Geschenkbande

 

Theodor  lag auf der kleinen Anhöhe aus Decken und Mänteln in seinem Reich, direkt neben dem Kaffeefleck, den sie ihm hinterließ, an jenem Morgen, als sie nach dem Frühstück aufbrach und nicht mehr zurückkehrte. Wendete er sich dem Flecken zu, zerfiel dieser in tausend Teile, um sich zu einem kleinen Tier zusammenzufügen, einem braun-schwarzen Hirschkäfer. Sein Geweih ächzte nach vorn, verflüchtigte sich gold-braun schimmernd Richtung Fenster. Tanzende Funken vor Augen, verschmolz der Käfer, der Abschied, schließlich mit dem Teppich, um beim nächsten Blinzeln wieder aufzutauchen.

Etwas unterschied ihn jedoch noch von seinem Tröster, Becketts Bühne war leer, seine randvoll, jedoch löste sich sein Horten, Sammeln, Halten von allem, was er in die Hände bekam in Nichts auf, sobald es einen Platz in der überfüllten Wohnung erhielt, sodass Beckett ihn auch hier nachvollziehen konnte oder vielmehr er den Beckett; dieses Karge im Überfluss verspürte er in diesem Sammelsurium des Unlebendigen, zählte er die Eintagsfliegen, den Schimmel und die Maden einmal nicht hinzu, dabei lauschte er dem Knistern der Zeitungen im Luftzug der gekippten Fenster und wartete.

Im Haus der Großeltern angekommen, beschlich ihn Übelkeit, es stank nach Lamm und Spargel. Wie jedes Jahr war die gesamte Familie zu Ostern bei den Großeltern zum Essen eingeladen. Die Schuhe ließ er vor der Türe, dort war bereits das Schuhwerk der gesamten Familie aufgebahrt, so adrett, als stünde es zum Verkauf. Er lief durch den sterilen Flur, bemühte sich nirgends anzustoßen, um das Arrangement aus keimfreien Möbeln und Gegenständen nicht zu zerstören. Im Esszimmer angelangt, steuerte er auf kürzestem Weg den Stuhl an, der ihm seit seiner Kindheit zugewiesen war, setzte sich, verharrte nahezu regungslos. Nachdem die Großmutter aufgetischt hatte, schlürften sie schweigend die Spargelcremesuppe, Theodors  ausgehungerter Magen rebellierte gegen die cremige Flüssigkeit, sie trieb ihm den Ekel ins Gesicht. Die Familie tauschte angewiderte Blicke aus, nicht der Suppe wegen, sondern sein Körper war bereits mit seiner Wohnstube ein unauflösliches Band der Fäulnis eingegangen, das  stieß auf wenig Wohlwollen, verband jedoch nun die Familie wenigstens im Ekel. Gemeinsam würgten sie also die Suppe hinunter,  nach dem Lamm entleerte Theodor den Inhalt seines Magens in die  Toilettenschüssel, dann kramte er in seiner Plastiktüte nach den Geschenken, die er für seine Familie zusammengesucht hatte: Gegen den allmorgendlichen Kater seiner Mutter hatte er eine Packung Alka Seltzer besorgt, der Eitelkeit und Oberflächlichkeit seiner Schwester zum Hohn schenkte er eine rote Clownnase aus Pappe, dem Größenwahn seines Vaters wirkte ein verkleinernder Zerrspiegel entgegen, der ihm ein Abbild der Realität liefern sollte, der Unterwürfigkeit seines Großvaters ein schwarzer Umschnalldildo, während die übermächtige Großmutter ein Paar Schweinehoden erhielt. Irritiert betrachteten sie ihre Geschenke, schauten in Theodors überlegen grinsendes Gesicht, wieder auf die ungewöhnlichen Gaben, Blicke wurden ausgetauscht, trafen sich, kreuzten sich, verloren sich wieder, allmählich begannen sie zu begreifen, ihre Münder öffneten sich, schnappten nach Luft, elektrisierte Stille erfüllte das Esszimmer. In der Hand der Schwester zerbrach schließlich ein Weinglas und löste das Schweigen. Nach  Worten ringend, stammelte sie:

„Wie sollte ich mit dieser Nase noch schön sein?“

„Dein Spiegel macht ein kleines verhutzeltes Männchen aus mir“, rief der Vater aus, während die Mutter ihr Glas randvoll mit Rotwein füllte und die Alka Seltzer darin löste. Der Großvater vergoss ein paar Tränen auf den mit zittrigen Händen gehaltenen Dildo. Die Großmutter hielt die Hoden in die Höhe und schrie:

“ Eine bodenlose Frechheit, was hast du dir dabei gedacht?“

Theodor  lächelte zufrieden.

„Theodor! Gib mir gefälligst eine Antwort, wenn ich mit dir rede und lass das dumme Grinsen, das wird ein Nachspiel haben“, zeterte die Großmutter.

Sie würdigten Theodor  keines Blickes und versicherten sich gegenseitig, dass die Familie doch nicht so schlimm sei, wie die Geschenke es vermuten ließen. Seiner Schwester wurde bestätigt, gutes Aussehen sei neben Körperpflege wichtig, die Mutter trinke gerne, sei jedoch keinesfalls eine Alkoholikerin, der Vater besäße in der Tat Größe sowie Schönheit, der Großvater sei ein ganzer Mann und der Großmutter schmeichelten sie, einer müsse doch schließlich die Zügel in der Hand halten. Die Verletzungen blieben trotz der eingetretenen Schönrederei fest im Hinterkopf haften.

„Ich erwarte eine Entschuldigung“, wandte sich die Großmutter an Theodor, nachdem sich die Familie ein wenig von dem Schrecken erholt hatte.

„Das Ansprechen von Wahrheiten lässt sich nicht entschuldigen“, antwortete er.

Der Großmutter fiel der Unterkiefer herunter, zur Statue erstarrt stand sie am Tisch und war zum ersten Mal in ihrem Leben still.

„Ihr solltet mir dankbar sein. Entwicklung erfordert ein Wissen um das eigene Selbst. Ich habe mir größte Mühe gegeben, diese Geschenke für euch auszuwählen“, setzte Theodor obendrauf.

„Raus aus meinem Haus“, schrie die Großmutter, die ihre Sprache wiedergefunden hatte, „ich will dich nie wieder hier sehen.“

Ihr Wort war Gesetz, so verließ Theodor das Anwesen. Aus den Fängen befreit, begab er sich auf den Heimweg.

Er öffnete seine Haustüre, ein Schwarm Fliegen flog ihm zur Begrüßung entgegen. Er scheuchte diese aus dem Gesicht, mit Spannung betrachtete er dann die Gewächse, das entstandene Leben in den Töpfen, den Tassen und Gläsern, auf den Tellern. Die Lebensreise der vergangenen Wochen brachte Wildwuchs, primitive Geschöpfe hervor, die ihn aufrüttelten. Die Geschenkbande durchschnitten, riss er alle Fenster auf  und atmete tief durch. Ein dünner Boden war gelegt, anstatt von diesem zur Decke zu starren, um freien Blickes zu sein, vermochte er nun die Gabel anzusetzen,  ließ sich auf einem halbhohen Stapel Zeitungen nieder, nahm eine erste Rechnung vom Stoß nebenan und öffnete sie.

 

 

 

Weiterführend → Anja Wurm, sizzierte, warum Netzliteratur Ohne Unterlaß geschieht. Vertiefend ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur, sowie ein Recap des Hungertuchpreises.