten Weltkriegs resümiert Grass so: „Ich wurde aus der Gefangenschaft in den Westen entlassen und befand mich auf freier Wildbahn. Ich mußte mir selbst etwas zusammenschustern mit all den Irrtümern und mit all den Umwegen, während Gleichaltrige meiner Generation, Christa Wolf etwa oder Erich Loest, im Osten des Landes sofort mit einer neuen und glaubhaften Ideologie versorgt waren.“ Im Westen stattdessen herrschte eine Gesellschaft unter Adenauer, „grauenhaft, mit all den Lügen, mit dem ganzen katholischen Mief… durch eine Art von Spießigkeit geprägt, die es nicht einmal bei den Nazis gegeben hatte.“ Zwischen Fakten und Fiktion gibt es, wo ein erinnerndes Subjekt ins Spiel kommt, keine klare Grenze; diese Erkenntnis hat schließlich einen ziemlich langen Bart. Das hindert ihn aber nicht daran, mit großem metaphorischem Tamtam genau daraus die künstlerische Form seines Buches zu gestalten. Es erweist es sich, daß aus dem belehrenden Moralisten ein moralischer Frisör geworden ist.

Fritz J. Raddatz war 1962 das Fehlen der Worte Hitler, KZ, Atombombe, SS, Nazi, Sibirien in den Texten der 47er aufgefallen: „Ein erschreckendes Phänomen, gelinde gesagt.“ Auch andere Zitate lesen sich nun besser zuordnen: „Der Autor als fragwürdiger Zeuge“ überschrieb GraSS 1973 einen Rückblick auf die «Blechtrommel», der mit den Sätzen endet: „Habe ich alles gesagt? – Mehr, als ich wollte. Habe ich Wichtiges verschwiegen? – Bestimmt.“

Die Frankfurter Poetikvorlesung von GraSS im Jahr 1990 trug den Titel Schreiben nach Auschwitz, darin sagte er: „Das sind nicht meine Besorgnisse. Eher bleibt Ungenügen nach 35 Jahren Bilanz. Etwas, das nicht zu Wort kam, muß gesagt werden. Eine alte Geschichte will ganz anders erzählt werden. Vielleicht gelingen noch die zwei Zeilen.“

Worte sind auch Taten, sie beschreiben die Welt nicht bloß, sondern vollziehen kommunikative Handlungen, eingebunden in Konventionen, die bestimmen, was jeweils sprachlich angemessen ist. Ein Geständnis kann Empörung auslösen, nicht etwa weil die eingestandene Schuld so groß, sondern weil an Form und Zeitpunkt des Bekenntnisses etwas faul ist. Es mehren sich Zweifel über GraSSens Wehrmachts–Krankenakte an den biografischen Angaben des Schriftstellers. Danach ist Grass nicht in der SS–Panzerdivision «Frundsberg», sondern in einer Panzerjäger–Ausbildungs– und Ersatzabteilung der SS gewesen. Was mag ihn bewogen haben, in amerikanischer Kriegsgefangenschaft als Frundsberger zu firmieren?

Es ist eine Übersprungshandlung, einen solchen moralischen Anspruch zu erheben. Den Anspruch, für alle zu sprechen. Man kann sich derart weit aus dem Fenster lehnen, daß man die schwarze Uniform nicht mehr sieht. Psychologisch bleiben es zwei Welten: Der Komplex ‚moralische Instanz’ ist eine politisch–intellektuelle Leistung. Da ist das Über–Ich am Werk, das kommt sozusagen noch aus dem Triebuntergrund der Jugend, aus dem, was nicht bewältigt ist. Dem Kitsch und der Ideologie öffnet das leider Tür und Tor, und Kitsch und Ideologie sind die natürlichen Feinde der Vorstellungskraft, der poetischen Fantasie. Der Widerspruch wäre der zwischen dem Dichter und dem Leitartikler. Wenn der Schriftsteller anfängt zu leitartikeln, dann färbt das auf die Bücher ab, und das ist hier ja auch zunehmend geschehen. Der Fabulierkünstler der ersten Romane war eine ganz andere Figur, der Freund Paul Celans im Paris der fünfziger Jahre war ein anderer. Der Hamburger Germanist Klaus Briegleb analysierte eine „angemaßte moralischen Unbescholtenheit“, die zusammen mit der „einzigartigen Praxis des Vergessens“ im Kreis der Gruppe 47 am Gedeihen eines deutschen Antisemitismus nach der Shoah mitgewirkt hat. GraSS liefert nun den Beleg für die Annahme. Er, der sich als Außenseiter sieht, verhält sich zum Zeitgeist außerordentlich affirmativ. Die so genannten 68–er, die versuchen die Nazi–Zeit aufzuarbeiten tun sich durch einen ungeheuer moralischen Anspruch hervor. Die Flakhelfer–Generation, die sich gern als skeptische bezeichnen ließ, hat mit moralischem Rigorismus ein Tribunal errichtet, um diejenigen abzuurteilen, die erstmals und hartnäckig nach der Rolle der Eliten wie des Jedermann in der Nazi–Zeit gefragt haben. Sie haben früh gelernt, sich in einem historischen Raum von Uneindeutigkeiten und Ungewissheiten zu bewegen. Das hat ihre Skepsis so klein und präzise und ihre Haltung so bedingungslos und unnachgiebig gemacht.

„Ich habe mich doch selbst entnazifiziert“, sagte 1995 der linksliberale Germanist Hans Schwerte, als sich herausstellte, daß er bis 1945 Hans Schneider hieß und SS–Hauptsturmführer war. Heute glaubt GraSS, „mit dem, was ich schreibend tat, genug getan zu haben“ angesichts seiner Zeit bei der Waffen–SS. Das ist nicht Verdrängung, aber Verleugnung. Bei den meisten, die mehr oder weniger intensiv mitgemacht haben, kam erst nachträglich die Erkenntnis, an welch barbarischen Taten sie beteiligt gewesen sind. Das hat auch denen den Mund versiegelt, deren persönliche Entnazifizierung glaubhaft ist, und die dazu beitrugen, die junge Bundesrepublik vor einem autoritären Rückfall zu bewahren. Sie haben ihre private, politische und gesellschaftliche Existenz auf neue Grundlagen gestellt, ohne die Transformation ihres Egos öffentlich zu machen. Sie dachten, wir leisten doch genug – GraSS als Literat und öffentlicher Intellektueller, Schwerte als Exponent einer „kritischen“ Germanistik, linksgeneigter Rektor der Universität Aachen und durch sein Auftreten in der Öffentlichkeit.

Hermann Lübbe nannte die 1983 in der Debatte um den „Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein“: „kommunikatives Beschweigen“. Als Beschreibung stimmt das: Man erwirbt sich eine moralische Position über, freundlich gesagt, „biografische Selbstdeutung“. Die scharfrichterliche Strenge, die GraSS kennzeichnet, ist eine Form von Überkompensation: Ich übe diese Rolle aus und exkulpiere mich so nachträglich. Obwohl sie selbst im juristischen Sinne gar nicht schuldig geworden sind, haben die GraSS und Fest stellvertretend für ihre Väter, mit denen sie sich natürlich noch stark identifizierten und um die Tatsache zu verdecken, daß sie als halbe Kinder die Gläubigen der Gläubigsten waren, dieses Tribunal gezimmert und alles, was an Kritik kam, mit verräterischer Aggression niedergemacht. Die Ära der hypermoralischen Söhne von nationalsozialistischen Vätern läuft zeitbedingt aus. Diese Kultur der Bezichtigung, in der der Angegriffene immer schon der Verlierer war. Die Kultur des Verdachts und der Bezichtigung! Mit seiner eigenen Vergangenheitsbewältigung, hat GraSS große Probleme, jenseits aller von ihm immer wieder zugestandenen Verirrungen als junger Soldat, seinen Glauben an den Nationalsozialismus, seinem ersten Unglauben, als ihm Bilder aus den Konzentrationslagern gezeigt wurden. GraSS hat Konsequenzen aus der Niederlage des Dritten Reiches gezogen, er hat die Lage analysiert, aber nicht sich selbst. Seinem Outing ging ein Interview im Spiegel voraus. Auf die Frage einer Publizistin, die ein Buch über den Roman »Der Butt« vorbereitete, zitierte der Spiegel 1979 unter der Überschrift „Am liebsten lüge ich gedruckt“ aus den Protokollen der Journalistin. „Sind Sie ein Mensch, der die Wahrheit sagt?“ GraSS räumt ein, „daß mich die Wahrheit in bestimmten Situationen langweilt und ich dann anfange, die Wahrheit zu variieren oder andersherum zu erfinden. Das hat natürlich manchmal schreckliche Folgen. Ich gebe diesen Lügen, wenn ich sie ausspreche, nur wenig Gewicht, denn am liebsten lüge ich gedruckt. Das steht auch sicher in Beziehung mit dem Hang zur Fiktion, zum Erfinden, zum Märchenerzählen in Formen, die uns heute möglich sind“. GraSS hat sich sein Lebtag lang mit dem Erinnern auseinandergesetzt. Eine zentrale Rolle spielte dabei immer die Erinnerung an die Nazizeit. Er hat über seine Mitgliedschaft in der Waffen–SS nicht geschwiegen, weil er sie vergessen hatte, sondern weil er entschieden hatte, darüber zu schweigen. Einem Schriftsteller, der berechtigterweise die Gesellschaft häufig mit scharfer Kritik belegt hat und der nicht selten Kollegen und Politiker mit Blick auf ihren Umgang mit der Vergangenheit öffentlich gegeißelt hat, hätte mit dem Cowboy und dem dicken Oggersheimer Bittburg besuchen müssen. In der Historiker–Debatte vor 20 Jahren gelang GraSS in atemberaubendem Tempo ein fliegender Wechsel von den inflationären Nazi–Analogien, mit denen auch er die frühe Bundesrepublik überzogen hatte, zur rituell erstarrten These von der historischen Einmaligkeit des Holocaust. Die letzte große Pose als linker Großkritiker leistete sich Günter Grass in der Frankfurter Paulskirche 1998 in seiner Laudatio auf den Friedenspreisträger Yasar Kemal, als er die Asylpolitik der Bundesregierung „einer demokratisch abgesicherten Barbarei“ bezichtigte. Ernst genommen wurde er mit solch maßloser Polemik nicht. Wer sein Leben aufschreibt, muß zwei Entscheidungen treffen: Wie will ich mich erinnern. Wen will ich erinnern. Für das „Wie“ hat Grass das Bild von der Zwiebel gewählt. „Wenn ihr mit Fragen zugesetzt wird, gleicht die Erinnerung einer Zwiebel. Unter der ersten, noch trocken knisternden Haut findet sich die nächste, die, kaum gelöst, feucht eine dritte freigibt, unter der die vierte, fünfte warten und flüstern. Und jede weitere schwitzt zu lang gemiedene Wörter aus, auch schnörkelige Zeichen, als habe sich ein Geheimniskrämer von jung an, als die Zwiebel noch keimte, verschlüsseln wollen.“ Letztlich zeigt sich an diesem Fall der Selbstdemaskierung, daß eine Zwiebel keinen Kern hat.

Gäbe es nur diese eine Wahl: Jede denkende, jede fühlende Person wäre lieber rechts mit Botho Strauss als links mit Günter Grass.

Sascha Lobo in der FAZ

Die eifrigsten Zuwortmelder des Literaturbetriebs, neben GraSS: Martin Walser, Peter Handke und Botho Strauß, stilisieren sich zu inbrünstigen Feinden unseres täglichen Meinungsmarktes. So spielen sie seit Jahrzehnten schon mit der Öffentlichkeit und ihren Kritikern ein Spiel. Bietet sich ein Thema von einiger Brisanz, holen sie gern zu dröhnenden politischen Polemiken aus. Peter Handke mangelt es an Medienkompetenz, er kann seine Gedanken nicht auf eine bündige Aussage reduzieren. Das ist nicht nur Naturell, sondern auch Programm. Vorgefertigtes von sich zu geben ist des Dichters unwürdig. Das überläßt er den Medien, dem „Verbrechervolk“. Um fortzufahren wie oben beschrieben: „Volk ist ja ein bißchen übertrieben. – Gesindel?“ Die wahre Empfindung und Erfahrung bleibt in jedem Fall eine Sache des dichterischen Wortes, und das gilt gerade für die von heuchlerischer Sprache vernebelte jugoslawische Sache. Handkes Tiraden gehen dem Leser zuweilen auf die Nerven, durch ihre Form aber fördern sie das Verständnis noch der jüngsten Querelen um die Zuerkennung des Düsseldorfer Heine–Preises. In einer Hinsicht zeigt sich Handke von ungebrochenem Selbstbewußtsein. Er sieht die Dichtung als Beruf in sich verkörpert. Und das bedeutet für ihn, allein zu gehen, „in der Distanz zu sein und solitair zu bleiben“, vor allem aber mit der Anschauung den Anfang zu machen, um Wandlung zu erlangen vor dem so luftigen wie profanen Altar der Erzählung – „im Blickaufschlagen wird etwas anders mit dir“. Aktives Zuschauen als Ideal, das ist die Fortsetzung von Goethes Projekt einer Rettung der Sichtbarkeit gegen die Anmaßungen der theoretischen Vernunft wie der Metaphysik. Goethe ist für Handke der einzige große deutsche Dichter, der sich vom Wahnsinn der idealistischen Geschichtsphilosophie, jener Sinngebung des Sinnlosen, gänzlich freigehalten hat. „Goethe ist die große, liebe, freche, souveräne Ausnahme.“ So will auch Handke den Mächten des Faktischen, dem „Wissenszeugs“ wie dem Gerede widerstehen, indem er Gedenkzeichen setzt in der Sprache. Werden diese Provokationen dann aber mit politischen Argumenten ebenso polemisch beantwortet, ziehen sich Handke und Konsorten auf ihren Status als empfindsame Poeten zurück, die für die Betriebsamkeit der Medien nur Abscheu übrig haben und beklagen „unsere konsensitiv geschlossene Öffentlichkeit“ (Botho Strauß). Seit vielen Jahren schon umgibt Botho Strauß seine oft reichlich geschraubten Satzkonstruktionen mit herrischer Abwertung der Gegenwart – ein in der Kulturkritik eingeübtes Verfahren: So kann man sich selbst gut als große Ausnahme positionieren, deren Durchblick kaum einer folgen kann. Zuletzt hat Strauß in dem Streit um Handkes Heinepreis die Genies verteidigt; selbst ihr Irren könne so groß sein, daß die breite Masse lieber das Maul halten soll. Daß er reaktionär ist, kann man diesem Erzähler seit langem vorwerfen. Mit Blick auf seinen Stil läßt sich ein weiterer Befund konstatieren: daß er verkrampft ist. Für einen Schriftsteller wiegt dieser Vorwurf bekanntlich viel schwerer. Der Erfolg dieser Strategie ist ein doppelter: Nicht nur sorgen die von den Autoren so ausgelösten Streitfälle, Affären, Debatten, Skandale dafür, daß ihr Name weiterhin zu den meistgenannten zählt, ihr Marktwert also in der von ihnen so lautstark verachteten, weil nur an Prominenz und nicht an literarischer Qualität interessierten Öffentlichkeit möglichst hoch bleibt. Zum anderen verschaffen sie selbst ihren eher unpolitischen, stilleren Werken zusätzliche Aufmerksamkeit.

GraSS sollte bei Imre Kertész nachlesen, wie ein ebenso präzises wie unerbittliches Buch autobiografischer Selbstbefragung jede Art von Rechthaberei unterläuft. Die Diskrepanz zwischen chronischer Empörung über die Verlogenheit anderer und dem kalkulierten Verschweigen der eigenen SS– Mitgliedschaft; der Versuch, die eigene Person mittels eines Alter Ego erzählerisch aus ihrer Verstricktheit in ein Verbrechen herauszumogeln, das man nie zu vergessen vorgibt; der Anspruch, in der Bilanz des eigenen Lebens „das letzte Wort“ haben zu können – solche moralische Schlampigkeit und intellektuelle Vermessenheit hätte sich dieser Autor nicht durchgehen lassen. Fremd sind ihm Präpotenz und Larmoyanz, Empathieverweigerung und Ahnungslosigkeit vor sich selbst. Es gibt wenige Schriftsteller, die so radikal in Frage gestellt haben wie Imre Kertész.

Als wäre all das nicht schon peinlich genug, führte GraSS Gespräche über eine Ehrendoktorenwürde an einer israelischen Universität. Er werde, so schrieb er nach Israel, für den Rest des Lebens das „Kainszeichen“ der SS-Rune tragen müssen. Kain, daß zur Erinnerung, hat seinen Bruder Abel erschlagen, der Beleg steht im 1. Buch Mose 4, Vers 13 – 15: „Kain aber sprach zu dem HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als daß ich sie tragen könnte. 14 Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen und muß unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir’s gehen, daß mich totschlägt, wer mich findet. 15 Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, daß ihn niemand erschlüge, der ihn fände.“ Einen Mord begangen zu haben, war nicht der Gegenstand seines Geständnisses. Will GraSS uns nahe legen, daß er vor aller Welt zum Brudermörder gestempelt sei, und das auch noch zu Unrecht, jedenfalls ohne persönliche Schuld – gewissermaßen stellvertretend für die ganze Waffen-SS, ja das NS-Regime insgesamt?

Mit gebeugtem Nacken ehrfürchtig über Vitrinen stehen, Manuskripte entziffern, verblaßte und an den Rändern abgestoßene Fotografien anschauen und doch wenig darauf erkennen: So stellt man sich die Gruppe 47 vor. Die lautesten Anti–Nazis waren die Höllerers, die Jens und die Lenz, die Wapnewskis und die Höfers und die Schneiders. Mit ihrer hysterischen Vergangenheitsbewältigung versuchten sie sich zu schützen, und doch blieb ein Teil von ihnen genau das, was sie so haßten und fürchteten und verfolgten: sie blieben verhaftet im Nationalsozialismus. Sie wurden zu Apologeten des Widerstandes – gegen den demokratischen Staat. Mit ihrem risikolosen Mut glaubten die Opportunisten ihre Rückkehr in die Zivilisation sichern zu können. Leute wie GraSS und dessen Epigonen haben von dieser Sprachlosigkeit profitiert, sie verschärft und vergiftet. Noch immer gibt es keine Sprache, die es den Deutschen erlauben würde, ihrer historischen Wirklichkeit zu begegnen. Damit sind sie bis heute zur Verlogenheit verdammt. Je mehr wir von unserer Vergangenheit sprechen, desto mehr unterschlagen wir sie. Je geschichtsbesessener wir agieren, desto geschichtsvergessener werden wir. Je mehr Vergangenheit wir bewältigen, desto mehr Vergangenheit vergewaltigen wir. Auch die neue Liberalität ist nur ein weiterer Fluchtversuch. Sie gibt der Nachdenklichkeit und der Trauer keinen Raum. Sie macht uns alle zu Geiseln unserer Belanglosigkeit. Angesichts der immergleichen Nazi–Debatten und immergleichen Gebißträger wird ersichtlich: für die Jüngeren ist in diesem Land kein Platz. Die Alten, die die Nazizeit noch erlebt haben, verstellen ihnen mit ihren NS–Selbstbespiegelungen die Sicht. Wie eine kaputte Schallplatte hängt sie bei der Beschwörung ,,Nie wieder Auschwitz‘‘ fest –eine Leerformel, die mit wirklich allem gefüllt werden kann. Mit der Auseinandersetzung um GraSS werden noch einmal die alten Kämpfe einer untergegangenen BRD ausgefochten. Diese Diskussion wirkt wie aus der Zeit gefallen, so als befände man sich in einer ästhetischen Lücke zwischen den Epochen. Sie hat nichts Zeitgenössisches an sich. Die Historizität der erzählten Geschichte wird durch die bewußt archaisierend–lyrische Sprache transportiert die Schwingungen altertümlicher Redeweisen ins 21. Jahrhundert.

Sunt lacrimae rerum… Tränen sind in allen Dingen… Vergils Äneas sagt diese Worte, als er in Didos Palast Wandbilder vom Untergang Trojas entdeckt und sieht, wie der wehrlose Priamus erschlagen wird. Die Erde weint. Die Erde weint auch über die Opfer des deutschen Wütens. Mahnmale und Museen ehren sie und die Kultur, die unterging, als sie umgebracht wurden. Aber am Ende finden die überall gegenwärtige Totenklage und die Trauer um die Opfer ihre klarste Stimme in einer Handvoll von Werken der großen Literatur, den Büchern von Primo Levi, Tadeusz Borowski und Paul Celan. GraSS gehört nicht mehr dazu. Die Rekanonisierung dieses Autor hat bereits zu Lebzeiten begonnen.

 

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Grass als Soldat, Ausstellung im Grass-Haus, Lübeck

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Ein ganz unbarocker, virtuos redigierter GraSS ist im New Yorker zu lesen, wo aus der gehäuteten Zwiebel ein stark reduzierter Fond gekocht wurde: „Der Text ‚How I spent the war‘ ist nicht der Vorabdruck eines Kapitels aus dem Buch von GrasSS. Er ist eine atemberaubende Strichfassung, die ihr dreizehnseitiges Kondensat aus über hundert Druckseiten des deutschen Originals gewinnt. Ihr Ehrgeiz ist: den Kern der Zwiebel zu bewahren. Und nur ihn. Kühn streicht sie die Metapher der Zwiebel und den gesamten epischen Apparat des Verkapselns und Herausschälens. Virtuos handhabt sie das Messer, mit dem sie hier einen Halbsatz, dort zwei ganze Sätze oder ganze Seiten wegschneidet.