Spuren

zu:

Thomas Brasch

Die nennen das Schrei. Gesammelte Gedichte

 

Am 20. Mai erscheinen im Suhrkamp Verlag die gesammelten Gedichte von Thomas Brasch. Ein Ereignis. Zumindest für mich.

Der folgende Text wird aus Thesen bestehen, denn abschließend ist zu Brasch nichts zu sagen. Brasch selbst ist nicht abgeschlossen.

Ein Gedicht aus dem Nachlass, das eine Replik auf ein anderes seiner bekanntesten Gedichte ist:

 

 

Der schöne 27. November

 

Heute hat die Post das neue Telefonfreizeichen eingeführt

Statt des mir seit meiner Kindheit bekannten Tüt tüt tüt,

höre ich seit heute Nacht 24.00 Uhr einen endlosen Ton.

 

Wer sagt noch, hier ändere sich nichts

 

Wenn einer nicht nachlässt, bildet sich ein kräftiger Nachlass. Vor allem wenn er so früh zu leben aufhört wie Brasch. Müßig hier die Metapher des Getriebenen zu bemühen. Müßig und langweilig. Es geht nicht um den Mythos einer Person, die Thomas Brasch hieß.

Die Anzahl der Gedichte des Bandes, die aus dem Nachlass zusammengesammelt wurden, übersteigt allerdings jene, die zu Lebzeiten Braschs veröffentlicht worden sind. Das sagt allerdings etwas über die Person in ihrer Zeit und es mag daran liegen, dass Braschs Hauptarbeitsfeld die Dramatik war und der Film. Und dass es aktuell meiner Meinung nach keine besseren Shakespeareübersetzungen neben denen Braschs. Sein Umgang mit dem Blancvers ist einzigartig.

Aber um Braschs Gedichte soll es hier gehen.

Anhand der Texte lässt sich ein Autor rekonstruieren, der vielleicht Brasch ist.

Anhand dieser Texte lässt sich einer Zeit rekonstruieren, die vielleicht die Zeit Braschs war.

Anhand dieser Texte lässt sich ein Deutschland rekonstruieren (das allerdings nie das Deutschland Braschs war. Sie haben aneinander vorbei existiert. Und wahrscheinlich existiert jedes Land neben und trotz der Texte von Braschscher Qualität. Nur einmal, aus Portugal wurde berichtet, dass ein Lied eine Revolution auslöste. Aber diese Aktion war abgesprochen, nicht spontan, so schön das Lied auch ist.

 

SIE SUCHT IM FREMDEN LAND

WAS SIE IM KOPF NICHT FAND

 

Piwi fliegt in die andere Hälfte der Welt

Über die Mauer über den Kopf von Karl Marx

vom neuen Deutschland in das noch ältere Deutschland

Piwi landet zwischen Leuchtreklamen

Das war ein Flug!

 

Brasch ist Rock n Roll. Die Generation die unmittelbar zu Kriegsende auf die Welt kam, und die sich auf nichts berufen konnte, schon gar nicht auf ihre Eltern, suchte ihr Heil in der Musik. Man kann es verstehen. Das weiß gefilterte Erbe afrikanischer Sklaven (Negermusik wie Adorno es nannte) war frei von faschistischem Schmutz. Die Nachkriegsjugend suchte Wahlverwandte jenseits verdreckter deutscher Folklore.

Gut, bei Brasch war es anders. Er selbst entstammte keiner Täterfamilie. Seine Eltern kamen als jüdische bzw. der Vater als jüdischer und kommunistischer Emigrant nach Deutschland zurück. In die DDR zumal, die ihnen Heimat werden sollte, die für Brasch aber nicht Heimat wurde, die sein Vater nicht, aber er um einige Jahre überstand.

Ein Gedicht erzählt auch von einer Großmutter, die den Krieg in Bayern als Frau eines Katholiken überlebte. (Als Nebenlektüre sei übrigens Marion Braschs Roman Ab jetzt ist Ruhe empfohlen. Hier findet sich die Version in der Erzählung der jüngeren Schwester.)

 

Ich bin der Sänger nicht das Lied.

Ich zieh den Vorhang auf, 

leer ist die Szene.

 

So beginnt das Gedicht Jim Morisson. Und gerade in der vom Westen abgekoppelten DDR erlangte die Musik der Doors fast mythische Bedeutung. Einer meiner Klassenkameraden kam immer zum Todestag des Sängers mit einem Trauerflor in die Schule.Eines Tages musste er auch sein FDJ-Hemd am gleichen Tag tragen. Seine Trauer wurde ihm als politische Provokation ausgelegt. Vielleicht trauerten ja beide, Brasch und Jochen (so hieß der Mitschüler) um beides. Um Morisson und ihre verratenen Ideale. Jedenfalls endet das Gedicht folgendermaßen:

 

geh mit fremden Schritten fremde Wege

wechsel Haut und Hemden

bin ein Bauer, bin ein Präsident

und vergesse, wer ich war.

Bin das Lied bin nicht der Sänger.

 

 

Dieses Buch zieht Lektüren an, neue und vergangene neu. Viel Brecht lese ich nebenher. Vor allem im Lesebuch für Städtebewohner.

Braschs Texte aber beschwören eine andere historische Situation, eine, die ich als Kind und Jugendlicher erlebte, und lässt mich aus dieser Situation das vergangene Jahrhundert rekonstruieren, zumindest den Teil, der sich in Europa abspielte, denn die Zeiten vergehen verschieden. Jede Region hat ihren Puls.

Mit der ersten Zeile, dem ersten Vers katapultiert dieses Buch mich zurück in die Zeit der Entstehung der Texte, obwohl ich damals, im Fall des Poesiealbums 1974 erst 8 Jahre alt war und mich mit ganz anderen Gedichten und Sprüchen beschäftigte.

 

Aber:

Gerade in den Texten aus dem Poesiealbum: nahezu klassische Balladen, sehe ich das, was subjektive Geschichtsschreibung sein könnte, oder wenigstens damit gemeint sein könnte.

Und Später als ich Brasch zu begreifen begann, ich muss 18 oder 19 gewesen sein, war er weg. Die DDR blutete kulturell aus. Viele Helden waren fort bevor sie meine Helden wurden, so auch Brasch. Nur Heiner Müller saß  verborgen hinter einer Wolke aus Zigarrenrauch und harrte.

Auf dem Vorsatz des Bandes ein gereimtes Gedicht. Brasch geht außerhalb der Zeit und trifft sie vielleicht gerade darum. In diesen Gedicht das Wort Fool wird nicht übersetzt. Dann die Balladen aus dem Poesiealbum. Bilder eines versehrten Volkes, dem nachdem der Krieg aus war, des Krieges Härte geblieben war. Momentaufnahmen der Mörder.

Und es gibt auch Theaterstücke in den Gedichten, was seine Richtigkeit hat und auf das gemeinsame Muttermal verweist: die gebundene Rede. Und auf Shakespeare.

Vielleicht waren Müller und Brasch die beiden gangbaren Wege, die aus Brecht herausführten. Müller stieg in den Mythos hinauf in einer Wolke aus Havannarauch, bestellte Single Malt; Brasch trank am Kiosk ein Bier und rauchte eine Filterlose. In gewisser Hinsicht ist Aufstieg also eine Form des Bleibens, Abstieg aber, ist gehen.

Faszinierend ist, dass man erst nach dreißig Jahren merkt, dass Brasch Brecht gewissermaßen durchbuchstabiert. Zumindest mir geht das so. Sogar im einzelnen Text, tut er das. Aber zentral schien ihm das Lesebuch für Städtebewohner zu sein.

Spuren verwischen

 

Die Zeilen verschwimmen die Zeichen

Ich habe sie geschrieben Ich kann

sie nicht mehr entziffern Erst

wenn ich tot liege unter der Erde

über die ich gegangen bin Kommt einer

und weiß was ich gemeint habe

Die Zeilen verschwimmen Die Zeichen

 

Brasch treibt Brecht zum Äußersten, in dem er ihn wiederbelebt, ihm dabei die arrogante Kühle nimmt, ihn mit Rockmusik anreichert. Weil Brasch z.B. die Frauen ernst nimmt, oder auf eine ganz andere Art ernst nimmt als Brecht. Für Brecht gab es nur die Hure und die Courage, beide verehrte er auf die ihr entsprechende Weise, aber als Typus. Aber sie sind Theaterfiguren, und Brecht ist sich ihrer Zuneigung sicher. Denn sowohl die Mutter als auch die Hure sind um ihrer Selbst Willen auf ihn angewiesen.

Brasch hingegen verzettelt sich, würde Brecht sagen, in romantischer Liebe, nicht nur zu den Frauen im übrigen, und wird von ihr aufgezehrt. Brasch führt die Typen zurück in Individualität, macht aus Klassenangehörigen wieder Menschen.

DAS FÜRCHTEN NICHT UND NIE DAS WÜNSCHEN

darf mir abhanden kommen, auch mein täglich sterben nicht

das seellos süchtig sein auf keinen fall

nur hirnlos reimen wie ein wicht muß beendet werden

 

da ist ein gott und setzt sich zwischen alle stühle

er sieht genauso aus wie ich mich fühle.

 

An Brecht geschult meinten wir Nietzsche, wenn wir Marx sagten, wir wußten es nicht besser, und Brecht wahrscheinlich auch nicht. Brasch am wenigsten, oder am meisten.

 

Kranich

 

Du hast den Kranich gesehn

hoch oben

mit weiten Schwingen,

frei,

unendlich frei.

 

Doch tröste dich:

auch er muß sterben,

vielleicht bald.

 

 

***

Sie nennen das Schrei, Gesammelte Gedichte von Thomas Brasch. Hrsg. v. Martina Hanf u. Kristin Schulz. Suhrkamp, Berlin. 1030 S., 49,95 €.

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.