9/ 11 – vor 50 Jahren

Die Völker schreiben die Geschichte, und die Geschichte gehört uns. Soziale Entwicklungen sind nicht zu bremsen, weder durch Verbrechen, noch durch Gewalt. Zwar bahnt sich der Verrat gerade seinen Weg. Aber ich habe Vertrauen in Chile und sein Schicksal. Früher oder später werden sich dem neuen, freien Menschen große Alleen auftun.

Salvador Allende

Am 11. September 1973 wurde Präsident Salvador Allende um 6:20 Uhr telefonisch in Kenntnis gesetzt, dass die Flotte in Valparaíso, der größten Hafenstadt Chiles, sich gegen ihn erhoben habe und seinen Rücktritt fordere. Allende versuchte sofort den Oberbefehlshaber der Streitkräfte General Augusto Pinochet zu erreichen, der sich aber nicht meldete. Allende begab sich mit seinem Kabinett und einigen Freunden und Familienangehörigen in den Präsidentenpalast Moneda. Unter seinen Begleitern waren zwei seiner Töchter, sein Arzt, die Leibwache des Präsidenten und seine langjährige Geliebte. Der Verteidigungsminister Orlando Letelier war nicht anwesend, da er bereits von den Putschisten festgenommen worden war.

Um 8:00 Uhr wurde eine Erklärung der Putschisten, die sich als Militärregierung bezeichneten, im Radio verlesen. Erst hier gab sich General Pinochet als Putschist zu erkennen. Kurz darauf erhielt Allende einen Anruf der Putschisten. Sie forderten seinen Rücktritt und boten ihm im Gegenzug an, ihn sofort mit seiner Familie außer Landes zu fliegen. Er lehnte dies entschlossen ab. Um 9:30 drohten die Putschisten mit der Bombardierung der Moneda. Allende forderte die Palastgarde und alle Unbewaffneten auf, das Gebäude zu verlassen. Er selbst blieb mit wenigen Getreuen zurück und bereitete sich auf den kommenden Kampf vor.

Um 11:55 Uhr begann die Luftwaffe mit zwei Flugzeugen eine Bombardierung des Präsidentenpalastes. Auch regierungsfreundliche Radiosender sowie einige Viertel der Hauptstadt, in denen mehrheitlich Aktivisten und Sympathisanten der Unidad Popular wohnten, sollen bombardiert worden sein. Augusto Olivares („El Perro“), der bekannte Journalist und Leiter des Fernsehsenders Canal 7, nahm sich im Erdgeschoss der Moneda mit einem Maschinengewehr das Leben. Damit wurde das erste Opfer des Putsches einer der engsten Freunde des Präsidenten, woraufhin dieser mitten im Chaos eine Schweigeminute für ihn anordnete.

Gegen 14:00 Uhr begann die Armee mit der Erstürmung des Palastes. Nach kurzem Gefecht ordnete Allende die Kapitulation an. Nur er selbst blieb im „Saal der Unabhängigkeit“ zurück und beging dort Suizid. Seine Selbsttötung wurde durch seine Ärzte Patricio Guijón und José Quiroga bezeugt, die den Suizid beobachteten.

Für die Chilenen geht am 11. September 1973 eine Zeit zu Ende, von denen die Journalistin Faride Zeran sagt:

Wir waren niemals so frei und glücklich wie in diesen drei Jahren.

 

Collage von Almuth Hickl

 

Der faschistoide Militärputsch in Chile gegen den sozialistischen Präsidenten Allende im Jahre 1973 war der Anfang einer „Gegenrevolution“, die erst ab Ende der 1970er-Jahre – mit der Wahl von Margaret Thatcher in GB und von Ronald Reagan in den USA – sich voll entfaltete. „The first experiment with neoliberal state formation […] occurred in Chile after Pinochet’s coup on the ,little September 11th‘ of 1973 […], promoted by domestic business elites […] (and) backed by US corporations, the CIA, and US Secretary of State Henry Kissinger”. (David Harvey, A Brief History of Neoliberalism, Oxford 2005, p.7).

Es sollte 16 Jahre dauern, bis der Staatsozialismus scheiterte, weil er nicht demokratisch war, es war nicht nur ein verfehltes Wirtschaftssystem. Der entscheidende Grund für den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus war, dass sie keine freien Gesellschaften waren. Sie versprachen Freiheit, aber sie ermöglichten sie nicht. Das waren autoritäre Staaten, die Meinungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und all die Freiheiten unterdrückten, die die Voraussetzungen bilden für die demokratische Organisation eines Staates.

Wie man in Prag und Chile gesehen hat, ist der Sozialismus eine Verwirklichung von Demokratie. Die Kritik am Kapitalismus ist die Teil der intellektuellen sozialistischen Tradition ist, sie enthält eine Verpflichtung zur Freiheit und zu einem Verständnis von Freiheit, das liberale Freiheitsvorstellungen radikalisiert. Urchristentum, Sozialismus und Liberalismus stellen keineswegs Gegensätze dar. Es ist nicht so, dass der Liberalismus und der Kapitalismus die Freiheit hochhalten, während der Sozialismus andere Werte wie Gleichheit und Solidarität vertritt. Beide sind Theorien der Freiheit. Und der Mangel, auf den man in liberalen kapitalistischen Gesellschaften stößt, ist die Tatsache, dass die Freiheiten, die der Liberalismus bringt, nur für einige gelten und nicht Freiheiten für alle Menschen der Welt sind.

Der Staatssozialismus ist tot, nicht aber der Sozialismus als transnationales Projekt. Ein sozialistisches Konzept, das die Welt im Blick hat und Vergesellschaftung nicht nur auf der politischen Ebene demokratisch umsetzt, hätte nicht diese selbstzentrierte, nach innen gewandte Sicht, mit der der Sozialismus der Vergangenheit die Demokratie betrachtete. Und über einen solchen Sozialismus, der über die Grenzen der Nationalstaaten hinweggeht und beides verwirklicht, Demokratie und wirtschaftliche Gerechtigkeit, sollten wir nachdenken.

Die Behauptung vom Ende der Geschichte war ein selbstgefälliges Narrativ, das oft vorgetragen wurde: Die Niederlage des Sozialismus bedeute den Sieg des Kapitalismus. Tatsächlich war es ein Irrtum zu denken, nur weil der Sozialismus besiegt wurde, hätte der liberale Kapitalismus keine Probleme. Der Westen muss endlich aufhören, sich als moralischer Sieger zu sehen, und einen kritischen Blick auf sich selbst werfen, z.B. auf den 9/11 in Chile.

 

 

 

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