Über Non-Fiction

Interessant – dieses wichtige Wort

In den letzten drei Tagen 1400 S. Gegenwartsprosa gelesen, verteilt auf fünf Bücher, berichtet Daniel Falb im ersten Kapitel von Helm aus Phlox1), leichte Übelkeit, gemischt mit depressiven Zügen. Innere Schwere. (…) Zombiert, unfähig zur Abwehr. Und dann in summary und klar und deutlich: Ich glaube wirklich, dass jede Nonfiction-Lektüre besser ist als das. – Spricht hier der Phänotyp dieser Stunde?

Natürlich kann man einen Sachtext, vollgestopft mit fremdartigem Vokabular, als »poèsie pure« lesen, ohne den Inhalt zu begreifen, rauschhaft – Lesen, bis man keinen Satz mehr versteht, das erst ist Lesen, hat Canetti gesagt – aber in der Regel ist es das Thema des Sachtextes, das den Leser anzieht, seine Neugier weckt, ihm die Energie, auch Geduld, gibt, die er brauchen wird, um den meist schwierigen Text, Sachbuch oder Aufsatz, verstehen und verarbeiten zu können. Freiwillig wird er sich auf das Leseabenteuer, die Lesearbeit,  nur dann einlassen, wenn ihn der Gegenstand des Sachtextes wirklich »interessiert«.

I n t e r e s s a n t – dieses wichtige Wort, wie Gottfried Benn sagt, das im 18.Jahrhundert aus dem Französischen kommend in die deutsche Sprache gelangte, zur Zeit der Romantik, mit dem zuerst Friedrich Schlegel sein Verständnis des modernen Zeitalters auf den Begriff brachte2). Interessant – das führt nicht in diese undurchsichtige quälende familiäre „Tiefe“, sagt Benn, übersetzen sie es wörtlich: inter-esse: zwischen dem Sein, nämlich zwischen seinem Dunkel und seinem Schimmer3). Was »interessant« ist, für ihn »interessant« ist, entscheidet der Leser. Quantenphysik, Linguistik, komplexe Systeme, die Zukunft des web-Zeitalters. Ein weites Feld. Das Erahnte, das Unbekannte zwischen seinem Dunkel und seinem Schimmer.

Das Quark und der Jaguar

Die Autoren von manchen Sachbüchern sind  bedeutende Wissenschaftler. Nobelpreisträger mit ein, zwei Sachbuchtiteln in ihrer Publikationsliste sind durchaus keine Seltenheit. Die Bücher vermitteln die Grundlagen, offene Fragen  und interdisziplinäre Grenzübergänge von wichtigen Teilgebieten der Natur- und Geisteswissenschaften. Jacques Monods Zufall und Notwendigkeit und Murray Gell-Manns Das Quark und der Jaguar sind Beispiele.

Ein Sachbuch lebt vom Inhalt. Was die Darstellung anbelangt, ist Albert Einsteins goldene Regel eine gute Vorgabe: So einfach wie möglich, aber nicht einfacher. Keine syntaktischen oder semantischen Extravaganzen. Das entscheidende Element der erfolgreichen Vermittlung eines komplizierten Sachverhalts praktischer oder theoretischer Natur an einen interessierten Laien ist die optimale Reihenfolge, in der die Fakten und Überlegungen zum Thema dem Leser mitgeteilt werden. Gute Sachbücher lesen sich wie Kriminalromane: sie sind spannend. Ob Spannung beim Lesen, d.h. Neugierde auf den nächsten Satz oder Absatz entsteht, hängt ebenfalls wesentlich von der Reihenfolge der Vermittlungsschritte ab, die der Autor für die Darstellung seines Materials gewählt hat.

Auch Sachbücher erzählen. Ihre Erzählungen sind oft ziemlich kühle Gebilde, »sie gehen nicht zu Herzen«, die linke Hirnhälfte ist ihr Empfangsort. Sie befassen sich nicht mit Lebens-problemen des Lesers und den seiner Art- und Zeitgenossen, daher ihre Heiterkeit. Ihre Prota-gonisten sind Elementarteilchen, Raum & Zeit, Tiefseetiere. Von »Ratgebern« ist hier nicht die Rede.

Die intellektuelle Erregung beim Lesen dieser Bücher kommt  nicht durch sprachliche Mittel  zustande, sondern allein durch den Inhalt der Bücher, durch das, was der Text an Theorie und Tatsachen vermittelt. Das Interessante ist die wichtigste Eigenschaft ästhetischer Gegen-stände. Diese Feststellung, auch Forderung, aus der Gedankenwelt von Denis Diderot trifft hier zu.

Die Neigung zu abstrakten Räumen

Mit etwas Mut zu Rigorosität kann man drei Arten von Bücherlesern unterscheiden:  Leser, die durch Sprache fasziniert werden, den Rhythmus, die Melodielinien eines Textes, syn-taktische Überraschungen, neue Metaphern. Der unbeirrbare, leidenschaftliche Leser von Gedichtbüchern findet sich in dieser Gruppe. Am Prosatext interessiert ihn, wie er gemacht ist, die Form, nicht die Handlung und ebenso wenig die Psychologie. Ganz anders die zweite Art: Dieser Leser liest handlungsreiche Romane, liebt narrative Details, Beobachtungen (jemand »wendet seinen Blick«), Psychologie, er will sich wiederfinden in den Protagonisten, er verlangt nach Stimmungen, daß »ein Briefkasten traurig aussieht«, macht ihn nachdenklich.

Und die dritte Art? Er hat viel gelesen, Romane, Novellen, hat an zahllosen Familien-schicksalen teilgenommen, an allen denkbaren Ausformungen von Liebestragödien, ist dabei  durch die halbe Welt gekommen, hat viel Personal kennengelernt, Krieger und »Hirnhunde«.

Doch im Laufe der Zeit ist er müde geworden an Geschichten, Charakteren, Psychologie. Und im gleichen Maße wuchs seine Neigung zu abstrakten Räumen, Mathematik, Blicken durch Radioteleskope und Eigenschen Hyperzyklen.

 

 

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1) Ann Cotten, Daniel Falb, Hendrick Jackson, Steffen Popp, Monika Rink, Helm aus Phlox / Zur Theorie des schlechtesten Werkzeugs, Merve Verlag, Berlin 2011

2) Rüdiger Safranski, Romantik / Eine deutsche Affäre, Carl Hanser Verlag, München 2007

3) Gottfried Benn, Doppelleben, Limes Verlag, Wiesbaden 1950

Der Lyriker, Essayist und Aphoristiker Maximilian Zander hat seit Mitte der 1990er-Jahre veröffentlicht. Seine lakonischen (immer wieder auch metalyrischen) Gedichte, die u. a. in Literaturzeitschriften wie ndl, Muschelhaufen, Faltblatt und Anthologien wie Axel Kutsch, Versnetze (2005) oder Theo Breuer, NordWestSüdOst (2003) sowie in bislang vier Gedichtbänden erschienen, setzen sich auf ironisch-distanzierte Art und Weise mit Alltag und Gesellschaft aus der Sicht eines welterfahrenen Menschen auseinander.

Weiterführend →

Lesen Sie auch seinen Essay über Lyrik. – Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.