Alles fließt

Kanaldeckel

Arno Kappe • Kanaldeckel

Warten auf Enzo

Ich war pünktlich an der Ablagestelle, ein tiefer, gefliester Hauseingang, auf der einen Seite Altpapier, auf der anderen in Folie eingeknotete Zeitungsstapel, wie Strohballen gestapelt. Enzo fehlte. Das Licht, das ich angeschaltet hatte, ging nach einer Minute wieder aus. Ich kämpfte gegen die Müdigkeit.

Um diese Uhrzeit auf jemanden zu warten geht eigentlich nicht. Vielleicht, wenn man bei der Polizei arbeitet oder jemanden umbringen will. Es war schweinekalt, und ich war ein bisschen aufgeregt, weil ich Enzo ewig nicht gesehen hatte und früher mal in ihn verliebt war.

Nachdem ich mir zehn Minuten die Beine vertreten und mich dabei für alles mögliche geschämt hatte, einschließlich der Unfähigkeit, einen besser bezahlten Job zu finden, bog aus der Sallstraße ein Fahrradfahrer mit leerem Anhänger ein, der bei jeder Unebenheit in der Halterung rumpelte. Die Anwohner müssen dieses Geräusch über Jahre in den gegen Morgen dünner werdenden Schlaf eingebaut haben, dachte ich, während mein Kollege sich lichtlos näherte, die stillen Rumpelträume warteten wahrscheinlich schon auf eine Vertonung, und umgekehrt, wenn Enzo mal nicht kam, würden sie vermutlich aufwachen von der ungewohnten Stille.

Enzos Rad, ein verbrauchtes Mountainbike ohne Ständer, wie ein Pferd sah es aus mit den ausgeleierten Packtaschen, er lehnte es routinemäßig an die Häuserwand. Soviel ich unter der Vermummung erkennen konnte, hatte er sich kaum verändert. Es war stark anzunehmen, dass die Haare noch so schwarz waren wie die Augen, sein Gesicht war nicht mehr so glatt wie früher, aber das tat seiner Schönheit keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Und was kann denn auch an uns Zeitungszustellern glatt sein, wenn wir stets dem rauen Wetter ausgesetzt sind. Enzo war immer noch kräftig und sportlich, wobei er sich eine gewisse Gemütlichkeit bewahrt hatte, was sich darin zeigte, dass er für meine Einarbeitung anscheinend gar nicht viel Zeit eingeplant hatte – und das bei Schnee- und Eisglätte. Ob er immer noch an Marathonläufen teilnahm und die Arbeit bloß zum Aufwärmen nutzte? Mir war klar, dass wir uns die Hand geben mussten, und er dachte dasselbe, unsere Hände trafen sich – nur dass er seinen Handschuh auszog und ich ihn anbehielt und mich gleichzeitig ärgerte, eine solche Dumpfbacke zu sein. Wir machten uns an die Arbeit, die Zeit war ja begrenzt: Bis 6 mussten die Dinger bei ihren Adressaten sein.

Halt den Lenker fest!

Enzo zeigte mir die unter einem Zeitungshaufen versteckte Packliste, trug ein paar Änderungen ins Tourenbuch ein, lud in Sekundenschnelle die abgezählten Zeitungen in Anhänger und Packtaschen. Er schaute skeptisch auf mein Kinder-Car. »Meinst Du, das reicht?« »Ich werd mir noch Packtaschen holen.« »Der Ständer bricht dir jedenfalls noch ein paar Tagen ab. Lehns lieber an.« »Wenn das mit den vollen Taschen geht …« »Reine Übungssache. Mittwochs ist blöd, wenn die ganzen gelben Säcke hier stehen … Morgen hast du auch noch die fette Zeit

Ich hatte Mühe, hinter Enzo herzukommen, der zum Anfang der Tour am Stephansplatz sauste; die Straßen waren um diese Uhrzeit nicht gestreut, die Bürgersteige noch nicht mal geräumt, ich geriet ins Schlingern, wie sollte das erst mit vollgeladenem Anhänger werden? »Halte den Lenker FEST!«, rief Enzo. »Und bleib immer in Bewegung: Das hilft einerseits gegen Erfrieren, andererseits gegen Ausrutschen. Denn eigentlich rutscht man nur aus, wenn man zögert, anhält, abrupt sein Gewicht verlagert oder bremst.«

Natürlich brauchte Enzo das Tourenbuch gar nicht, hatte die Änderungen gespeichert und versuchte mir nun das Wesentliche zu erklären. »Hier schmeiß ich die nur auf die Treppe« / »Bei diesem Kunden darf die Zeitung auf keinen Fall auf dem Fußabtreter liegen …« / »Die wollen uns keinen Schlüssel geben, also …«, er ließ die Zeitung auf den Schnee fallen, der sich nach allen Seiten verstäubte, »Müssen Frühaufsteher sein« / »Dieses Haus nervt; neun Zeitungen, und jeder will seine woanders haben.« Er wirbelte mit den Armen in der Luft herum, und im Nu waren alle Zeitungen verteilt: Briefkasten, Zeitungsrolle, Türschlitz, Schuhregal, vor die Tür, auf die untere Treppe, auf die obere Treppe, Treppengeländer zum 1. Stock, hinter die Türklinke.

»Eigentlich hab ich Schwein gehabt mit der Tour: Ich habe relativ viele Zeitungen auf engem Raum und die Leser gut erzogen: Nur Questenhorst 20 muss ich bis ins 1. OG hochlaufen und die Zeitung unter der Tür durchschieben. Aber es reicht in der Regel, wenn du um halb 5 anfängst. Du musst natürlich immer in Bewegung bleiben, wie gesagt, das ist das Geheimnis, hilft nicht nur gegen Ausrutschen, sondern auch gegen die Müdigkeit und die Angst vor der Dunkelheit, lach nicht, ich hatte mal so ’ne absurde Paranoia, als ich Schlafstörungen hatte.«

Marathon

Nach zehn weiteren Häusern hatten wir die wichtigsten persönlichen Daten ausgetauscht, mir schien, dass es Enzo ebenso wichtig war wie mir, zu erfahren, wie es dem anderen ergangen war; andererseits erwarteten wir keine großen Sprünge, denn: warum wären wir sonst auf diesen Job angewiesen.

Enzo hatte tatsächlich seine Marathon-Läufe aufgegeben, dafür seine Stunden aufgestockt, trug noch bis weit in den Nachmittag Post aus, brauchte das Geld, seine ganze Kraft floss hier rein, Körperkraft, Lebensenergie – das war jetzt sein Marathon, und ich merkte, dass ich ihn immer noch bewundern konnte, aber nun für sein Aufgeben, was musste das für ihn bedeutet haben. – Was er wohl von meinem aktuellen Lebenswandel hielt? Ich war zu keinem normalen Bürojob in der Lage, weil ich immer noch leidenschaftlich der Kunst nachging, und dafür braucht ich einen freien Kopf, allerdings ließ mir die Familie nicht viel Raum dafür.

Wir wurden unterbrochen, jemand kam eilig in Strümpfen die Holztreppe runtergelaufen, er hatte anscheinend nur auf den Zeitungsboten gelauert, »Halt, warten Sie…«, ein kleiner Mann mit russischen Akzent, er war im Schlafanzug, der hastig übergeworfene Morgenmantel schleifte über den Boden, er schoss zur Briefkastenanlage und schnappte sich seine überdicke Maz, die Enzo soeben in die Briefkastenöffnung geklemmt hatte, »Bitte stecken sie die Zeitung doch immer ganz rein. Und… und…« er riss voller Wut die Werbebeilage zwischen den Seiten heraus und pfefferte sie in einen auf der Fensterbank stehenden Karton. »Die Werbung will ich nicht. Tun Sie sie doch bitte hier hinein. Dann passt die Zeitung auch besser in den Kasten.« »Aber sicher, Herr Michalski, aber sicher.« Als wir wieder auf der Straße standen, meinte Enzo: »Immer freundlich bleiben. Seine Wünsche sind natürlich ganz unrealistisch. Komm bloß nicht auf die Idee, auf so etwas einzugehen. Dann bist du verloren.«

Revolution

Beim 14. Haus kamen wir zu den aktuellen politischen Themen, Fukushima, die fehlenden Renten, … »Wir werden hier doch nur verarscht.« Der Spanier wies auf die Zeitungen und begann eine kleine Rede zu halten, der ich gar nicht ganz folgen konnte, weil ich mir die Besonderheiten der Tour zu merken versuchte. Das bisschen Geld, das er übrighatte, legte er in Gold an, und wenn es nach ihm ginge, hätten wir ein Königkreich und keine Demokratie, das hatte wenigstens noch Stil, und der neugegründete Betriebsrat hatte seiner Ansicht nach das letzte Bisschen des guten Verhältnisses zur Chefin zerstört, es gab weder Weihnachtsgeld noch Betriebsausflüge, und bald würde sowieso die ganze Firma aufgelöst, weil Zeitungen zunehmend online gelesen werden und diejenigen, die das nicht wollten, ausstarben … Enzo hatte Format, aber wo war sein Platz in der Gesellschaft? Letzten Endes versuchte er bloß zu überleben. »Mal mit Freunden abends weggehen, das rächt sich am nächsten Tag, dieses 6 Tage die Woche um 4 Uhr Aufstehen … das Alter macht sich doch irgendwie bemerkbar, ich bin jetzt 51 …« Eigentlich hieß das ja wohl, dass er einsam war.

Wir bogen in eine Seitenstraße ein, und hier sah ich, woher das orange, rotierende Licht kam, welches ich wahrnahm, seit wir die Geibelstraße überquert hatten. Ein Kanalarbeitereinsatz Rehberg, Ecke Mendelssohn. Und je näher wir kamen, umso lauter wurde es, bald konnten wir uns nicht mehr unterhalten. Die Lautstärke des pumpenden Lastwagens, der durch das in derselben Farbe flackernde Licht die Farbe verloren hatte, der einschneidende Ton, den schwere Metallstangen, die auf Stein fallen, verursachen, die kräftigen Männer, die teils in latexfarbener Schutzkleidung, teils in Leuchtwesten mit viel zu dünnen Jacken herumstanden, versetzten mich in Alarmbereitschaft. In kürzester Zeit war ich so angespannt, als ob hier gleich etwas Schlimmes passieren würde.

Enzo arbeitete schweigend weiter, während ich zu erkennen versuchte, was die Kanalarbeiter taten. Ein dicker Schlauch spulte sich mit irrer Geschwindigkeit aus dem Wagen in die runde Öffnung, die starken Männer standen herum und rauchten, routiniert betätigte der Vorarbeiter einige Hebel, der Schlauch hielt an, der Lärm hörte aber nicht auf, sondern änderte nur den Grundton, und jetzt wurde der Schlauch wieder eingerollt, einer der Kanalarbeiter stieg mit Stirnlampe und Messgerät in das Loch. »Du, Enzo, warte mal, ich will wissen, was die da machen.« »Bist du verrückt, wir müssen uns beeilen, sonst bleibt keine Zeit mehr zum Frühstück.« »Ich komme gleich nach. Geh schon mal vor. Machst du jetzt Stüve? Da hole ich dich wieder ein.« »Hol dir keine Erfrierungen, das geht schnell, vor allem an den Füßen.« Ich ging zu dem Mann, der das Fahrzeug bediente und fragte ihn, ob da unten vielleicht was eingefroren sei bei dem Dauerfrost und wenn zufällig zwei Stunden niemand die Klospülung betätigt hatte. »Nee nee, keine Bange, die Bakterien halten das alles schön warm. – Der Job hier oben ist viel blöder. Bis auf den Geruch natürlich. Man steht rum und langweilt sich oder wird von Leuten angesprochen … Wenn’s mal nur so nette Frauen wären wie Sie …« Ich blickte in sein Gesicht. Es erinnerte mich an einen berühmten Piraten, der mit seinem furchterregenden Äußeren seine Opfer einschüchterte. Er hatte den feuerroten Bart zu einem langen Zopf geflochten und versuchte, sich das Frieren nicht anmerken zu lassen. Aber die Zähne klapperten, und er fluchte und spuckte in den Schnee. »Ehrlich gesagt ist unsere Arbeit aussichtslos, Verstopfung der Rohre ist ein Problem der Vergangenheit. Obwohl es natürlich nach wie vor eine Sauerei ist, dass die Leute das Klo als Mülleimer benutzen. (Gegen die beim Zähneputzen verlorenen Goldzähne, Ringe, Ketten … habe ich ja nichts einzuwenden. Das ist wenigstens eine kleine Aufbesserung des lausigen Gehalts.) Der Punkt ist: Die Kanäle werden von Robotern überwacht, die völlig falsche Informationen liefern, weil der Virenschutz dieser Geräte machtlos gegen die Bakterien ist. Das intelligente Abwasser programmiert die Maschinen um und sendet an Stelle übelster Anhäufungen schöne Bilder von sauberen Röhren, um mehr Verunreinigungen zum Essen zu haben. Das marode Kanalsystem ist nicht mehr zu retten. Eine Zeitbombe tickt da unten. Abwasser sickert in Trinkwasser … Wo sauberes Wasser herkommt, das ist bald unser Thema … Die Verantwortlichen verarschen uns doch nur!« Dieser Satz klang derart nach Enzo, dass ich dachte: Warum schließen die beiden sich eigentlich nicht kurz und machen eine Revolution.

Die höher entwickelte Lebensform

verschneite StraßeLeider musste ich weiter, sonst hätte ich ihn noch mehr gefragt, die Kälte hatte sich bereits an den Zehen festgebissen, aber seltsam war es jetzt, über die Straße zu laufen und unter den Füßen diese zweite, aus den Fugen geratene Welt zu wissen. Hatte der Kanalarbeiter recht? Ich holte Enzo am Ende der Stüve ein. »Du, das ist ganz schön erschreckend, wir werden bald kein Trinkwasser mehr haben, weil die Computer, die da unten rumfahren von den Mikroorganismen vereinnahmt werden.« »Kein Wunder«, entgegnete Enzo grinsend, »die Pantoffeltierchen werden uns noch alle überleben, letzten Endes sind sie die höher entwickelte Lebensform.« Er zog eine kleine, flache Isolierflasche aus seiner Jackentasche und sog sie leer. »Ich trinke außerdem kein Wasser.«

Als wir uns verabschiedeten, nutzte ich die Gelegenheit, um meinen faux pas vom Anfang wieder wettzumachen: Ich gab ihm die Hand ohne Handschuh, und er lächelte sogar für 1,5 Sekunden. Dann stieg er aufs Rad und fuhr Richtung Zooviertel davon. Es war noch vor 6, und er würde jetzt eine lebensnotwendige, kleine Pause einlegen, damit der Tag überhaupt weitergehen konnte, Kalorien nachladen, Muskeln entspannen. Kopf freipusten. Mein Weg nach Hause führte über die Mendelssohn. Von dem Kanalarbeitereinsatz war nichts mehr zu sehen bis auf einen angetauten Kanaldeckel, aus dem zögerlich Nebel kroch.

 

 

 

Christine Kappe, Fotograf: Ric Götting

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KUNO hat ein Faible für die frei drehende Phantasie. Wir begreifen die Gattung des Essays als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Auch ein Essay handelt ausschliesslich mit Fiktionen, also mit Modellen der Wirklichkeit. Wir betrachten Michel de Montaigne als einen Blogger aus dem 16. Jahrhundert. Henry David Thoreau gilt als Schriftsteller auch in formaler Hinsicht als eine der markantesten Gestalten der klassischen amerikanischen Literatur. Als sorgfältig feilender Stilist, als hervorragender Sprachkünstler hat er durch die für ihn charakteristische Essayform auf Generationen von Schriftstellern anregend gewirkt. Karl Kraus war der erste Autor, der die kulturkritische Kommen­tie­rung der Welt­lage zur Dauer­beschäf­tigung erhob. Seine Zeit­schrift „Die Fackel“ war gewisser­ma­ßen der erste Kultur-Blog. Die Redaktion nimmt Rosa Luxemburg beim Wort und versucht in diesem Online-Magazin auch überkommene journalistische Formen neu zu denken. Enrik Lauer zieht die Dusche dem Wannenbad vor. Warum erstere im Spätkapitalismus – zum Beispiel als Zeit und Ressourcen sparend – zweiteres als Form der Körperreinigung weitgehend verdrängt hat, ist einer eigenen Betrachtung wert. Ulrich Bergmann setzte sich mit den Wachowski-Brüdern und der Matrix auseinander. Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein weitere Betrachtungen von J.C. Albers. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.