Koppel

 

Auf dem Weg zum nächst gelegenen Stausee kommt er an einer Pferdekoppel vorbei, am Ende einer ausgebauten Straße. Der asphaltierte Weg biegt von dort in einen Ortsteil ab, der nach jenem Wald benannt wurde, der sich dort zu früheren Zeiten erhob. Einem Bruchwald. Man sagt, dass zur Zeit des Nationalsozialismus dort eine Art Lager aufgebaut worden sei, man schweigt allerdings darüber, um welche Art von Lager es sich wohl gehandelt habe. Herr Nipp kann sich daran erinnern, dass seine Mutter davon sprach, ihr Vater habe immer Angst gehabt, eines Tages dorthin zu kommen. Lediglich eine immer noch bewohnte Baracke erinnert daran, dass dieser Ort eine zweifelhafte Geschichte hat. Doch dieses Unwissen, welches er Zeit seines Lebens mit sich führt, hat ihn nie dazu verleitet, auch nur zarte Forschungen anzustellen. Der Ortsteil ist von Rest des kleinen Städtchens, welches Herr Nipp bewohnt, abgeschnitten, wie ein nach außen gelagertes Organ, vielleicht eine Leber oder Niere, die er beim Schlachten auf dem Bauernhof des Onkels gesehen hatte, erschien er ihm als Kind immer. Damals ging man sonntagmorgens nach dem Kirchgang noch eine Runde über den Friedhof, dahinter lag ein Gehege mit Tieren, Hühnern und Ziegen, die gefüttert wurden mit mitgebrachten Leckereien. Dann erklärte der Vater einiges über die dort gehaltenen Wesen, darüber, dass er selbst früher Hühner und Ziegen gehalten habe, während die Mutter zu Hause das Mittagessen vorbereitete. Wie es sich damals gehörte, Vorspeise, Hauptgang mit Fleisch und Nachspeise. Friedhof und dieses Tiergehege hatten das Städtchen vom eben genannten Ortsteil getrennt oder verbunden, außerdem ein kleiner Streifen Eichenwald. Heute ist nur eine Erinnerung geblieben, Hunde werden dort abgerichtet.

An der Abbiegung liegt weiterhin ein Forsthaus, das im Volksmund immer nach dem dort aktuell residierenden Förster benannt wird, die älteren Leute allerdings führen den Namen aus ihrer Kindheit im Mund. So wird über denselben Ort mit verschiedensten Bezeichnungen gesprochen und niemand regt sich darüber auf, dass ständig eine neue Benennung stattfindet. Über alle Maßen würde man sich echauffieren, wenn denn andere Dinge des täglichen Lebens und Gebrauchs auf solch infame Weise ihren Namen wechseln würden. Hier aber wurde ein Ort gleich dem Bewohner gesetzt. Andererseits gab es Häuser in der Stadt, die auch nach Jahrzehnten noch den Namen eines dort gelebt habenden Bürgers hatten, manchmal obwohl der dieses niemals besessen hatte, sondern lediglich ein Mieter war. Dann gingen die Kinder zu einem Haus, dessen Namen nichts mehr mit den aktuellen Bewohnern zu tun hatte, und nicht die aktuellen Mieter oder Besitzer wurden genannt, sondern der Hausname.

Dort bei der Pferdekoppel gegenüber des Forsthauses sieht Herr Nipp regelmäßig auch Mädchen im Alter zwischen neun und vierzehn Jahren stehen, die den meist braunen edlen Einhufern mit sehnsüchtigen Blicken in jeglicher Bewegung folgen. Sie haben sich Reitstiefel angezogen und warten nur darauf, dass irgendwann einmal jemand aus dem Haus trete und ihnen erlaube, die Pferde zu liebkosen und eventuell sogar zu besteigen. Dann fühlten sie sich wie junge Göttinnen, allem Weltlichen enthoben. Herr Nipp lächelt, dass er das gleiche Bild mit wechselnden Figuren schon seit Jahr und Tag kennt und es sich nicht verändern wird. Dieses Jahr etwa tragen sie dicke Loopschals, die den Hals verschwinden lassen und aus dem Torso und Kopf eine homogene Masse machen. Das erinnert an den Halsschmuck einiger Eingeborenenstämme Afrikas, so wundervoll dokumentiert in den Fotografien von Leni Riefenstahl, die nach dem Krieg nicht geläutert, aber im Gefühl, niemals in irgendeiner Weise korrumpiert gewesen zu sein, nicht mehr politische, sondern eingeborenenkulturelle sowie unterseeische Szenen fotografierte. Zwar immer umstritten, doch sehr erfolgreich. Einige Künstler finden sich eben in jedem System zurecht, finden ihre Kunden. Letztlich hatte auch Arno Breker nicht anders gehandelt.

Zu den abgelichteten Initiationsriten werden ganze Massen von Mädchen und jungen Frauen sich mit ihrem Halsschmuck in Trance tanzen. Die glänzenden Körper von rotem Tuch verdeckt oder sogar unverschämt unbekleidet.

Aber diese Rituale sind den Mädchen an der Pferdekoppel wahrscheinlich völlig fremd und unbekannt. Ihre Möglichkeiten, in die Welt der Erwachsenen hinüber zu wechseln sind andere und jetzt befinden sie sich in der Zwischenzeit, in der sie sich selbst kaum verorten können, in der sie all ihre Sympathien an die Pferde verschenken und die Eltern, ja die ganze Erwachsenenwelt einfach nur als störend und völlig „doof und bescheuert“ empfinden. Auch sie werden sich in Zukunft in Trance tanzen und dann ihre Pheromone versprühen, auch sie werden ihre zukünftigen Partner mit großer Wahrscheinlichkeit von einem dieser Massenmärkte der erotischen Vielsamkeit mit nach Hause nehmen, aber das hat noch Zeit. Die Diskos, Tanzbuden und Megaevents mit angesagten DJs werden noch folgen. Jetzt begnügt man sich noch mit einem heimlichen Kuss in einem versteckten Winkel des Schulhofes und verdrängt den Mundgeruch des anderen durch das Kauen künstlich parfümiert riechenden Erdbeerkaugummis. Die verträumten Blicke schauen dann aus einer Stofffestung hervor, die romantisch wirken will. Die stark getuschten Wimpern, welche mit kräftigem Lidstrich die Strahlkraft der Augen verstärken und jedem gleichaltrigem Jungen die Gewissheit geben, dass diese Mädchen unerreichbar sind, werden auf und zu geklimpert, in der Hoffnung, die Pferde erliegen ihrem Mädchencharme. Vielleicht wechseln die Moden, doch die Situation bleibt gleich.

 

 

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Weiterführend → 

Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421