Über Gedichte / Notizen eines Zugereisten

 

1. Die in den Schuljahren entstehende Aversion gegen Gedichte bleibt den meisten Menschen zeitlebens erhalten. Gedichte sind peinlich, überflüssig und lächerlich, je nachdem oder alles zusammen. Die Lyrophobie ist weitgehend unabhängig vom Erziehungs-  und Bildungshintergrund des Einzelnen und Gottfried Benns berühmte Dame aus besseren Kreisen zu zitieren unvermeidlich: Ich mache mir nichts aus Gedichten, aber schon gar nichts aus Lyrik. Die Gedichte lesen, sich für Lyrik interessieren, bilden eine winzige Minderheit.

2. Die Lektüre eines Gedichts erfordert immer eine positive Erwartungshaltung, einen ›Vertrauensvorschuss‹ des Lesers; anders funktioniert es nicht.

3. Mit etwas Übung kann man  ein Gedicht so lesen, dass man nur den Rhythmus, die Klangfarben: die Musik des Gedichts, wahrnimmt, aber nicht den Sinn. Dann ändert man den Rezeptionsmodus und nimmt jetzt Inhalt und Sinn der Verse auf. Dass das funktioniert, ist eine einfache Leseerfahrung, und sie lässt es als berechtigt und sinnvoll erscheinen zwischen dem ›Klangraum‹ und dem ›Bedeutungsraum‹ eines Gedichts zu unterscheiden. Manchmal  stößt man auf Gedichte, in deren  ›Klangraum‹ man sich unbehaglich fühlt aber im ›Bedeutungsraum‹ vieles findet, was interessant und überraschend ist oder macht die umgekehrte Erfahrung: starkes Erlebnis im ›Klangraum‹, Ratlosigkeit im ›Bedeutungsraum‹. Urteile über die literarische Qualität der Gedichte lassen sich aus solchen subjektiven Erfahrungen selten ableiten.

4. Die Wirkung des Rhythmus eines Gedichts kann so stark, so ›berauschend‹ sein, dass der Leser gar kein besonderes Verlangen hat, den ›Klangraum‹ des Gedichts zu verlassen. Der Sinn der Verse ist nicht von Interesse. Der Leser rezipiert das Gedicht als reine Musik. Was den Sinn oder Unsinn der Verse angeht, herrscht in solchen Fällen große Gutwilligkeit beim Rezipienten. Nietzsche hat den Sachverhalt so beschrieben: …wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus, sei es auch nur darin, dass er einen Gedanken als ›wahrer‹ empfindet, wenn er eine metrische  Form hat und mit einem göttlichen Hopsasa daherkommt. Dass das ein gefährlicher Sachverhalt ist, da er nicht nur für Gedichte sondern für jede Art von Texten gilt, ist kaum übersehbar.

5. Nun gibt es  viele Gedichte, in denen der Rhythmus sich häufig ändert und dies oft ohne erkennbares Muster. Brecht hat seine Art von reimlosen Gedichten mit unregelmäßigen Rhythmen ›gestisch‹ genannt. Der Rhythmus der Verse ist durch deren Gestik bestimmt. Zwischen Gestik und Sinn der Verse besteht eine wechselseitige Beziehung. Bei Brechts Gedichten versteht man die ›Gestik‹ der Verse, wenn man deren Sinn erkannt hat. Aber auch die Umkehrung gilt, vor allem bei den sogenannten ›schwierigen Gedichten‹: Man begreift den Sinn der Verse (bekommt zumindest eine Ahnung ihres Sinns), wenn man ihre ›Gestik‹ erkannt hat. Es gibt eine  in diesem Zusammenhang interessante Bemerkung von Daniel Falb: Ich ziele in meiner Textproduktion ununterbrochen auf genau das: auf Gestiken der Unmittelbarkeit jenseits irgendeiner Konkretion. Das Charakteristische der Falbschen ›Gesten‹ ist ihre ›Unmittelbarkeit‹. Dunkel und einsehbar zugleich.

6. Die Wirkung eines Gedichts wird durch eine adäquate Rezitation verstärkt. Manche Autoren sind brillante Rezitatoren ihrer Gedichte. Die ›Bühnenwirksamkeit‹ eines Gedichts ist oft erheblich größer als seine inhärente poetische Qualität (aber ob diese wertende Unterscheidung besonders sinnvoll ist, bleibt fraglich). Über eine Lesung von Benn notierte Rühmkorf: Er las seine Sachen herunter, als ob er sie selbst nicht verstanden hätte. Vielleicht wollte Benn etwas anderes zu verstehen geben als das, was Rühmkorf erwartet hat?

Der erfahrene Lyrikleser beherrscht die Technik der ›inneren Rezitation‹. Er rezitiert das  Gedicht stumm, für sich selbst, ist Rezitator und Publikum zugleich. Je nachdem ob er den ›Klang‹ – oder den ›Bedeutungsraum‹ des Gedichts aufgesucht hat, nimmt er das Gedicht auf unterschiedliche Weise wahr. Im Laufe der Jahre setzt sich diese Art Gedichte zu lesen so fest, dass man gar nicht mehr fähig ist, sie anders zu lesen.

7. Natürlich gibt es schwierige Gedichte. Schöne schwierige und weniger schöne. Manchmal hat man den Eindruck, dass ›Schwierigkeiten‹ im Gedicht durch handwerkliche Schwächen des Autors zustande gekommen sind, insbesondere wenn er sich ›harte‹ Randbedingungen auferlegt hat (z.B. Endreim oder gleichbleibendes Metrum). Das Resultat sind Defekte im Gedicht, die vom Leser meist nicht als solche identifiziert werden; vielmehr vermutet er ›dahinter‹ Tiefe und Geheimnis, auch Innovation, oder Rätsel, die ihm das Gedicht zu lösen aufgibt. Seine ›Gutwilligkeit‹ und seine schöpferische Phantasie korrigieren das Gedicht und vollenden es, gelegentlich sogar im zweifachen Sinne.

8. In seinem Beitrag zu dem von  Joachim Sartorius herausgegebenen Sammelband ›Minima Poetica‹  stellt Cees Nooteboom fest, dass das Schreiben von  Lyrik eine Spezialdisziplin ist,  bei der es merkwürdigerweise nur ein Gesetz gibt, das der Authentizität und inneren Logik. Zu der Frage nach Qualitätskriterien für Gedichte sind viele Vorschläge gemacht worden. Nootebooms hat  den Vorzug einer gewissen Strenge und Eindeutigkeit, die  das Gedicht schützt vor schlecht  definierten  Ansprüchen aus der ›Anything-Goes‹-Welt, vor Beliebigkeit.

Vorgelagert der Frage nach dem ›Wie‹ von Versen ist die Frage nach dem ›Warum‹. Warum drücken wir etwas aus, fragt Benn,  warum reimen wir …  und ruft sieben Verse weiter sich selber zu: Überwältigend unbeantwortbar!   Um dann aber doch in seinem Gedicht einen Vorschlag zu machen: Es ist ein Antrieb in der Hand, / ferngesteuert, eine Gehirnlage … Und das ist es wohl.

 

 

 

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.