Im Sekretariat

 

Der Direktor zeigt auf das Modell eines Berges. Auf verschiedenen Höhen stehen in einer Felswand meine Verwandten, die ganze Familie, mein Vater, meine Mutter, Grandmère, Grandpère, Tante Henny, Tante Mathilde, … und alle meine Freunde, Arthur, Peter, Walter, Rainer, Brack … Dicht unterm Gipfel entdecke ich meinen Kopf. Auf kreisrunden Sockeln stehen wir alle da wie römische Kaiserbüsten. Oben aus weißem Marmor ge-hauen, weiter unten aus dunklem Holz geschnitzt.

Das ist noch gar nichts, sagt der Direktor, schauen Sie mal hier!

Er tritt zurück, ein Dreimaster segelt durch das Zimmer, das sich plötzlich schwarzblau färbt. Das Fenster hinter dem Direktor fällt ins Wasser. Der Sturm bläht die Segel prall, das Schiff schwankt in stürmischer See – und am mittleren Mast hängt der gefesselte Christus. Die gekreuzten Füße hoch über dem Deck. Auf dem Haupt trägt er keine Dornenkrone. Die Haare flattern im blauschwarzen Himmel mit weiß blitzenden Schlitzen. Ich kann meine Augen nicht losreißen von dem Bild, ich höre das Rauschen, das Tosen und Toben der Luft, die unten das Wasser peitscht und oben die Haare des Mannes, während der Direktor mit lang ausgestrecktem Zeigefinger den langsam fallenden Kopf fast berührt. Ist es der Arm des Direktors? Ich sehe ihn nicht mehr, auch die Theke ist unter mir versunken. Ich steige empor. Durch nichts getragen, schwebe ich über dem Boden, der Raum löst sich auf, und ich schaue von oben auf das Schiff, die Masten, die weiße Haut, die schäumenden Wellen des aufgewühlten Meers.

Das bin nicht ich, der da am Mast hängt. Aber der Traum hat mit mir zu tun. Da ist der Berg, den wir bestiegen, bis wir erstarrten und Vergangenheit wurden – und da ist das Schiff eines anderen Lebens. Aber nun wird der Berg Ararat vom Schwarzen Loch verschluckt, und auf einmal ist da ein Licht, das auf den Gefesselten fällt. Ich will nicht sterben.

 

 

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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.