John Brockmans neues Buch

 

Wissenschaftliche Theorien sind vielleicht die interessantesten, erregendsten und sicherlich die wirkungsmächtigsten Ergebnisse intellektueller Anstrengung. Das gilt gleichermaßen für Theorien in der Mathematik, den Naturwissenschaften oder den hermeneutischen Fächern. Das Interesse an Theorien ist heute weit verbreitet, was auch die bemerkenswerten Erfolge populärwissenschaftlicher Bücher über Themen der Natur- und Geisteswissenschaften erklärt, die im Wesentlichen Bücher über Theorien sind.

Karl Popper

Damit sie überhaupt ›verhandelbar‹ ist, muss eine neue Theorie entweder mit den empirischen Fakten ihres Gegenstandsbereichs vereinbar sein oder gute Gründe dafür haben, dass sie das nicht tut. Dieses Kriterium gilt für die Basisidee der Theorie, quasi ihre ›Syntax‹, nicht für beschreibende Zusatzannahmen. Niels Bohrs Theorie des Atomaufbaus (der wir in unseren Schulzeiten zum ersten Mal begegneten) ist ein Beispiel: Die Annahme planetenähnlicher Bahnen, auf denen Elektronen einen zentralen Atomkern umkreisen, war schon im Geburtsjahr der Theorie nicht in Einklang mit empirischen Fakten, aber die Basisidee von der Existenz diskreter Energieniveaus im Atom richtig, richtungweisend und revolutionär. Dieses und viele andere Beispiele zeigen, dass die allzu strikte Anwendung von Karl Poppers Kriterien zur Bewertung von Theorien nicht sinnvoll ist. In den USA nennt man besonders eifrige Überwacher aktueller Theorienbildung, auch in den Naturwissenschaften, gelegentlich ziemlich boshaft »Popperazzi«.

Supervenienz

Zwischen Theorie und Empirie besteht häufig ein  »supervenientes« Verhältnis, d.h. eine Theorie führt zwar auf eindeutige empirische Konsequenzen, aber die empirische Datenlage lässt nicht umgekehrt einen eindeutigen Schluss auf die zu ihrer Erklärung geeignete theoretische Struktur zu (1). Dass es zu einem Phänomen zwei oder mehr akzeptable Theorien gibt, die es gleichermaßen befriedigend erklären, ist keine seltene Erscheinung. Wie verhält sich die Scientific Community in solch einem Fall? Erfahrungsgemäß entscheidet sie sich für die Theorie, die sie als die ›schönere‹ empfindet. Ohne Zweifel wird das Denken der Menschen seit je ganz wesentlich von ästhetischen Faktoren bestimmt, der Mensch ist ein vor allem ästhetisch determiniertes Wesen. Aber was verstehen Wissenschaftler, wenn sie über Theorien sprechen, unter ›Schönheit‹?

Einfachheit und Schönheit

Dazu gibt es eine aktuelle ›Umfrage‹ von dem US-amerikanische Wissenschaftsjournalisten John Brockman, bekannt durch viele Bücher und sein Internetportal Edge. Brockman hat Wissenschaftler aus ganz unterschiedlichen Fachgebieten – Philosophie, Mathematik, Physik, Biologie, Wirtschaft, Geschichte, Anthropologie u.a. – nach ihrer Lieblingstheorie gefragt und den Gründen für ihre Wahl. Von den etwa 200 eingegangenen Antworten ist eine Auswahl als Buch erschienen, von dem es auch eine deutsche Ausgabe gibt (2). Nicht überraschend, dass Darwins Evolutions- und Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie die am häufigsten genannten Beispiele sind. Als wichtigstes Merkmal einer ›schönen‹ Theorie wurde mehrheitlich ›Einfachheit‹ genannt. Als ›schön‹ wird eine Theorie empfunden und auch so bezeichnet, die mit wenigen Grundannahmen und wenigen empirischen Parametern auskommt, aber trotz (oder wegen) ihrer ›Einfachheit‹ eine große Zahl auch scheinbar divergenter Phänomene aus einem einheitlichen Ansatz erklären kann. So verstanden ist zum Beispiel das außerordentlich erfolgreiche ›Standardmodell‹ der Elementarteilchenphysik keine ›schöne‹ Theorie: es benötigt mehr als 20 gott- oder naturgegebene (Haim Harari), d.h. von der Theorie nicht begründbare empirische Parameter (2). Aber der Physiker Frank Wilczek weist darauf hin, dass Vorstellungen und Urteile über die ›Einfachheit‹, ›Schönheit‹ oder ›Eleganz‹ von Theorien meist wesentlich auf intuitivem Gespür beruhen und schwer auf den Begriff zu bringen sind (2).

Erklärungshierarchien

Von dem Neurowissenschaftler Robert Provine findet man in Brockmans Buch eine zwar sehr amüsant formulierte aber nicht weniger zutreffende Feststellung: Physik ist zwangsläufig die Wissenschaft vom Verhalten der Physiker, Biologie die Wissenschaft von den Biologen und so weiter. Natürlich erforschen Wissenschaftler mit den je eigenen Methoden ihres Fachgebiets immer nur Ausschnitte der ›Welt‹, sehen die ›Welt‹ durch separierende Brillen. Die dabei entstehenden Theorien sind meist Antworten auf Warum-Fragen, die sich auf Objekte oder Prozesse beziehen. Antworten auf Warum-Fragen haben häufig die Eigenschaft weitere Warum-Fragen zu veranlassen. So entstehen Hierarchien von Erklärungen, die oft von einer Fachdisziplin zu einer anderen, der je ›fundamentaleren‹, führen. Für jede Fachdisziplin existiert eine charakteristische Grenze für ihr Vermögen, Erklärungen zu geben. Jenseits dieser Grenze ist ihre einzig mögliche Aussage über einen Sachverhalt: So ist es eben. Die nächstfundamentalere‹ Disziplin kann vielleicht eine Erklärung liefern. Seit je besteht die Auffassung, dass die Physik die Wissenschaft ist, die am ehesten die letzten großen Fragen stellen und auch beantworten kann. Jenseits ihrer Erklärungsgrenze beginnt die Metaphysik.

Große Vereinigung

Manch kritische Geister sind allerdings der Meinung, dass die (theoretische) Physik mit ihren aktuellen Konstrukten Superstring- und Multiversum-Theorie im Reich der Metaphysik längst angekommen ist.

Seit langen suchen die theoretischen Physiker nach einer Weltformel, einer Grand Unified Theory von Quanten- und Allgemeiner Relativitätstheorie. Eine derartige Theorie würde gleichermaßen die Welt der kleinsten Dimensionen, d.h. der Elementarteilchen,  und die der größten Dimensionen, d.h. den Kosmos, ausgehend von einem einheitlichen Ansatz beschreiben und wäre quasi die letztmögliche finale Theorie der Physik.Technisch ausgedrückt wäre die Grand Unified Theory eine Quantentheorie der Gravitation und ihre Bedeutung für Gebiete wie die Chemie, Biologie oder Neurophysiologie wahrscheinlich marginal. Vielleicht nicht für die Philosophie. Die Erkenntnisse der Physik von gestern sind die Axiome der Philosophie von morgen, hat der Wissenschaftstheoretiker Phillip Frank gesagt.

Nach Ansicht vieler, nicht aller Physiker, ist der beste Kandidat für die Realisierung einer Grand Unified Theory die Superstringtheorie (3), aber für diese Theorie fehlen den Kritikern empirische Beweise. Das Gleiche gilt für die Multiversumtheorie (3), die stets im Gefolge der Superstringtheorie auftritt. Bescheiden wir uns, rät der Physiker Freeman Dyson (2), eine Quantentheorie der Gravitation wird man empirisch nie beweisen können; lassen wir das, was wir haben ­– Quanten- und Allgemeine Relativitätstheorie — in friedlicher Koexistenz nebeneinanderleben.

Auf einen Aspekt ganz anderer Art weist der Physiker und Nobelpreisträger Steven Weinberg hin: Üblicherweise sind die Fortschritte in der Geschichte der Wissenschaften dadurch gekennzeichnet, was wir über die Natur Neues lernen; aber in bestimmten kritischen Momenten ist es das Wichtigste, was wir über Wissenschaft selbst lernen.

 Die Zukunft wird spannend.

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(1)  Martin Carrier in Chemie und Geisteswissenschaften (J.Mittelstraß und G.Stock, Hrsg,), Akademie-Verlag, Berlin 1992

(2)  John Brockman (Hrsg.), Wie funktioniert die Welt? Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit stellen die brillantesten Theorien vor, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2014

(3)  Dieter Lüst, Quantenfische. Die Stringtheorie und die Suche nach der Weltformel, Verlag C.H.Beck, München 2011