Courage

 

Da stand er also vor dem Spiegel und sah in dieses Gesicht, das ihm immer schon fremd gewesen war. So, als habe irgendwann irgendjemand irgendwie dieses Etwas ihm aufgepflanzt. Warum hast du dieses Gesicht und warum passt es so gar nicht zu meinem Namen, dachte er dann. Er blickte sich in die Augen und fand ein Sandkorn des Mutes, das der Schlaf wohl übersehen haben musste. Der Schlaf versucht schließlich alles zu betäuben. Ein Sandkorn des Mutes, den er sich nur selten zutraute, vor allem wenn es darum geht selbst tätig zu werden, das eigene Innere zu nutzen und hervorzukehren.

Er zog sich schnell ein T-Shirt über, grau und feingerippt, der Kragen zeigte schon, dass er es häufig trug. Auflösungserscheinungen. Auf dem Schreibtisch nebenan lag ein Füller, nicht jener, mit dem in jener Kurzgeschichte, die er als Schüler zu lesen hatte, der Besitzer, welcher weg will, Wellenlinien auf das Papier zeichnet.

Dieser schwarze Füller war ein Relikt eines gelebten Lebens, welches er hatte aufgeben müssen. Eines Lebens, das für ihn immer wieder Überraschungen bereit hielt, die nicht steuerbar waren. Nicht alles kann man selber lenken, vor allem dann nicht, wenn auch andere Menschen daran teilhaben. Dieser Füller hatte sein halbes Leben notiert mit seiner Goldfeder, 585er, die mit den Jahren dahin gekommen war, auch sehr breite Linien ziehen zu können. Ohne zu klagen. Die Blätter lagen auch bereits bereit und konnten doch nur schweigen, zumindest so lange, wie kein einziges Wort auf ihnen notiert war. Er wollte nicht, er würde schreiben müssen, genötigt. Was konnten sich andere nur einbilden ihn zu zwingen, diese Notizen zu verfertigen, diese Geschichte zu verfassen? Es war wie immer gewesen, zum einen Teil hatte er eine eigene Entscheidung getroffen, zum anderen Teil war sie nicht übersehbar gewesen. Folgen zeitigen eigene Initiative und die Courage, endlich mal selber zu schreiben. Die zum zweiten Mal aufgewärmte Pfeffer – Currysuppe schickte ihren verführerisch herben Duft durch die Wohnung. Einige Löffel musste er erst noch auf den tiefen Teller schaufeln. Einige Schluck dieses scharfen Gebräus sollten ihm den Rachen verätzen. Ja, mit Schmerzen schreiben, die eigenen Gedanken zu Papier bringen und die Welt zum Erstaunen bringen.

Den Teller nun noch schnell gespült und das Spültuch in die Wäschetasche, die auch noch ganz dringend in den Keller muss, damit der Inhalt auch zügig gewaschen werden kann, die in der Maschine befindliche Wäsche noch eben aufhängen und die trockenen Sachen von der Leine weg falten und in den Schrank im Schlafzimmer legen. Das Bett muss auch noch gemacht werden, wie sieht es denn hier schon wieder aus? Die ganzen Bücher im Regal neben der Schlafstelle sind irgendwie in Unordnung geraten und gerade jetzt so was. Herr Nipp hat zwar gar keine Zeit dazu, aber erst einmal muss doch aufgeräumt werden, sieh sich einer die Unordnung in der gesamten Wohnung an und Krümel auf dem Boden. Staubsauger aus dem kleinen Stauraum draußen auf dem Flur geholt und alles flott weggesaugt, schon besser. Die Pflanzen müssen auch noch ganz dringend gegossen werden, da klingelt das Telefon. Oh nein, jetzt nicht, das kann länger dauern.

Schreiben wird er wohl eher am nächsten Tag und dann mit viel Courage.

 

 

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Weiterführend → 

Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

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