Freiheit

 

Auf dem Weg war ihm schon häufiger aufgefallen, dass einige Passagen eine überproportionale Ermüdung zur Folge hatten. Er fühlte sich einfach ausgelaugt, wenn bestimmte Abschnitte dieser Strecke befahren wurden. Da konnten noch so viele Kurven wie aus dem Nichts auftauchen und die Strecke zum Abenteuer machen, es half alles nichts und er begann zu gähnen. Dann musste er sich recken und natürlich die Seitenscheiben des Wagens öffnen, man kennt es. Der Wind steigt wie ein Beifahrer ins Auto ein und scheint neben dir Platz zu nehmen. Manchmal schlug er sich auch mit flacher Hand auf die Oberarme und hatte dann für einige Sekunden das Gefühl absoluter Wachheit. Manchmal hängen Schmerz und Wachsein elementar zusammen. Herr Nipp hatte vor grauer Urzeit einmal einen Film gesehen, in dem der Protagonist eine Schraube oder einen Nagel in der Hand hielt und diese immer weiter in das Fleisch bohrte, um ja auch wach zu bleiben. Sicherlich eine etwas seltsame Vorstellung, aber doch nachvollziehbar.

Oft, gerade wenn Herr Nipp seine starken Kopfschmerzen hatte, dann kam ihm schon mal der abstruse Gedanke, dass beides unabdingbar zusammenhing. Und trotzdem schickte der Schmerz ihn immer in eine andere Welt, wach ja, aber in einer Parallelrealität. Hier aber, in dieser Welt, wusste er seit seiner ersten Fahrt, dass diese scheinbar unendliche Kurvenstrecke durch die südwestfälische Hügellandschaft zur Erschöpfung führen musste. Und das ging ihm seit rund 20 Jahren so. Er ließ das Fenster ein weiteres Stück herunter. Früher hatte er in seiner alten Citroën 2CV4 Ente noch die Scheiben hochklappen können – in der Hoffnung, dass die Arretierung halten würde. Gerade bei rasant hohen Geschwindigkeiten um die hundert km/h war dieser Vorgang durchaus schwierig. Eine unerwartete Böe konnte die Sicherheit einer solchen Höllenmaschine durchaus gefährden. Wenn der Wind in den Innenraum schlug, wackelte das Gefährt oft bedenklich. Immer war dieses sehr urtümliche Auto der perfekte Kompromiss zwischen einem praktischen Transporter, einem durchaus funktionablen Regenschirm und einem Cabriolet gewesen. Leider half kein Tricksen und Schrauben, der Solexvergaser schickte den sprittigen Schreckenshauch des Treibstoffs bis in die Fahrerkabine, da konnte es gefährlich werden, eine Zigarette anzuzünden. Manchmal konnte die Nachbarschaft dann schon einmal an der Haustür klingeln und sich über den unverschämten Benzingeruch, der sich um das Auto verteilte, beschweren. Auch wenn der Verbrauch auf hundert Kilometern damals durchaus gering gewesen war, die Verdunstungsrate bei Stillstand glich das wieder aus. Aller Entenromantik zum Trotz: Diese Autos waren einfach ungesund. Und die Konfrontation mit einer Leitplanke oder gar einem Mercedes hätte wohl kaum ein Fahrzeughalter überlebt.

Bei den neuen Fahrzeugen allerdings konnte man getrost davon ausgehen, dass der Schalter des Fensterhebers seine Arbeit machen würde, den Befehl an einen kleinen Elektromotor übertrug und das Fenster wie von Geisterhand geöffnet wurde. Auch die Musik war inzwischen auf höchstes Maß verändert worden. Auf Anschlag gedreht, der Rückspiegel vibrierte im Takt der Bässe. Mächtiges Wummern in den Ohren und vor allem die Bauchgegend wurde gereizt. Zwar konnte er die Musik von dieser CD kaum noch ertragen, weil er sie in der letzten Zeit zu oft gehört hatte, doch jetzt war sie einfach sehr hilfreich. „Lehrkörper und Theisten haben sich hoffentlich tot gelacht und nicht wie sonst ins Fäustchen gemacht.“ Wenn Herr Nipp dann mit schräger Stimme und immer etwas neben der angesagten Tonlage mitsang, dann konnte er trotz all seiner tief steckenden Müdigkeit ein Gefühl von der Freiheit entwickeln. Dann wurde er zu einem Nippie auf Zeit, um genau zu sein für anderthalb Stunden und sieben Minuten.

 

 

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Weiterführend → 

Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

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