Plätze und Wege

 

Eines ist ihm natürlich klar, der alte Spruch, welcher besagt, dass es kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte Kleidung für den wahren Wanderer gibt, ist vorsichtig zu genießen. Beim morgendlichen Blick aus dem Küchenfenster ins trübe Grau des Tages aber weiß Herr Nipp, dass es endlich mal wieder an der Zeit ist, dem Draußen trotzig die Nase entgegen zu strecken. In aller Ruhe legt er seine Sachen auf das Bett, die grüne Hose, die an allen möglichen Stellen Reißverschlüsse versteckt, damit sich das Kleidungsstück an die jeweiligen Verhältnisse anpassen kann. Ein eng anliegendes Shirt, welches sämtliche entstehende Flüssigkeit sofort vom Körper wegführt, das vermeidet mögliche Erkältungen. Die dicken linksrechts Individualstrümpfe, die sich optimal an die mit Karbon und Teflon verstärkten Wanderschuhe anpassen werden. Ein Pullover für den Außeneinsatzbereich, der natürlich irgendeinen neuen Fantasienamen hat, unter dem man sich eher etwas Technisches vorstellen kann, aber kein Kleidungsstück, ganz nach dem Motto „functional outdoor wear“. „Apex Android Hoodie“, „Die Waffelstruktur auf der Innenseite des Fleece – Materials Solanice hält die Körperwärme bei minimalem Stoffeinsatz und Gewicht effektiv zurück. Das funktionelle, sehr elastische Fleece sorgt dazu für besten Feuchtigkeitstransport.“ (so ein Werbetext – es ist wirklich ganz amüsant, die verschiedenen Seiten im allgegenwärtigen Netz zu lesen, welche solche Produkte anbieten. Da entdeckt der interessierte Mensch folgende Wortschöpfungen, hier aus lediglich zwei Anzeigen zusammengestellt: Softshelljacke, Apex ClimateBlock-Gewebe, RV-Einschubtaschen, Black Diamond Credo Pants, Hardshelljacke, PreCip Dry Touch Technologie, Front-RV, Angel-Wing Movement, PreCip Jacket) Das sind die neuen Namen und Beschreibungen, für deren Bedeutungsentschlüsselung man eigentlich Anglistik studiert haben müsste oder zumindest aber Physik. Der neue Wanderer ist kein altbackener Mensch mit Lodenjacke und Hut, er hat sich der Zeit angepasst, alles ist für die Tätigkeit optimiert und manchmal wirkt es fast lächerlich, wenn im Wald nur noch Leute herumlaufen, die auf der Schulter ihr Logo stolz nach hinten präsentieren. Der Wanderstock aus Holz mit aufgenagelten Abzeichen ist einem teleskopisch ausfahrbaren Hightech – Highend – Alustick gewichen, mit dem auch die schwierigsten Situationen zu meistern sind. Vor allem aber ist er leicht und bequem verstaubar, was natürlich niemals geschehen wird, weil der stolze Besitzer natürlich zeigen will, was er hat. Auch unter Wanderern ist das Erzeugen von Neid wichtig. Die Wanderkarte kennt kaum noch jemand, wer hat sie denn je lesen können? Es gibt schließlich inzwischen Geräte, die genau anzeigen, wo man sich gerade befindet und wohin der Weg führen wird.

Er packt sich einige Sachen in seinen schwarzen Arbeitsrucksack, dabei auch eine Kamera, ein paar Bananen und das obligatorische Mineralwasser. Ein paar Geldscheine sind auch dabei, schließlich möchte er hinterher noch gemütlich etwas essen. Er schreibt seiner Mitwanderin eine Kurznachricht und erhält nur kurze Zeit später einen positiven Mitwanderbescheid.

Noch ist nicht abzusehen, wo die Wanderstrecke verlaufen soll, jedes Wochenende soll ein neuer oder zumindest ihnen unbekannter Weg ausprobiert werden. Man lässt sich also von der Strecke leiten, eine halbe Stunde Fahrt sollte dabei das Höchstmaß der Gefühle sein, schließlich geht auch diese Zeit verloren. Irgendwann biegen sie von der Hauptstraße ab, weil die Nebenstraße so klein wirkt und Richtung Wald geht. Wald ist immer gut, der eine mehr, der nächste weniger.

Tatsächlich führt diese geteerte Trasse zu einem Hinterland – Sportplatz mit angeschlossenem Wanderparkplatz. Ein weiterer Wagen findet sich dort. Vom Fußballfeld schallen wilde Schreie herüber. Wahrscheinlich die übermotivierten Eltern der spielenden Kinder, die ihre Egoprobleme mit dem Sieg des Kindes kompensieren. Die gehen verbal über Leichen: „Leg ihn um!“ „Da musste reingrätschen!“ „Sei nicht so zimperlich, der Schiri ist doch blind!“ Weitere verbale Entgleisungen, wie „Fxxx ihn, den Arsch!“ und Schlimmeres möchte ich dem Leser an dieser Stelle ersparen. Für eine Vertiefung des Themas begebe er oder sie sich doch bitte mal zu einem B-Jugend-Fußballspiel in der Provinz oder noch schlimmer im Ruhrgebiet. Testosterongesteuerte dickbäuchige Kampfmaschinen von Vätern, die nur die äußerst unwahrscheinliche Profikarriere ihres Kindes im Kopf haben, blöken dort herum, als sei eine Kultur der Mitmenschlichkeit dem finsteren Mittelalter gewichen. Sie fordern Freveltaten ihrer Kinder ein, die durchaus nicht immer förderlich für die weitere gesundheitliche Entwicklung des Gegners sind. Was in Afrika die Kindersoldaten… (Nein, hier versteigt sich der Schreiber natürlich völlig vorurteilsbeladen in seinen Gedanken.) Aber. Man wünscht sich in solchen Fällen geradezu, und sei es nur, um völlig fremde Menschen zu schützen, diese sogenannten Erziehungsberechtigten sollten sich doch besser zu Hause vor den Rechner setzen und Egoshooterspiele konsumieren oder ihre Bedürfnisse mit Videos bestimmten Themas befriedigen. Herr Nipp weiß schon, warum er sich der sogenannten Fußballkultur entzieht. Das römische „Brot und Spiele“ ging schließlich auch mit gewissen Opfern einher.

Der Weg ist auf den ersten paar hundert Metern noch geteert, man fragt sich, warum vor Jahren noch Waldwege solcherart hergerichtet wurden, ist das Gehen auf einer feinen Schotterpiste doch wesentlich angenehmer. Die erste Möglichkeit auf eine Seitenpiste wird genutzt. Ein recht gut zu gehender Holzrückweg, der allerdings schon nach einem Kilometer in einer Sackgasse mündet. Holzverladeplätze sind schließlich im Wirtschaftsbereich Wal auch wichtig. Nur unerfahrene oder völlig ignorante Genießer der Natur werden sich folglich von Wegen ableiten lassen, die gekennzeichnet sind. Niemals schlage man einen Pfad ein, der kein Zeichen hat. Die beiden beschließen aufgrund der Begebenheit, dass normalerweise kein Weg zurückgegangen wird, querfeldein weiter zu laufen. Irgendwann wird automatisch ein Wanderweg kreuzen. So groß sind im heutigen Deutschland die Waldgebiete nun wirklich nicht mehr, dass ein echtes Verlaufen möglich wäre. Wer aufmerksam den Ohren folgt, wird irgendwann auf menschliche Siedlungen stoßen. Zur Not hilft noch immer die alte Pfadfinderregel, dass man einem Bachlauf bergab folgt. Die nächste Stadt ist sicherlich nicht weiter als wenige Kilometer entfernt oder ein Dorf. So also auch hier. Eine breite Wandertrasse. Der Wald ist offen, an einigen Stellen sieht das geübte Auge auch nach vielen Jahren noch die Narben, welche von Kyrill geschlagen wurden. Meist werden dort inzwischen neue Bäume gesetzt, ganze Schonungen. Nicht mehr wie früher nur Fichten, nein auch Nordmanntannen, Eichen und Buchen. An einigen Stellen scheint sich die Einsicht durchgesetzt zu haben, dass Mischwälder vielleicht doch widerstandsfähiger sind als Monokulturen. Immer dort, wo die Wälder in staatlicher Hand sind, wird neu gedacht und vor allem gehandelt. Das mag zwar als Paradoxon erscheinen, ist aber Tatsache. Man würde sich wünschen, dass auch die anderen Waldbesitzer die neuen Gedanken aufgreifen.

Bei genauem Hinsehen zeigt sich, dass einige Streckenabschnitte mit zerkleinerten Grabsteinen versehen sind. Das ist wahre Würde. Anderorts wird jeder Grabstein geborgen und feierlich wieder aufgestellt, weil er doch Nachrichten über das Leben der Vorfahren gibt oder weil es berechtigte Schuldgefühle gegenüber bestimmten Menschen gibt. Hier aber werden die Steine sinnvoll genutzt. Auch für Leseanfänger unter den Wanderern wird das Gehen so zum Abenteuer, immer wieder können einzelne Buchstaben oder auch ganze Wortteile oder Namensfragmente entdeckt werden. Dass es sich um alte Grabsteine handelt, ist einwandfrei daran festzustellen, dass Diabas für den Hausbau einfach zu teuer ist. (Was für ein Satz.)

Die beiden Naturliebhaber finden auch nach zwei Stunden auf die asphaltierte Strecke zurück und zum Auto. Sie beschließen noch essen zu gehen. Zu fahren. Finden auch ganz idyllisch neben Abstellgleisen und Kläranlage gelegen eine rustikale Gaststätte mit dem wundervollen Namen „Zur rostigen Säge“. Der Wagen wird kurz vor einer Schranke abgestellt, dort ist ein rundlicher Platz. Die Wirtin begrüßt die beiden fremden Hungrigen: „Da habt ihr euch aber einen seltsamen Parkplatz ausgesucht.“ „Naja, wir haben uns gedacht, dass Wendehammer dafür geschaffen wurden, sie vollzuparken.“

 

 

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Weiterführend → 

Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421