Woher, wohin

 

Kalt, kalt. Konnte es je kälter sein? Er stand vor dem Sandsteingebäude, hinter dessen Mauern sich Menschen liebten, stritten, auf alten Matratzen schnarchten. Er sah durch die braunschwarzen Mauern Katzen sich die Pfoten lecken, Hunde letztes Nass aus Blechkübeln schlappen.Schlappen, ja, ein gutes Wort. Er drehte sich wie ein Kreisel. Die Fenster, die Mauern, das schwache Licht, der helle Himmel über der Stadt. Schnee.

Was war geschehen? Wie war er vor diese alte, hölzerne Türe getreten?

Die Holzkohle, in Metall gehüllt, wärmte seine Hände. Er blickte die Gasse entlang bis zum finsteren Ende. Ein Korridor der Hoffnungslosigkeit. Die Gaslaterne über ihm warf warmes Licht über seine eingemulmten Hände. Das gelblich-rötliche Licht schien zu wärmen und war doch so fern und kalt.

Er fror. Er fror an den Ohren, an der Nase, seine Wangen fühlten sich an wie kaum aufgetaute Koteletts. Wenn er den Mund öffnete, stieß eine Dampfwolke gegen den Mond und einer seiner Zähne, ganz hinten, oben, tobte. Er sah, wie in einem Stroboskopblicht, diverse Szenen. Theater. Leute, die auf Leute mit Knüppeln einhieben. Verletzte, Tote. Hilflose. Er hörte Schreie, Schreie. Schreie. Er drehte sich um, blitzschnell, voller Angst. Nichts. Nichts. Nichts.

Ein Betrunkener torkelte die Führungslinie der Gasse entlang, winkte ihm zu, machte mit den behandschuhten Händen ein Zeichen, das er nicht verstand. Er drehte sich einfach um. Machte ein paar Schritte vorwärts. Plötzlich kam der Schmerz. Er ging vom Hinterkopf aus. Er merkte, dass ihm Flüssigkeit in den Kragen rann. Der Schmerz nahm ihm für ein paar Minuten die Sinne. Dann richtete er sich mühsam auf, sah aus den Augenwinkeln den Säufer, der wie eine unscharfe Silhouette seitwärts stand, brüllte ihn an, irgendwas, irgendwelche Worte ohne Sinn. Die Gestalt verschwand.

Er riss sich den Handschuh von der rechten Hand und tastete seinen Hinterkopf ab. Langsam rückte er seinen Körper Richtung Laterne. Dass die Hand nass war, wusste er. Im gelben Lichtschein sah er Blut. Er roch. Schnee hätte nicht geruchloser sein können.

Blut! Mit schweren Beinen schleppte er sich auf die Treppen eines Nachbarhauses. Sie waren vereist, schmutzig, ein wenig einladender Betonverhau. Er wischte das Eis, so gut es ging, mit den Händen weg, griff sich einen flachen Stein in der Nähe, hackte das gefrorene Wasser auf, warf den Stein flach über das Pflaster. Er schlitterte wie auf Wasser dahin, sieben-, achtmal sprang er auf, blieb dann im Dunkel liegen.

Über sich sah er ein hängendes Schild. Im Dunkeln glaubte er so etwas wie ein Schwein zu erkennen. Fremde Buchstaben. Die hölzerne Eingangstüre schwang auf, ein Männerpaar, Arm im Arm, stolperte über ihn hinweg, einen Dunstkreis von Schweiß, Bier und verbranntem Fett hinterlassend. Sie johlten und sangen. Er schnupperte. Gebrannter Mais, Alkohol, der Gestank nach gekochtem Blumenkohl. Die schwankenden Schatten erreichten das Gaslicht, bogen um die Ecke.

Aus dem Dickicht der Häuser löste sich eine Gestalt. Eine Schirmmütze, eine Uniform. Ein großer Mund, aus dem viele Worte fielen. Zwei Schweinsäuglein starrten ihn an. Die Hände hatte der Unbekannte in die Hüfte gestemmt. „Este la tine totul in regula?“ fragte der große Mund.

„Buna seara“, sagte eine Stimme neben ihm. „Totul e-n ordine““  Die Sprache war ihm unbekannt wie der Fremde, der sie benutze. Die Worte kamen aus dem Dunkel neben ihm. Der Schatten vor ihm schien größer zu werden. Irgendwie kam ihm die Nacht zu Hilfe. Er hangelte sich an der Hausmauer hoch, grinste, strich seine Kleidung glatt, atmete heiße Luft durch die Zähne und ging. Er bewegte sich wie in Trance. Nur gehen, nicht umdrehen. Nur gehen. Die Knie schmerzten, eine Stelle am Kopf brannte wie Feuer. Eines seiner Augenlider zitterte. Den linken Ellenbogen hatte er sich beim Niedersetzen auf die Steinstufen geprellt. Er hatte Mühe, den Arm zu strecken. Ein Blick zurück: Die Uniform folgte nicht. Neben ihm spürte er einen fremden Atem. Vor ihm öffnete sich das Land.

Der Mond leuchtete sparsam aber geduldig ein Hügelfeld aus. Von Ferne hörte er das Plätschern eines Flüßchens. Kein Weg, keine Straße, die er sehen konnte.

Wie war er hierher gekommen, wo war er, wer war er? Wem gehörte die fremde Stimme? Die Fragen schmerzten noch mehr als die immer noch nässende Stelle am Hinterkopf. Nochmals zog er den Handschuh, fühlte die klaffende Wunde, wusste, dass Blut kam, immer noch Blut.

Er wühlte in den Manteltaschen, fand endlich ein altes, verknülltes Papiertaschentuch, presste es auf den Hinterkopf. Neben einem dunklen Busch setzte er sich auf die nasse Erde. Schnee. Schnee. Schnee.

Die Wolken vor dem Mond lösten sich auf. Das runde Gesicht des Trabanten strahlte. Es leuchtete heller als die Gaslaterne in den Gassen. Strukturen der Felder erkannte er, Buschsäume, Ahnungen von Wäldern ringsum. Unendliche Weite. Drei, vier Hunde jaulten in der hinter ihm liegenden Stadt. Ein Vogel hüpfte wenige Meter vor ihm im Schnee, nach Essbarem pickend.

Die plötzliche Stille beunruhigte ihn nicht. Die Hunde waren verstummt. Der Vogel stakste wie im Stummfilm vor seinem Gesichtskreis.An seiner rechten Seite fühlte er das Fell eines kleinen Tieres. Impulsiv streichelte seine Hand das Unbekannte. „Warst Du das?“, fragte er, wunderte sich, dass er seine eigene Stimme nicht hören konnte. Das Tier verschwand unter seinen Händen. Der Wind bewegte das dunkle Gesträuch rings um ihn, lautlos. Ein stechender Schmerz im Kopf, der nicht weichen wollte, ein Pochen, ein Bersten.

Dann der Mond: Erst noch eine helle, marmorierte Scheibe, flankiert von einem Handwurf kleiner Leuchtkügelchen. Dann begann er zu tanzen. Er bewegte sich erst horizontal von links nach rechts, dann auch vertikal. Schließlich begannen die knallbunten Kreiselbewegungen, eine lichtvolle Rakete, hin und her schießend.

 

 

***

Anmerkung der Redaktion: Wir entnehmen diese Kurzgeschichte dem Band „Noch Hundert Lichtjahre bis Buffalo“. Peter Ettls Texte sind Bruchstücke einer ganz eigenen Welt, die der Leser betrachten und fast beliebig zusammensetzen kann. Ob die Trauer um Katzen, die wilde Schönheit einer Lagune, die Hilflosigkeit eines Fremden in einem fremden Land: Der Autor verblüfft mit jedem dieser Texte. Sprachlich geschliffen, inhaltlich immer für eine Überraschung gut, zeigt dieser Band den durch seine Lyrik bekannten Schriftsteller von einer neuen Seite.

Noch Hundert Lichtjahre bis Buffalo, Kurzgeschichten von Peter Ettl, Pop-Verlag 2014

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