Kritische Pirouetten

Man muß den Mut zu seinem privaten Irrsinn haben, seinen Tod zu be­sitzen und zu voll­strecken.

1

Dieser ›Roman‹ auf 48 Reclam-Seiten liest sich teils wie ein Supplement von Niet­zsches „Zarathustra“, gewendet ins Absurde, Ex­pres­sive, Expres­sionis­tische. Teils phi­lo­sophie­rende Kritik an den gesell­schaft­lichen Zuständen, Seins­grübelei mit metaphysischen Versuchs­bal­lons, teils Axiome und Ge­danken­spiele in Münch­hau­sen­scher Manier – und das alles ohne sinn­volle Hand­lung. Das ist kein Roman, wie der Leser ihn kennt. Warten auf Sinn? Gehen wir. Der Sinn ist tot, es lebe der A-Sinn, der B-Sinn, der Unsinn, An­sinnen, Be­sinnen, Ver­sinnl­ichung, Besin­nung ohne Ge­sinnung. Nur das was wir selbst erzeugen hat Sinn, ist Sinn durch uns, be­deutet sich selbst. Einstein spielt mit der kon­ventionellen Roman­form, er täuscht nur Hand­lung an, die aristo­teli­sche Einheit von Zeit und Hand­lung wird nicht ernst genommen. Die Kausalität ver­schwindet in der Absurdität des Seins oder im Subjekti­vismus­spiel des Erzählers.
„Die Dilettanten des Wunders oder die billige Erstarrnis. Ein Vorspiel“ – der Unter­titel, die Titel­alter­native will heißen: Der Sinn des Lebens ist eine Uto­pie, oder eine Illusion. Fach­leute unseres Lebens können wir nicht sein, denn wir können im Vor­wärts nicht auf das vor uns Liegende zurück­schauen: „Leben lässt sich nur rück­wärts verstehen, muss aber vorwärts gelebt werden.“ (Sören Kierkegaard)
Giorgio Bebuquin, ein Philosoph und Künstler, erstarrt in seiner Selbst­bespie­gelung. Der Tod ist mitten im Leben. Um den Tod geht es in der Haupt­sache. Denn über ihn wirft sich die Frage auf, ob und was und warum das Leben ist. Nebu­kadnezar Böhm, eine zweite Romanfigur, trägt einen ver­silber­ten Schädel, in dem sich die Welt spie­gelt. Er reflek­tiert die Reize des Ir­realen und bezirzt damit die Bar­dame und Zirkus­künst­lerin Fräu­lein Euphe­mia, eine gro­teske Parodie der Jung­frau Maria. Euphe­mia gebar ein Kind, dessen Vater sie nicht kennt und das schon nach der Geburt der Welt ent­sagte. In einem Café, einer Bar, im Bordell, im Zirkus, im Kloster spielen die Szenen. 19 Kapi­tel sind geschrie­ben in einer Mixtur von Erzäh­lung, Dialog, Monolog, Essay, Lyrik, Philo­sophie­dis­kurs, Parodie, Gro­tes­ke, Pam­phlet, Pre­digt, Gebet, sur­realer Imagi­nation – und es geht darin um die Ermor­dung der Ver­nunft, die Dehnungen und Meta­mor­phosen der Logik, ein neues Denken und befreites Fühlen. Es geht um Selbst­suche und Selbst­findung:
„Ich will nicht eine Kopie, keine Be­ein­flussung“, sagt Bebuquin, „ich will mich, aus meiner Seele muß etwas ganz Eige­nes kommen, und wenn es Löcher in eine pri­vate Luft sind. Ich kann nicht mit den Dingen etwas anfangen, ein Ding ver­pflich­tet zu allen Dingen. Es steht im Strom, und furcht­bar ist die Unend­lich­keit eines Punktes.“
Bebuquin will sich also über die Dingwelt stellen. Er will selber Welten­schöpfer sein. Dann wieder der Zweifel:
„Ich bin ein Spiegel … Aber hat ein Spiegel sich je gespiegelt?“
In aphoristischer, quasi­meta­phorischer Schreibweise reflek­tiert der Erzähler seine erkenntnis­theore­tischen Bedenken. „Wir können uns nicht neben unsere Haut setzen.“ Am Ende des Ersten Kapitels klin­gen steppen­wölfi­sche Mo­tive an: „Sin­gen wir das Lied von der gemein­samen Ein­sam­keit.“, sagt er und meint: das Wunder der Indi­vidua­lität gibt es ange­sichts der inneren Leere nicht.

2

Verwerfung der Logik. Sie steht neben dem Lebendigen, berührt nie das Leben. Auch Kunst nicht. Sie bleibt ein untauglicher Ver­such des Verstehens. Ihre Kategorien versagen. Alle Form greift ins Leere. Bebuquin kann nicht schlafen bei dem Gedanken, „daß er in der Kunst immer im Rausch der Symbole bleibe.“ Und er sieht: „… welch schlechter Roman­stoff bin ich, da ich nie etwas tun werde, mich in mir drehe.“ Bebuquin leidet an sich, an sich und der Welt. Böhm-Nebu­kadnezar will ihm helfen und erzählt ihm ein Gleichnis: „Die Geschichte von den Vorhängen“:

3

Versuch, sich selbst zu objektivieren. Böhm sieht sich als Gardine. Er will die Er­kennt­nis­sicht­behin­derung loswerden, sich selbst also. „Sei Vor­hang und zerreiße dich. Beschimpfe dich so lange, bis du etwas anderes bist. Sei Vorhang und Theater­stück zugleich.“ Er will raus aus sich, um mehr sehen zu können. Er will handeln, Bühne sein und Stück, Welt und Leben in einem. Das ist natürlich zu viel auf einmal. Und es ist unmög­lich, das zeigten wir schon.
Und wenn wir aufs Erkennen verzichten, kein Wunder mehr wollen? Was dann? Dann leben wir glücklicher. Denn wir ent­täuschen uns nicht mehr so dumm. Wenn wir sagen: „Die Welt ist das Mittel zum Denken.“ Was wird dann aus uns? Dann enttäuschen wir uns klug. Denn die Irrtümer des Schöpfers tun nicht so weh wie die des umsonst Hoffenden. Immer schon war die Erschaffung einer ‚eigenen‘ Welt (so gut es eben geht) ein Mittel, um die Welt (wie sie ist) zu ertragen. Es ist der für viele notwendige gesunde Eskapismus, insbe­sondere für jene, die für eine vita activa nur bedingt taugen, Dichter also, Künstler, viel­leicht auch Liebende. So gesehen ist Paranoia geradezu ein Beweis für die Gesundheit eines Menschen. In der Tat: Dass wir sterben müssen, um gelebt zu haben, das ist der reine Wahn­sinn, jedenfalls dann, wenn wir Sinn suchen in dem, was keinen Sinn hat: im Leben. Ergo: Immer schon … „Der Begriff will zu den Dingen, aber gerade das Umgekehrte will ich.“

4

„… warum fehlt mir sogar die Illusion der Vollkommenheit?“, fragt sich Bebuquin. Aus Konsequenz. Die Unvoll­kommenheit jeder Schöpfung folgt aus den unend­lichen Möglich­keiten, über das Erschaffene hinaus zu denken. An Voll­kommen­heit kann er noch nicht einmal glauben. Der Zweifel ist das alter ego des Schöpfers. Noch nicht einmal die Logik ist in sich vollkommen. Bebuquin hört Böhm zu, der redet als Gestor­bener, noch so ein alter ego. Der sagt: „Es gibt viele Logiken, mein Lieber, in uns, welche sich bekämpfen, und aus deren Kampf das Alogische hervorgeht.“ Tja. Gehört diese These zur Psychologie oder Philosophie? Egal. Siehe oben, Be­griffe. Böhm meint, es gebe sowieso nicht die Einheit aller Dinge. Alles hängt mit allem zusammen, das sind so Redens­arten, die mit der Religion des ganzheitlichen Menschen zu tun hat. Sie ist aber nicht wahr. Kants Gleichgewicht von Subjekt und Objekt, schön und gut. Aber dann die ganze Hegelsche Dialektik und die Wahnsinnshoffnung, die Geschich­te schreite von einer List zur anderen hinauf zur Vernunft und münde ein in die abso­lute Wahrheit, die sich dann konkretisiere – das ist nichts anderes als das War­ten auf Wunder. Das ist einfach nicht aus den Köpfen zu vertreiben.

5

Und die Kunst? Gibt es wenigstens dort so etwas wie ein in sich abge­schlos­senes ruhendes Ganzes? Können wir uns in der Kunst das Absolute er­schleichen? Das meint der jugendliche Maler Heinrich Lippenknabe, der die Kraft der Bilder lobt. Darin wandeln sich die Werte, von Bild zu Bild eine neue Moral, eine neue Logik. Die Form! Die Form ist die Rettung. Sie ist die Matrix aller Bilder. Sie ist Nichts und enthält doch alles. „Die Form weist auch über die Kausalität hinaus“, meint Bebuquin. Sie steht auch über Ort und Zeit. Wir Menschen sind Form­gebärer, aus dem Nichts er­schaffen wir alles. – Wirklich alles? Wird alles denn auch wirklich?

6

Euphemia, Karikatur der Jungfrau Maria, war schon vorhin in das Café eingetreten. „Eine blaue Hutfeder Euphemias besoff sich blitzend in der grünen Chartreuse. Bebuquin schaute mit seinem linken Bein in die Ecke der Bar … Der Schein der elektrischen Lampen fuhr ihr durch die Spitzen zum Knie, tanzte über die Kris­tall­flacons und die Sekt­kühler erregt rückwärts; das sonst anständige elektrische Licht!“ Multi­per­spek­tivität der Beschrei­bung verwei­gert statisch gedachte Fakti­zität, die expres­sionis­tische Szenerie wird ins Kubis­tische gesteigert. Die Auflösung des Logischen wird nur zu­sammen­gehalten durch die Form des Dialogs der Figuren. Euphe­mia charakte­risiert ihr ungeborenes Kind, dessen Vater­schaft in der Viel­zahl der Logiken verschwindet. Der Embryo „hat bereits der Welt entsagt, er wird geistig, ist ganz wunschlos“, sagt Euphemia. „Das Alogische wächst, das Alogische siegt, er wird nicht abgeleitet.“, ergänzt Bebuquin. Jung­frauen­geburt und Logik werden auf eine Stufe gestellt. Das gefällt Bebuquin nicht, er braucht Sinn, er beklagt den Verlust des Wunders: „Ihr habt alle Kräfte zerstört, die über das Mensch­liche hinaus­gehen.“ Und Heinrich Lippenknabe verlangt mehr Sinn­lichkeit: „Ich will, daß der Geist sichtbar werde.“ Aber Böhm korrigiert: „Häufig wieder­holter Blödsinn wird integrierendes Moment unseres Denkens; bei einer gewissen Stufe der Intelligenz interes­siert man sich für das Korrekte, Vernünftige gar nicht mehr … Ich versichere Sie, ich zum Beispiel lebe nur, weil ich mich mir sug­geriere, in Wirklichkeit bin ich tot. … Das Nichts ist die indifferente Voraus­setzung allen Seins.“ Den letzten Gedanken hatten wir schon. Was Böhm nun erklärt, ist die Apotheose der Phantasie als Übervernunft und Überwindung des Todes:
„Die Existenz in Formen ist ein Sofa, eine Schlummerrolle, eine ebenso unver­bindliche, wie langweilende Konvention. Wenn man frei und kühn zum Leben in vielen Formen ist, wenn man den Tod als ein Vorurteil, einen Mangel an Phantasie ansieht, dann geht man aufs Phantastische, das ist die Uner­müd­lich­keit in allen möglichen Formen. Ich gebe zu, die Vernunft macht alles bequem, sie konzentriert, aber sie zerstört zu viel, macht zu vieles lächerlich und gerade das Größte. Man muß das Unmögliche so lange anschauen, bis es eine leichte Angele­genheit ist. Das Wunder ist eine Frage des Trainings … töten wir die Vernunft; die Vernunft hat den gestaltlosen Tod pro­duziert …“

7

In einer Rausch-Nacht vollzieht sich auch der Abschied von der Symmetrie, von kosmischer Einheit und Ausge­wogenheit aller Kräfte – und zwar in einer Erzäh­lung Bebuquins, in der es um das Zerbrechen einer Liebschaft geht und um die Entdeckung der Romantik im Asymmetrischen. Während er erzählt, entwickelt sich eine orgiastische Szene in der Bar, auch die Sprache tanzt und verwirbelt in surrealistischen Bildern, Personi­fika­tionen, Syn­ästhesien, Katachresen, alogischen Sprüngen – „der Alkohol redete wie Gott aus dem Munde der Propheten.“ Die Morgensonne stört wie die Vernunft den Rausch der Seligen. „Bebuquin suchte weinend der Sonne in einen imaginären Bauch zu treten.“

8

Autofahrt durch die regengepeitschte Nacht … „Auf dem Dache des Coupés war ein Kintop angebracht.“ … „Gnädigste, Sie sitzen auf einer Hypothese.“ … „Die Dame zog den Blick Nummer fünf.“ … „Vorher mußte ich auf einer Hypothese sitzen, und jetzt wollen Sie mir immaterielle Juwelen verzapfen. Mein Herr, achten Sie den Intellekt eines Weibes!“ … „Jetzt bist Du in die Träume gezogen.“ … „… es tanzten um sie die ver­gangenen Jahre, die rauften.“ … Apokalyptisch nun: „Aufgeregt starrte das Volk auf der Straße nach dem großen Tier, das in der Luft torkelte und schrie: Es kommt der Lebendige. Der Vogel schrie in Graurot: Ich bin ein Beweis, es kann auch anders zu­gehen. Die Menschen kla­pperten vor Angst … Meistens bleibt man ja im dilettantischen Schrecken stecken. Und endet mit einem Schlag­anfall auf dem Plüschsofa. Davor ein weißer Mops aus Por­zellan. Er hat eine rote Schleife.“

9

Schrödingers Katze. „Böhm ist doch ein törichter Mensch, ich weiß nie, ob er lebt oder tot ist.“, sagt Euphemia.
„Ehmke Laurenz, Platoniker, gehe nur Nachts aus, weil es da keine Farben gibt. Ich suche die reine ruhende einsame Idee, diese Dame tatkräftig rhyth­mische Erregung. Ich bin ei­gen­tümlich, da ich von zwei Dingen ruiniert werde, einem höheren der Idee und einem niederen der Dame.“
„Ja, aber rui­nieren Sie doch die beiden, die sich bedingen, zum mindesten Ihre blöd­sinnige Ideo­logie vom Sein, von der Lange­weile, dem Tod. Das ist nur Müdig­keit, ein Defekt, Platonismus ist Anäs­thesie. Reißen Sie sich doch die Augen aus und die Ohren, dann haben Sie Ihren Platonismus zu Wege gebracht.“

10

Zirkus. Katachretische Metaphorik. „Miss Euphemia glitt beim dritten Male am Seil ab; sie beschloß aus formalen Gründen, sich das Genick zu brechen. Senkrecht schrieen die Leute …“ Aber es geht noch einmal gut. Müssen wir das deuten?

11

Immer noch Zirkus. Manchmal gewinnt das Absurde Sinn. Aber eigent­lich nur dann, wenn das Absurde über­setzt wird in die Sinn-Sprache. In einem hymni­schen Kampf-Dialog wird die Gottes­frage aufge­worfen.

Bebuquin: … Gott ist Wahnsinn.
Euphemia: … Gott ist die Erregung, die den Körper übertrifft.
Gott ist der Tod, den wir über uns hinaussterben.
Er ist die aufsprossende Vernichtung unserer selbst.
Er ist übermeßliche Größe.
Farbe, die wir noch nicht sahen.
O, wie soll ich ihn tanzen.
Ich müßte Sterne in die Hände raffen.
Sonnen mir unter die Sohlen legen.
Mein Mund sei ein grenzenlos Orchester.
Und das Blech und die Pauke vielfach besetzt.
Ich zerdrücke Trauben in den Fingern
Und weiß ihn.
Ich liege still und bin weiß wie Mörtel, der die Wände bedeckt,
und kenne Gott.
Er ist der glühend Lauernde in der Dunkelheit.
Bebuquin: Er ist der Wahnsinn.
Das Unmögliche.
Der tödlich Auflösende.
Die unfruchtbare Steppe,
in die wir kräftige Häuser zwingen.
Die Gefahr für den Willen.
Er ist mein Haß.

Gott wird doppelt dekonstruiert – direkt und indirekt. Die Beschönigung, Euphemia, enttarnt sich in der satirisch-parodierenden Sprache. Gott „ist der glühend Lauernde in der Dunkelheit“ – das ist der rasend Liebende, der Vergewaltiger, der gierige Tod zur neurotischen unio mystica verschmolzen.

12

Bebuquin betritt seine Wohnung, er badet und geht in sein „kathartisches Gemach“, gleichsam in sich selbst: „Vielleicht sündigt man nur, um die Reinheit der Reue zu erlangen, Erneuerung durch Gemeinheit … ich scheine außer­halb von Prinzi­pien stets böse zu werden.“
Wieder wird Gott behandelt, sogar direkt angesprochen – aber es stellt sich heraus, dass der Name oder Begriff Gott nur eine Variable für die Seins-Erklä­rungs-Ver­suche des meta­physischen Philos­ophie­rens darstellt. Bebuquin leidet unter der Tren­nung von Geist und Körper, will am liebsten einen anderen Körper, eine neue Form des Exis­tierens entwerfen. Aber da redet Böhm in ihm: „… das Ganze ist ein Erzie­hungsheim.“ Das sind die mittel­alter­lichen, immer noch üblichen Gedanken: Erkenne dich selbst, werde reifer, werde besser, ver­voll­kommne dich und deine Ziele usw. Davon will er weg. Er erkennt: „Um mora­lisch weiter zu machen, bedarf ich neuer Existenz­bedin­gungen, eher als des Brotes … es muß eine Änderung eintreten, die stärker ist, als meine Sünde und meine Reue; ich muß eine Erneuerung haben, ich bedarf einer Erd­periode.“ Dies ist eine der Stellen, wo der Autor anspielt auf die Not­wendig#-keit einer sozialen Revo­lution, ohne sich in ideo­logischen Dimen­sionen zu verlieren.
Es geht, wie das 13. Kapitel zeigt, auch um eine Revolution der Kunst. Es ist die Zeit, in der die soge­nannte abstrakte Malerei entsteht, Dadaismus als Gegen­bewegung und Ver­neinung beste­hender Kunst, Expres­sionismus und Kubismus. Der Erste Weltkrieg kündigt sich raunend schon an. Die großen Wunden blühen und platzen, die Rosskur Europas wird gewaltig, das aber ist aus dem Roman nicht konkret herauszulesen.
Am Ende des 12. Kapitels blüht die Sprache expressionistisch auf und bleibt doch immer noch an romantische Bilder gebunden in der Spätzeit des Realismus, in diesen Wechseljahren der Literatur, in der sich mehrere Epochen und Strömungen überschneiden, Symbolismus und Fin de siècle inbegriffen:
„Die Nacht färbte langsam empor, die weiße Stube opalisierte wie altes Gestein, lohende Schatten zogen über die Wände, eine kleine weiße Wolke stand vor dem Fenster, ein brennender Sonnen­strahl durchglühte sie. Bebuquins Körper verschwand in den Schatten, nur der Kopf schaute gleich inmitten der Wogen der Dämmer­farben die versinkende Wolke an. Sein Kopf, ein Gestirn, das er­kaltete.“
Der Körper verschwindet im Schatten, Bebuquin bewahrt einen kühlen Kopf in der Erleuchtung. Katharsis, ohne Furcht und Selbst­mitleid.

13

Die Kunst ist perspektivenabhängig, ihre Gegenstände sind wahr und falsch zugleich. Kunst muss viele denkbare Sicht­weisen umgreifen. Das Realitäts­problem ist nicht lösbar mit der Logik. „Bilder sind Taten der Augen.“

14

Bebuquin meint: „Die materielle Welt und unsere Vorstellungen decken sich nie. Darum ist die Tat not­wendig, dies Correktiv von Tatsachen und Dingen. Wenn man jedoch wie ich zu der Über­zeugung gelangte, daß wir weiter müssen, ist es denn nicht möglich, daß eine neue Art Mensch entsteht, die es verschmäht, in den gleichen Straßen weiter zu gehen … vielleicht decken sich die Dinge nie, damit das Schöpferische nicht einschlafe.“ Was für eine merkwürdige und doch grandiose, ins Weltliche umge­krempelte Theo­dizee! Zarathustra flüstert laut ins Ohr. Aber kein Übermensch wird herbeigesehnt. Da entsteht immerhin nichts Geringeres als der Absolut­heits­anspruch der Kunst. Anders gesagt: Politik muss zur Kunst werden.

15

Vom Tod ist nun die Rede. Vom Tod im Leben. Der gegenwärtige, erfahrbare Tod in den Mühen der Ebenen des Alltags. Er hat auch Gutes: „du bist der Erzeu­ger unserer Arbeit, du treibst uns zur Mühe, und vielleicht bist du der Vater des Lebens … Ich nenne dich, Tod, den Vater der Inten­sität, den Herrn der Form.“
Der Tod ist also ganz nah dran an der Kunst. Die Form, das Über­indi­viduelle, ist ja der Überlebensaspekt aller Kunst, auch der politischen.
Der zweite Tod ist der finale, der mich von schwerer Krankheit und Leid erlöst. Der ersehnte Tod also, der unsere Sehnsucht nach dem Transzendenten – die sich aller Logik und Erkenntnis entzieht. „O Nacht der Ver­wand­lung, wann kommst du, wo ich diesen Körper vergesse, ja, ihn abstreife, und die Dinge anderes bedeuten und anderes sind, denn je sonst; die Glieder werden selbständig, die Teile beginnen zu reden. Die Auflösung, sie ist die Verwandlung und sei mir ein Anfang.“ Isoldes Schluss­monolog klingt an. Eigentümlich verweben sich hier Er­lösungs­gedanken mit dem neuen Denken im Diesseits.

16

Immer noch, immer wieder Zirkus. Als sei so die Welt. Der schöne Schein! Wir betrügen uns mit unseren Bildern und Selbstbildern. „Das Publikum raste …, die Verzerrung für wahr haltend.“ Mir fällt Kafkas Galerie­besucher ein, einer muss doch das Halt! in die Manege rufen, aber das Publikum träumt die Illu­sionen herüber zu sich, es will ja betrogen werden, es ist einverstanden mit seinem Selbst­betrug, bewusstlos. Mit Kunst hat das nichts zu tun, sondern mit Ver­führung und Selbstverführung aus innerer Not. „Die Raserei wurde dermaßen schmerzlich, daß man begann zu töten.“ Hier ahnt der Erzähler die Entstehung des Faschismus aus den Neurosen sozial gedemütigter Menschen, deren Eska­pismus in Gewalt umschlägt. In diesem Zirkus der Kompensation verlangen in die Irre gelaufene Irre von Bebuquin: „Gib uns wieder zurück, laß uns heraus, nimm die Spiegel weg.“ Ja, du sollst dir kein Bildnis machen, es ist immer ein falsches.

17

„Man muß den Mut zu seinem privaten Irrsinn haben, seinen Tod zu besitzen und zu voll­strecken.“ Das heißt: Ich will mich erschaffen, auch meine Selbst­tötung ist eine Zeugung. „Ich hätte mich und die Welt ohne Laster nicht ertragen, nicht ohne den Willen gegen mich, nicht ohne partiellen Selbstmord.“
Der Tod ist das kaum getarnte Hauptthema dieses philosophierenden Romans. „Alles kommt auf den Tod an. … Auf dieser Erde einen Zweck zu haben, ist lächer­lich. Zwecke sind immer jenseitig, darüber hinaus … ich bin vom Getöse der Nich­tig­keiten umlärmt.“, sagt Bebuquin. Vanitas vanitatum! Memento mori! Nichts hat sich geändert seit vierhundert Jahren, nur die Religion ist jetzt so gut wie weg.

18

Bebuquin will Böhm loswerden, sein alter ego. Er will ihn, der ja eh schon tot ist, endlich begraben. Er gräbt ein Grab für sein alter ego und stellt sich in der Pose des Gekreu­zigten ans Grab. „Allmählich ging diese Stellung in ein geregeltes Freiturnen über.“ Die Macht der alten Bilder scheint ungebrochen, auch in der Verfremdung und Ironisierung. Jesus als Turner, dieses Bild greift Günter Grass in der „Blechtrommel“ wieder auf. Bebuquin als Christus – ein platonischer Witz.

19

„Bericht der letzten drei Nächte.“ Das Erzählprinzip erinnert an „Werther“. Aber Bebuquin erschießt sich nicht. Er stirbt anders. Er unterliegt dem Leben, der Realität. Aber die Kunst siegt. Das Wort reicht dem Wort die Hand. Das klappt. Der Sieg der Wörter ist ein Sieg über das Lineare, über Kausalität und Chronologie. Es gibt keine Wahrheit, nur subjektive Per­spektiven und die Macht der Form, die dem Inhalt erst Sinn gibt. Bebuquin kann nicht mehr schlafen und seine Seele erstickt an seinen Ängsten, er wird endgültig lebens­unfähig, der Zirkus ist aus, das Leben also, die Vorstellung. Die Selbsterschaffung gegen das Sein: gescheitert. „Nur einmal schaute er kühl drein und sagte
Aus.“

 

***

 

Bebuquin von Carl Einstein, „Die Aktion“ 1912, Reclam 1988

Weiterführend →

Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO zu den Arthurgeschichten auch den Essay von Holger Benkel, sowie seinen Essay zum Zyklus Kritische Körper.