Moonwalk

 

Ein leichter Wind trieb die Kastanien-blüten über die Gehsteige der Alleen. Der blau schimmernde Asphalt der B9 schlug Wellen. Ich fuhr zu Brack nach Mehlem in die Gelateria. Das war im letzten Sommer. Die Straße war das Eis-meer, ich fühlte mich zurückversetzt in die Kinder-tage, wo ich mit dem Roller über die Steinplatten des Bürgersteigs fuhr und mir vorstellte, ich sei ein Flugzeug. Ich sah die Welt von oben, unter mir die Lokomotive, die ich führte, ich sah durch das eiser-ne Bullauge auf Dampfkessel, Schornstein und den fernen Horizont, in den die Schienen hinein wuch-sen, und spürte über mir das Flugzeug, stieg wieder hoch in die Lüfte und flog über der langen Rauch-fahne meines Zuges irgendwo in Turkestan. Das Auto glitt an Eisschollen vorbei. Rechts dahinter der Kiosk aus Kindertagen, wo ich jeden Freitag die Micky Maus kaufte. Dann raste ich auf dem Rad nach Hause, rannte in mein Zimmer, warf mich aufs Bett und las das neueste Abenteuer, das Donald, Tick, Trick und Track erlebten. Jetzt stand dort kein Kiosk mehr, sondern eine Tankstelle. Die rote Ampel an der Hochkreuzallee riss mich aus meiner Gedankenwelt. Vor mir der Godesberger Tunnel und das schmale, immer fragende Gesicht von Carsten Brack. Der hatte mich angerufen, er wollte mit mir in Gorkis Nachtasyl gehen. Es schien ihm in den letzten Monaten deutlich besser zu gehen. Er kam seltener zu spät zum Treffen. Aber in Bracks Wohnung lagen immer noch Zeitungen, zerfetztes Papier, Zeitschriften, Bücher, Prospekte auf dem Boden … Schorfeis. Nur im Flur blieb zwischen den übereinander gestapelten Kartons eine enge Gasse zum Badezimmer. In der Küche standen unabgewa-schene Teller, Gläser und Töpfe auf der Anrichte, der Spüle, im Herd und auf dem Fußboden herum. Im geöffneten Kühlschrank brannte Licht in eisiger Leere.

In unserer Schulzeit schrieb Brack intelligente Interpretationen von Benn-Gedichten, er las die neuesten Romane, berichtete vom Theater, gab Anregungen, Nietzsche, Sartre, Beckett, und er war ein Macher, er lenkte Diskussionen, redigierte die Schülerzeitung und analysierte in kristalliner Spra-che den Alltag und die Innenräume der Köpfe, die ihm begegneten. Er trug italienische Lederschuhe, schwarzgrau gescheuerte Jeans und feine Schals.

Jetzt aber schluckte er schon seit Jahren Aufputsch-mittel, die er sich mit gefälschten Rezepten besorg-te, trank eine Flasche Wodka nach der anderen, griff oft sogar nach beidem, Alkohol und Amphetami-nen.

Ich fuhr durch den Tunnel unter der Stadt. Die Erinnerungen an die letzten Monate wurden greller. In meinem Kalendertagebuch hatte ich notiert:

„- – – Brack ruft an. Er ist zurück aus Frankreich. Er pendelt zwischen Sucht und Selbstdisziplin. Manch-mal redet er von neuem Sinn, von Wende. Doch bald ist er wieder niedergeschmettert. ‚Es wird alles besser’, sagt er. (Bis zum nächsten Absturz.) Sein Körper wirkt immer noch zäh, der Kopf funktio-niert. Aber er hat keine Kraft, er zieht sich von allen Menschen zurück. (Ich schau da nicht durch.)

Geniepläne in der Jugend, von der Mutter ge-pflanzt. Der Vater, Kurarzt im Nordschwarzwald, fordert Leistung und Erfolg. Aber Bracks Antrieb ist zu schwach. Die Mutter, Ärztin in der Kurklinik, verschafft ihm die nötigen Psychopharmaka. Dann das Medizinstudium in Bonn. (Er hat mich überholt, das war klar.) Alles läuft wie am Schnürchen.

Aber eine totale Lähmung, hervorgerufen durch einen Selbstversuch mit einem neuen Medikament, wirft ihn um. Die Lähmung geht nur langsam zurück, bleibt in Händen und Füßen stecken. Brack geht am Stock. Chirurg kann er nicht mehr werden. Er liebt die Frau nicht, die er aus Langeweile heira-tet. Er liebt die Freundin seines Lebens, mit der er in der Oberstufe Theater spielte, sie Antigone, er Kreon – aber nach der Schulzeit ging Kreon in den Norden und Antigone blieb im Süden. Er heiratete, nachdem sie geheiratet hatte. Ihre Ehe ging schnell zu Bruch. ‚Ich lebe wie in einem Gedicht von Heinrich Heine’, sagt Brack immer wieder zu mir.

Brack läuft durch ein Labyrinth der Sinnlosigkeit. Der Körper vollgepumpt mit Antidepressiva. Antigone kriecht wieder in seinen Kopf, in seinen Körper. Er verkommt innerlich und äußerlich, trennt sich von Frau und Kind, zieht aus. Zwei Mal fährt Brack sein Auto zu Schrott und sich selbst fast zu Tode. Aber zum Selbstmord ist er zu schwach. So lebt er dahin. Ohne Ziel, ohne Richtung. Brack wird ein verzweifelter Kauz, der sich im Grotesken einrichtet, in zufälligen Belanglosigkeiten, ein Gefangener seines Relativismus, mit dem er sich und das Absurde rechtfertigt. Er glaubt an nichts, auch nicht an die Freundin. Nur mühsam richtet er sich her für kurze Tage nach langen Nächten, in deren Stumpfsinn er verkommt. Er ist neugierig auf alles, doch alles langweilt ihn. Alles ist nichts, aber das Nichts ist nicht alles, hofft er. Sein Körper ist ausgemergelt. Er dämmert durch den Tag in die schwarze Nacht. Er verzettelt sich in faden Gedankenspielen. Ein Spiel mit wechselnden Regeln, die er wieder verwirft, wenn sie ihn binden. Nichts hält ihn, kein Ernst, kein Glaube. Seelentumor.

Da geht er. Die schwachen Füße halten ihn nicht. Er schwankt, wenn er steht. Er stolpert und fällt. Er schlägt die Zeit tot. (Ich weiß nicht, wie bewusst ihm das ist. Wer weiß das schon.) Bracks Leben ist kalt. Er weiß, der Tod ist unberechenbar, das Leben auch, absurd das alles, relativ und ganz egal. Kein Schrei von innen, abgesoffen die innere Stimme, taub die Ohren, alles erstickt. – – -“

 

 

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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.