Gezeitengespräch 3

Vorbemerkung der Redaktion: In diesem Jahr machen wir das vergriffene Gezeitengespräch von Haimo Hieronymus und Karl Hosse auf KUNO recherchierbar.

 

Zeitnah (hier): Die Löcher sehen lernen. Wenn man das als Sinn der Betrachtung findet, kommt man der Kunst schon näher. Dort zur Erkenntnis kommen, wo die anderen nicht sehen. Eine Antwort auf das Vergangene vielleicht. Wie hieß es in der Werbung noch gleich. Löcher mit Geschmack drumherum. Eben nicht das Erfinden, sondern Finden. Hier und jetzt und einen blick durch die Aussparung zu dem Gewesenen wie Zukünftigen gleichzeitig. Den Berg an Zetteln und Notizen durchsehen und die Quintessenz des Lebens darin lesen. Wo die Anderen Unfug vermuten, die Fügung entdecken und niemals in dem Gemachten, dem zu Machenden im Gleichen verharren, das nämlich wäre dekorative Langeweile. Dekoration und Hübschismus im Detail.

Zeitfern: Löcher werden sichtbar mit Rand. Die Löcher dieser Pflanze sind keine Deko. Sie zeigen die Vergänglichkeit, den Verlust. Wie in der Liebe. Wie viele Löcher es gibt auf dieser Ebene. Doch man meint, unter mir ist kein Loch. Ich stehe fest, alles im Griff. Ist Liebe eine Epoche im Leben? Eine Periode der Momente in Folge? Die Versprechen lauten: Immer. So soll es auch sein. Bis der Tod euch scheidet. Trotzdem gibt es Orte, wo ich selbst verborgen bin. Bei dir, lieber Zeitfern gibt es die auch. Das Verlangen endet nie, der Traum ist ein Halbdunkel zwischen durcheinander wachsenden Bäumen. Strauchwerk. Ein Lichteinfall. Der Wind belebt die Schattenfugen. Die Bruchstellen. Immer neue Bilder. Liebe muss beharrlich sein. Und heute die Spatzen, viele, in der Pfütze. Badend. Einer badet lustvoll. Der nächste Kommt. Und noch mehr. Ein erotischer Moment. Dieses sich Plustern. Das Spritzen des Wassers. Der Wegflug. Wir haben Dezember. Alles kalt. Die Vogelkörper frenetisch. Veitstanz. Ein kleiner Rhythmus. Ich fühle. Ist die Liebe auch so?

Zeitnah (frühtags): Liebe? Ja, die gibt es, das ist klar und sie will nicht vergehen. So kommt es, dass man auch später weiterliebt, alles für sich, jede und jeden für sich, auf seine richtige Art, nach dem Tod auch, nach der Trennung trotzdem. Diese Macht, die uns ein Netz im freien Fall des Lebens bietet, manchmal auch nur einen Strohhalm der Erinnerung. Wer glaubt, nur eine könne geliebt werden, der leibt vielleicht falsch, weiter weg von der Realität, als er oder sie meinen könnte. Ha, das ist ein System, an dessen scheinbar natürlichen Gesetzmäßigkeiten wir uns verfangen können. Die Normen erwarten eine romantische Liebe zwischen zweien, das ist eine Erfindung, für Staat und Kirche, so einfach ist das. So wird es den Institutionen leichter gemacht. Aber das ist Unfug, eingeredete Realität. Wir balancieren auf den Stegen zwischen den Löchern und sind froh, dass wir Gleichgewicht halten können, das innere vor allem. Diese künstlichen Unterscheidungen der verschiedenen Liebesarten. Denke ich an meine Kinder, fühle ich nicht viel anders als bei einer Frau. Es zerschneidet mein Herz, wenn sie Sorgen haben oder wir streiten müssen. Der Bauch verkrampft sich bei jedem unglücklichen Blick, bei jedem Abschied auf Zeit. Jeder Streit ist mir ein körperlicher Schmerz. In diesem Augenblick die Augen schließen. Aus Müdigkeit, nicht Tod, kann ich umso klarer denken und gleichzeitig aus der Zeit entfliehen. Da ruft jemand „Kaffee ist fertig“. Das Gegenüber, das ich liebe, ein Mann, egal, ein Freund, ja. Er rezitiert laut und rhythmisch. Aber wohin verirre ich mich. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, sie haben erkannt, dass es nicht mehr ankommt, der hört nur noch auf sein Smartphone.

Zeitfern: Eingeredete Realität. Ja. Wenn man nicht denkt und falsch fühlt. Doch was ist falsch? Ich liebe meine Kinder. Ich liebe meinen Bruder. Doch wenn ich es sage, denke ich an die unsäglichen amerikanischen Filme: „Hey, ich liebe dich. Du bist mein Bruder. Hey, ich tu alles für dich.“ Oder „Oh mein Gott!“ Da ist alles zunächst direkt gesprochen. Man hat das Gefühl, ja, das ist so richtig. Nach 10mal der gleichen Worthülsen merkt man, das ist keine Tiefe. Das füllt nicht auf. Da liegt Böhmen am Meer. Ich will es nicht begnadigen. Gespenstergefühl. Und die Spatzen baden noch. „Und jedes Wesen sucht seinen Anderen, selbst der Einzeller.“ (Peter Handke). Noch haben wir zwei kein Action, sondern Dialog.

Zeitnah(kurz reingeschaut): Die scheinbaren Worthülsen stellen sich manchmal als ehrlich heraus. Aber Traumbilder sind manchmal Worthülsen.

Zeitfern: Traumbilder. Ich höre gerade, jetzt, Rolling Stones, The Devil usw. Huh huh, faszinierend, das Gefühl dieser Musik. Das Böse stellt sich ein. Mal fühlen. Nochmal fühlen. Fantastic. In mir stellt sich das Böse nicht ein. Weiß nicht richtig, was böse ist. Mal wieder, der Kopf macht nicht mit. Der Instinkt ja, so, und schon vorbei. Was jetzt, wo bleibt die Liebe. Jeder hört sein Smartphone. Nun sind wir wieder da, wo die Spatzen es nicht von den Dächern pfeifen. Da, wo diese beiden, Mutter und Kind, nicht die Kraniche hören. Der Sommer ist vorbei. Der Vorhang, der mir im Herbst dauernd ins Gesicht weht, hin und her. Diese Zeit, wo die Wolllust hinter den Vorhängen mir ins Gesicht weht. Wo Circe die Männer in Schweine verwandelt. Da wo alles warm werden soll. Gemütlich. Auch ehrlich gemütlich. Da wo mir jemand, du zeitnah, Äpfel schenkt. Cocktailäpfel. Mit einem Happen in den Mund.  Und schmecken. Die Johannisbeeren haben die Backen schon lange nicht mehr zusammen gezogen. Traumbilder. Sind nicht nur Worthülsen.

Zeitnah (immer wieder im Jetzt): Ich sah ein junges Paar, beide sehr schön, in einem Cafe. Zwischen sich einen Tisch, sie sollten sich eigentlich verliebt in die Augen schauen. Blitze fliegen lassen, der geheimen erotischen Sprache, Die so offensichtlich von Fremden nie verstanden werden kann. Aber. Ich weiß, du hast auf dieses Aber gewartet, mein Lieber. Denn wir beide wissen der Alltag ist anders gestrickt. Aber. Sie hatten nicht nur den gedeckten Tisch da, zwischen sich. Viel schlimmer ihre Apparaturen. Selbstverschleierungsmaschinen. Smartphones. Er schaute auf seinen Bildschirm, sie auf ihren. Auch weltfern beide aber nicht zusammen, weit entfernt. Ich sah keine Sehnsucht nach Verschmelzung, sah die gewitterblitze der Liebe nicht. Gewitterblitze der Liebe nicht. Romantik weit entfernt. Weit weit entfernt. Kilometer ohne jeden Spatz. Auch die alten Turteltauben haben Feder gelassen. Ohne Mauser, ohne Erwartung auf ein Frühlingsfederkleid. Hoffentlich werden sie nicht erfrieren diesen Winter. Schon ein Schnüpfchen wäre ihnen zu viel. Immerhin das ist jetzt kein Grund, traurig zu sein. Melencholia ist fort geflogen. Das Eis kommt, frostet die Blätter, Herbstes Restlaub, ein und wir wissen, nächstes Jahr wird ein neues Jahr beginnen. Und im Januar schon zeigen sich die Blüten, die goldenen Blüten der Zaubernuss.

Zeitfern: Auch das Sirren der Fliegen im Spinnennetz ist nicht mehr. Kleine zerbrechliche Gerüste mit diesen großen Augenrunden. Ausgesaugt. Erloschen. Was wird werden, wenn auch meine Augen erloschen sind. Gibt es noch Wirklichkeitsbeweise der Farben und Formen ohne Sehen. Bilder brauchen Raum. Unverwirrt. Noch bin ich hierorts im Atelier. Eingegrenzt. Sind Räume kleiner in der Kälte? ,,Habe sie bestanden, eine um das andere Mal. Noch bin ich unverloren.‘‘ (Bachmann). In diesen Orten im Wald, dort waren mal Aussichtspunkte zum Tal. Alle zugewachsen, Blicke verschoben, grünbemooste Bänke. Oder schon fast umgefallen, morsch. Und dieses junge Paar, mit gebeugtem Kopf, Einsicht Handy, Sprechen kurz, ja auch schon erlebt. Vier Jungs auf einer Parkbank an der Ruhr. Sommer. Alle gebeugt. Alles kleiner Bildschirm. Die sahen keine Kaulquappen mehr. Nicht die Silberfische im Wasser, die bunten Mandarinenten. Was soll werden, wie sehen diese Vier die Welt?

Zeitnah (schneller Konter): Aborigines des Medienzeitalters, losgelöst von der Wirklichkeit im virtuellen verstrickt. Alles sehen, über Fotos und kleine Filmchen, wenn die Starre die Sinne verwirrt. So gesehen sind wir Überbleibsel des 20. Jahrhunderts. Unsere Welt geht verloren, wie es immer schon war. Die Wahrheit verändert sich. Die übrig gebliebenen stehen staunend und fragend. Waren wir denn genauso? Die Frage meiner Kinder, ob wir denn gar keine Handys hatten damals. Verabredungen zählten. Da musste nicht ein zehntes und hundertstes Mal bestätigt und verbunden werden. Ja, wir waren weniger flexibel, aber wenn wir auf die Straße gingen zum spielen, dann waren andere schon da. So gesehen waren wir altmodisch. Wenn man uns gefragt hätte wie die Zukunft aussieht wären die fliegenden Autos wichtig gewesen. Aber Kommunikation auf kleinen technischen Spielzeugen? Keiner hat das kommen sehen. Ich warte auf den großen Sonnensturm, den Verlust aller Daten. Was machen die Jungen, die vier an der Ruhr dann?

Zeitfern: Alle unsere Gedanken durchgelesen, bin am Zaudern. Es ist ein Garten der Pfade, der sich verzweigt. Modell, Wörter. Eine sowohl als auch. Synthesen strukturieren ein angehaltenes Dazwischen. Sie beziehen sich in ein Verirrungs- und Verwirrungspotenzial, dass meine Spanne des Zauderns ausfüllt. Ein labyrinthischer Diskurs. Mit lauter Anfängen und Neuanfängen, Gabelungen, die zu keiner Einheit, zu keinem Abschluss und sich zu keinem Ausgang formieren. Wir schreiben trotzdem. Es ist keine Erzählung, der Umfang ist zu klein. Das Schöne, wir mäandern, der Beginn unseres Gesprächs ist immer da. Wo ist die Schwelle, die uns in eine an der Sphäre reißt? Schwellenkunde? Nie gelernt. Hoppla, schon gestolpert. Und nochmal auf dieser dünnen Schicht aus Eis, nimmt ein Blässhuhn den kurzen Weg zum Ufer. Rutscht mächtig. Es zaudert nicht.

Zeitnah (fließend bei dir): Das Eis wird dicker, schmilzt, wird wieder einmal eine Schicht bilden, die trägt, die nicht reißt. Über den Stausee im Winter mit vier Kindern, dem Vater natürlich. Der sagt, irgendwann könnt ihr erzählen, was heute geschah. Es wird euch keiner glauben. Solche Winter gibt es bald schon nicht mehr. Wie weitsichtig. Unglaublich, vor 40 Jahren oder 35 schon so weit zu denken. Die Füße waren kalt, die Ohren sowieso. Alle machten sich lustig darüber. Die Ohren, die roten riesigen abstehenden Ohren. Sie sollten sich noch legen, ein wenig zumindest. In der Erinnerung die Nachrichten, die Gefahr, die Ängste die zum regieren wichtig sind. Das Volk muss in Angst gehalten werden, kalter Krieg. Einer, der nur durch untergründiges grauen die Zeit beherrschte. Daneben die tiefe Familienliebe, Gegenpol. Weihnachten hatte noch Sinn. Tief im Glauben verwurzelt, später dann zu Heiligabend, wenn es sehr spät wurde mit dem großen Bruder noch raus in die Freiheit der Nacht, Freunde treffen. Noch ein, zwei Bier oder Wodka gekippt, fast früh morgens nach Hause. Wie die Blässhühner torkelnd auf dem Eis.

 

 

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Gezeitengespräch von Haimo Hieronymus und Karl Hosse in der Edition Das Labor, Neheim 2014

Weiterführend

Eine Einführung zum Projekt Gezeitengespräch findet sich hier. Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Künstlerbücher verstehen diese Artisten als Physiognomik, der Büchersammler wird somit zum Physiognomiker der Dingwelt. Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421