Literatur und Psychologie – zwei Seiten einer Medaille?

 

Will man als LeserIn von Literatur auch wissen, wie die ‚Geschichten‘ die wir leben – also auch die, die wir  im Kopfkino miterleben – funktionieren? Wollen wir wie TheaterbesucherInnen nach dem Stück hinter die Bühne schauen und backstageartig die zu schaffenden Voraussetzungen für den unmittelbar erfahrenen Genuss, die Betroffenheit, die Anteilnahme am Werk auch „verstehen“, uns erklärbar machen (lassen)?

Neugier und Leidenschaft verbünden sich nicht nur bei der Kritikerin und Philologin Ina Hartwig, wenn sie in ihrem 2012 veröffentlichten Buch „Das Geheimfach ist offen – Über Literatur“ nachdenkt. In diesem Essayband einer hervorragenden Kritikerin und hellwachen Leserin wird Hintergründen und Abgründen von Texten nachgegangen, auf den Weg zu Neuentdeckungen aufgemacht und darüber hinaus das Staunen über die Grenzen von Sagbarem in der Literatur nicht unerwähnt gelassen.

Wir brauchen Literatur, um zu werden was wir sind, sagt Frau Hartwig in ihrem Vorwort, mit der öffentlich gestellten Frage nach sich selbst, in der sie sich biographisch gesehen nicht als Kritikerin bezeichnet, sondern als Lesende und Suchende. Ja, sogar als Süchtige, als lesender Zwangstäter bezeichnet sie sich in ihrer Selbstoffenbarung, die  – wortwörtlich erwähnt – das Ziehen des Resümees eines Lebensabschnittes darstellen soll, um sich zu erkennen zu geben. Erfrischend unkonventionell gibt sie zu, dass dies leichter gesagt als getan ist, da sich Kritiker habituell hinter den Namen von Schriftstellern und Dichtern versteckten, bedingt durch die Aufgabe, „über deren Werke freundliche oder böse Urteile zu fällen.“ Als Nutznießerin einer langjährigen literarischen Erfahrung bedient sie sich am heikelsten Punkt der Wer -Bin -Ich – Frage des Umweges mittels eines Prunkzitates von Marcel Proust: „In Wahrheit ist jeder Leser, wenn er liest,  der Leser seiner selbst“. Dieser Satz stammt aus dem letzten Band des siebenteiligen Romanes „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, und besagt, dass man lesend nach seinem Ego suche und nach nichts anderem.

Sigmund Freud, bekannt als Urvater der Tiefenpsychologie, war nicht nur mit der Literarisierung der Archäologe der menschlichen Seele beschäftigt, wofür er den Frankfurter Goethe-Preis erhielt, sondern auch leidenschaftlicher Interpret literarischer Werke wie Wilhelm Jensen, E.T.A.Hoffmann und Schnitzler. Michael Rohrwasser, Literaturkritiker, außerplanmäßiger Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin und Gastprofessoru.a. in Stanford/USA und Wien, brachte 2005 ein Buch mit dem Titel „Freuds Lektüren“ heraus in dem er Freuds Perspektiven auf die Texte herausarbeitete. In diesem umfangreichen Werk beruft sich Rohrwasser in seinem Vorwort auf Peter Brückner, der Freuds Privatlektüre 1975 teilweise wiedergelesen und dessen literarische Vorlieben und Abneigungen nachgezeichnet hat mit der zusammenfassenden Erkenntnis, dass diese Privatlektüre zu (s)einem „Diagnostikum“ wird – Brückner entdeckt in den Büchern Freuds, die dieser geliebt hatte, auch dessen Spiegelbild.

Auch für Wilhelm Salber (*1928) Lehrstuhlinhaber in Köln und Würzburg, der sich u.a. mit Kunst- und Filmpsychologie beschäftigte, erscheinen Seelisches und Literarisches miteinander verbunden, er sieht in Sprache, Literatur und Seelischem untrennbare Zusammenhänge,sieht sie als eine komplexe Einheit . In seinem 1972 erschienen  Buch der“ Literaturpsychologie- Gelebte und erlebte Literatur“ definiert er Literaturpsychologie nicht als ein Spezialgebiet der Psychologie, sondern als einen Zugang, Seelisches besser zu verstehn. Sie tut dies mit Salbers Methode, indem sie die herkömmliche Arbeitsweise „verdreht“. Nicht das Seelische wird mittels Literatur interpretiert, sondern es wird versucht, die Literatur von seelischen Entwicklungsprozessen her zu verstehen.

Unter Literaturpsychologie im Allgemeinen versteht man verschiedene theoretische und empirische Ansätze, die sich aus psychologischer Perspektive mit literarischen Texten, mit den Autoren selbst und mit der Literaturrezeption befasst. Die Literaturinterpretation ist der neuere Ansatz in der Literaturpsychologie, der den älteren Ansatz – literarische Texte primär aus der Biographie und der Persönlichkeit des Autors zu verstehen – weitgehend abgelöst hat.

Was die Literatur der Psychologie zu sagen hat, schreibt Irvin D.Yalom (*1931) in seinem ersten Kapitel des 2003  erschienen Yalom-Lesebuches in etlichen Beispielen nieder.  Hier kommt bei ihm zu Wort, was persönlicher literarischer Kunstgriff gewesen ist auf der Suche nach Erkenntnissen. Egal ob es sich um Lewis Carrolls Werk handelt, in der die Benutzung des anderen zur Bestätigung der eigenen Existenz herhalten muss, oder um die seltsamen Ideen über Liebe und Freiheit wie in Camus Roman „Der Fall“, Tolstois subtile Verflechtungen der Beziehung zwischen Führen und Geführtwerden mit der paradoxen Erkenntnis, dass unter der Ägide der Liebe wahrscheinlich mehr getötet worden ist als unter der des Hasses, oder Passagen aus Sartres „Die Fliegen“, um die Möglichkeit zu illustrieren wie sich ein Gefühl für den Sinn des Lebens entwickeln lässt – in allen Beispielen wird der Autor fündig, einen eingekleideten Ausdruck  für die innersten menschlichen Antriebskräfte anzubieten.

Wie zum Ausgleich, und auch um die Wechselwirkungen darzustellen zwischen Literatur und Psychologie und vice versa, erscheint das darangehängte zweite Kapitel, das die Psychologie als Ideenliferantin der Literatur behandelt. Auch hier erfolgt eine Umkehrung des Vorganges. Statt uns Einsichten der Literatur zunutze zu machen, um die Psychologie zu erhellen, wird psychodynamisches Fachwissen zur Erhellung von Leben und Werk eines Schriftstellers herangezogen. „Was Hemingway von Freud  hätte lernen können“, der Titel des Buches findet seinen Schwerpunkt in diesem Kapitel. Yalom schlägt in diesem Fall den klassischen Weg der Tiefenpsychologie(Psychoanalyse) ein, und stellt in seinem Aufsatz die These auf, dass Hemingways innere Koinflikte seine künstlerischen Visionen beinflussten.

Anders als in Freuds Psychoanalyse als Entzifferungssystem innerer seelischer Vorgänge eines Autors beim Texteschreiben und dessen Auswirkungen auf das Geschriebene, betrachtet Salber die äußere Geschichte die uns ein Text mitteilt als nicht abkoppelbar vom seelischen Handlungssystem. Konstruktionshilfen literarischer Gestaltung wie Transformation, Umstrukturierbarkeit, Gestaltlogik, Symbolisierung, Analogiebildung, Sinnfindung, Formzwang u.v.ä.m. sind demnach auch Voraussetzungen seelischer Strukturierungsprozesse. Das Seelische will wie Literatur werden und ist zugleich immer mehr als ein literarisches Werk sein kann. Die literarischen Produktionen lt. dieser Psychologie erscheinen als Versuche sich der Möglichkeiten seelischer Konstruktionen zu bemächtigen und ihre Gleichnisse zu „Wirklichkeiten“ zu machen.

Roland Barthes, einer der großen französischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts „Am Nullpunkt der Literatur“ meint, dass der Schriftsteller der einzige ist, der seiner Definition nach seine eigene Struktur und die der Welt in die Struktur des Wortes aufgehen lässt. Damit setzt auch er Signale für eine insgesamt revolutionäre Situation, für ein Musterbesispiel einer Schreibweise, die nicht nur etwas mitteilen oder ausdrücken will,sondern darüber hinaus ein Außerhalb des MItgeteilten anzeigen möchte, das zugleich das geschichtliche Geschehen ist und der Anteil den man daran nimmt. Salbers formuliertes unlösbares Paradox, dass, was Seelisches ist, nur in geschichtlichen Verwandlungen zustande kommt, die zugleich mehr und weniger sind als möglich war, ist mit Barthes Unterfütterung vielleicht „verständlicher“, so weit Unlösbares oder Paradoxien überhaupt linear verstandesmäßig anzugehen sind. An dieser Stelle erscheint mir die Definition der Literaturpsychologie, Literatur als Methapher und Vorbild für das Ganze seelischer Konstruktionen anzusehen die auf grundlegende Paradoxien verweist wie auf Begrenzungen psychischer Erzählungen, angemessen. Das Komplexe – die Komplexität literarischer Kunstwerke – das aus heterogenen Geschichten, Handlungen, Personen, Persönlichkeitsanteilen u. a. gespeist wird, findet seinen ansprechenden, weil adäquaten Ausdruck kollektiver Erfahrungen.

Wenn Claudio Magris, der große italienische Schriftsteller, Gelehrte und Reisende in seinem Werk „Das Alphabet der Welt“ von der Literatur erzählt, die seinen Werdegang begleitete und von der sich viel mit seinem Leben vermischte, wie er es als bekannt scharfer Beobachter mit analytischem Geist formulierte, ist es wie ein Bekenntnis, dass Literatur an sich mit den Grundzügen menschlichen Handelns zusammenhängt. Übersehen darf natürlich nicht werden, dass sie unter den Gesichtspunkten wie Kontext, Bedeutung, Verwandlung, Ganzheit, Übergängen,u.a.m. betrachtet werden muss, in einer Vielfalt, in der sich dennoch immer wieder vereinheitlichte Züge abheben, die universal und von daher so ansprechend erscheinen.

Du hast nicht genug Achtung vor der Schrift und veränderst die Geschichte, sagt der Geistliche zu Josef K. in Kafkas Roman „Der Prozess“, jener berühmten Parabel vom Türhüter und vom Mann vom Lande, nachdem dieser die Parabel auf die eigene Lage bezogen hat in jener verpönten ursprünglichen Lesart, die im Gelesenen das eigene Erleben wiedererkennt. Dass Literatur mehr Fäden auslegt, als sich ihre Interpreten träumen lassen, wird gerade durch die Deutungsabstinenz des Autors Kafka ersichtlich, sodass das Vertrauen in das eigene Erkenntnisvermögen durch derartige Literatur wieder wohltuend erschüttert werden kann.

 
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Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.