Irgendwas mit Murmeltieren

 

Der Tag hat ihn wieder einmal mit seiner unglaublichen Kürze überrascht, tatsächlich ging die Sonne irgendwann wohl auch auf, hat sich über der Horizontlinie gezeigt und ist ebenso irgendwann dann einfach heimlich verschwunden. Wahrscheinlich hat der Himmel auch für einige Momente in den herrlichsten Farben geleuchtet, so wie es ein frühwinterlicher Himmel abends eben macht. Aber gesehen hat Herr Nipp davon so rein gar nichts.

Wohl ist er früh morgens aufgestanden, hat einen langen Anruf bekommen, mit der ganz dringenden Aufforderung, nun doch endlich mal die gestern zugesandten Dokumente zu bearbeiten, damit die nun doch mal in den Druck gehen können. Er hat sich daran gesetzt, all die über achtzig Seiten durchzuarbeiten, jedes Wort auf die Goldwaage gelegt und wahrscheinlich den einen oder anderen Text auch umformuliert, um es gelinde zu beschreiben. Er musste einfach die Texte neu formulieren, den Sinn wohl erhaltend, aber manches geht aus formalen oder stilistischen Gründen so überhaupt nicht. Es gibt Texte, die so missverständlich klingen, dass man sie eigentlich einfach in die Mülltonne werfen sollte, aber das ist hier nun so gar nicht angezeigt gewesen. Schließlich durften die bekannten Eitelkeiten ja nicht verletzt werden. Den ganzen Tag über hat er sich also damit beschäftigt, was all die anderen Menschen so verbrochen haben.

Wie gesagt, er ist im Dunkel aufgestanden. Als seine Arbeit erledigt ist, muss er feststellen, dass die Rollläden immer noch nicht hochgezogen sind, es sich jetzt allerdings auch gar nicht mehr lohnt, dieses zu tun. Es ist also wieder dunkel – sehr dunkel draußen, denn aus irgendeinem Grund scheinen die Straßenlaternen auch nicht zu funktionieren. Weiterhin bemerkt er ein seltsames Gefühl in der Magengegend, also nichts mehr mit Sport, er muss erst irgendwo Essen auftreiben. Die Schuhe stehen draußen im Treppenhaus dieses ziemlich verkorksten alten Mietshauses und unglaublicher Weise hat niemand sie weg genommen oder zumindest an einen anderen Ort gestellt. Irgendwas stimmt hier nicht.

Auf der grünen Jacke ist neuerdings ein roter Fleck, woher der stammt, weiß nun wirklich niemand. Die Handschuhe, die innen mit Pelz gefüttert sind, haben seit dem gleichen Termin einen langen Riss im Bereich der Handbeuge. Wenn er doch nur wüsste, was an jenem verflixten Tag passiert war.

Als auch der Schal gefunden ist, der übrigens neuerdings ein gerissenes Loch aufweist, macht er sich auf den Weg. Schon vor dem Haus muss Herr Nipp einen kurzen Plausch mit einem der Nachbarn führen. Der hat einen kleinen Hund mit Dauerwellfrisur. Das Tier wackelt eher als es geht und wirkt sehr alt. Der Nachbar bietet einen Schluck aus dem Flachmann gegen die gerade einsetzende Kälte an. Solch ein Angebot darf niemand ablehnen. Es sei doch sehr nett gewesen, dass Nerr Nipp in den letzten Tagen die Spaziergänge übernommen habe. Welche Spaziergänge, denkt letzter. Mit Sicherheit hat der etwas seltsame Nachbar wohl schon einen zu viel im Frack.

Schon wenige Meter weiter trifft er einen alten Bekannten, seltsamerweise führt auch der einen Flachmann mit sich, als sei dies gerade eine neue Modewelle, die bisher so völlig an Herrn Nipp vorbeigezogen ist. Immerhin ist das Fläschchen mit einem durchaus passablen Singlemalt Whiskey gefüllt, 12 Jahre gelagert, angeblich im Fass. Einige Schritte tun die beiden zusammen und tauschen sich über die letzte Woche aus, die intensiven Gespräche, für die sich der alte Bekannte bedankt. Herr Nipp ist mal wieder sehr verwundert, was er da zu hören kriegt. Da muss wohl eine Verwechslung vorliegen. Er kann sich beim besten Willen nicht erinnern, wann das denn gewesen sein soll. Aber man sollte die Menschen immer bei ihrem Glauben lassen, das macht sie glücklich.

Kurz vor seinem Lieblingsimbiss, der von einem Menschen unbekannter südländischer Herkunft geführt wird, begrüßt ihn sein Bankberater, mit dem er meistens nur telefonischen Kontakt hat, wenn der ihm mal wieder ein suspektes Wertpapier andrehen will. Der kommt noch mit in die Pizzeria, gibt einen Grappa aus und schwärmt von den wertvollen Tipps, die Herr Nipp ihm letzte Woche doch gegeben habe. Wann? Was für Tipps denn eigentlich? So langsam wird er doch nervös, was soll da alles passiert sein? Der Besitzer des kleinen Schnellrestaurants zeigt sich spendabel, nicht nur, dass er das Nudelgericht auf Kosten des Hauses laufen lässt, weiterhin erhält der Gast ein weiteres hochprozentiges Getränk, das einen leichten Anisgeschmack verbreitet. Inzwischen fühlt sich Herr Nipp doch gut aufgewärmt.

Drei weitere Gäste kommen herein und begrüßen ihn stürmisch, sofort stehen weitere Getränke auf dem Tisch, er habe schließlich ihre bröckelnde Freundschaft gerettet. Wie kann ein einzelner Mensch schon die Freundschaft von drei Erwachsenen retten? Herr Nipp stellt sich diese Frage nur ganz kurz. Dann erscheint eine Frau mit Kind. Die aus der hintersten Ecke des Verstandes (bei all den bisherigen Geschehnissen allerdings gar nicht so abwegig) aufkeimende Befürchtung, er sei der Vater, macht sie allerdings sofort zunichte. Sie bedankt sich aber, dass er unter Einsatz der eigenen Gesundheit den Jungen vor dem herannahenden Lastwagen gerettet hat. Gut eingewickelt in buntes Papier überreicht sie ihm eine Flasche Doppelkorn. Auf dem Rückweg versperren einige Jugendliche das Weiterkommen, werden allerdings sofort freundlich, als sie erkennen, wer da kommt, nehmen die angebotene Flasche auch gerne in Empfang und teilen sogar. Es sei doch so toll, dass er einfach auf sie zugegangen sei und eine Perspektive geboten habe, jetzt hätten sie endlich wieder Mut für die Zukunft.

In der weiteren Zeit dieses Abends begegnet Herr Nipp noch einigen Menschen, die, immer verbunden mit einem gebrannten Getränk, ihre besondere Wertschätzung kundtun. Ein offensichtlicher Obdachloser, eine Buchhändlerin, auch ein Journalist mit Kamera.

Irgendwann ist er ins Bett gekommen, wer weiß schon wann.

Der Tag hat ihn wieder einmal mit seiner unglaublichen Kürze überrascht, tatsächlich ging die Sonne irgendwann wohl auch auf, hat sich über der Horizontlinie gezeigt und ist irgendwann dann einfach heimlich verschwunden. Wahrscheinlich hat der Himmel auch für einige Momente in den herrlichsten Farben geleuchtet, so wie es ein frühwinterlicher Himmel abends eben macht. Aber gesehen hat Herr Nipp davon so rein gar nichts. Wohl ist er früh morgens aufgestanden, hat auch einen langen Anruf bekommen und mit ganz dringenden Aufforderung, nun doch endlich mal die zugesandten Dokumente zu bearbeiten, damit die auch endlich in den Druck gehen können. Er hat sich daran gesetzt…

 

 

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Weiterführend → 

Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421