Anton Bruckner – Ein Charakterbild

 

Die folgenden Seiten bringen meinen Dank an ein Musikerdasein dar, in das zu versenken mir während bald vierzig Jahren oft das Innigste und Gewaltigste des eigenen Lebens war. Poetendank – Laiendank. Selbst vertraute Freunde und Kameraden haben in dieser langen Zeit kaum erfahren, was der Meister mir bedeutete und was er in mir vollzog. In der Verehrung der Größesten aus allen Künsten waren wir einig oder belagerten uns doch im Kampf um die Wahrheit – dieser Eine stand draußen in der Kälte oder sollte abseits in der lauen Wärme warten, wo er mit anderen teilen und schlimme Vergleiche ertragen mußte, falls er mit seinem Namen berufen wurde. Ich habe geschwiegen, wo ich Widerstand gegen Bruckner auch nur witterte, weil ich den Verklärten und Unversehrbaren nicht kränken lassen wollte, denn ich hatte eine Empfindung, als wäre er noch verletzlich, wenn ein Schimmer oder Klang seiner Seele in einem anderen noch lebenden Fleisch und Blute verweilte. Es war wie eine tröstliche Genugtuung, seine irdischen Leiden am Abglanz seines Einwirkens auf solche, die er gewonnen und gefeit hatte, fortgesetzt zu sehen. Als wäre er, indem man diese demütigte, über seinen irdischen Wandel unter den Feinden und Spöttern hinaus noch weiter zu demütigen gewesen! Daß der Verehrer Bruckners ein Schwärmer, Eigenbrötler, Fanatiker oder ein Mann mangelhaften Geschmacks und allzu genügsamer Bildung und Kenntnis hieß, das ist lange her. Aber es war.

Es ist noch heute vielfach so, wenn auch unter höflicheren Formen. Da heißt es: Man verstände zu wenig von Musik, um sich über die Bezirke privater musikalischer Vorliebe nach dem schwerer Zugänglichen hinauszubemühen. Man möge sich dem immer verdächtigen, allzu massiv gewordenen Jubel der Überzeugten nicht als Nachzügler anschließen. Man bedauert plötzlich, auch in aller übrigen Musik nur ganz ungefähr zu verstehen, was sie meine. Gewisses tue dennoch erquicklich wohl, Gewisses reiße hin, Gewisses sei von vornherein zuwider. Man fürchtet sich vor der Überheblichkeit des Analphabeten. Man gibt sich als Krüppel, ohne bresthaft zu sein.

Die Widerstrebenden befinden sich in bester Gesellschaft. Nicht, als ob es unnatürlich wäre, daß die meisten bedeutenden Musiker aus Bruckners Lebzeiten ihn nicht voll erkannten oder sich wider ihn sträubten. Auch heute fühlen sich ernste Könner – Schreiber, Spieler, Dirigenten – vor ihm und nach ihm zu Hause, bei ihm aber nicht. Vortreffliche Hörer, die sich wie sie im Technischen der Faktur auskennen, wenden ebenfalls ihre Fähigkeit lieber an andere als an ihn.

Man sollte meinen, deutlicher, als es durch eine Schar hochragender Gelehrter geschehen ist, könne nicht bewiesen werden, daß bei Bruckner sogar die Technik nach großäugiger Logik, Dichtigkeit, Gedrungenheit dem Zepter des Genies gehorcht, also der Bezirk, wo sonst das Talent sich fürsten mag; und an keinen anderen Meister hat die Wissenschaft mehr technische Leistung aufschließen können als eben die äußerste. Aber beweisbar in der Kunst ist nicht einmal die Richtigkeit des Einmaleins, weil es, für sich allein, die Kunst nicht berührt. So lassen sich in all ihrem Zubehör, wo nicht die Zeichen, doch immer die Werte leugnen.

Hinwieder gibt es Hörer, die, obwohl im Abstrakten wenig bewandert, alle Melodien Bruckners singen, pfeifen oder sich doch sinnlich vergegenwärtigen können, genau wie die Mozarts, und die Verlauf und Sinn seiner Symphonien so seelenheiter auswendig wissen wie das Gefüge der Symphonien Beethovens. Manche lassen sich hinterher eine Analyse vorführen: es wäre unanständig, einen empfangenen Hort nicht ordnen zu lernen. Aber sie vergessen nicht, daß niemand eine musikalische Analyse hören und niemand sie spielen kann, selbst der nicht, der sie gemacht hat.

Demnach gründen Liebe und Nichtliebe Bruckners anderswo. Man verneigt sich oder man versteift sich vor seinem Charakter. In ihm vollzieht sich das mystische Schauspiel, wie ein Wesen bei schlagendem Herzen aus der Zeit ins Zeitlose, aus dem Raum ins Unräumliche, aus dem Menschlichen ins Welthafte übertritt. In allen Schichten seines Daseins waltet der Zug von der Mitte der Person in die Mitte des Ungeheuren. Dem zu folgen ist unser einfaches Glück.

Es wäre schlimm für mich, wenn ich nicht Lehre angenommen hätte, wo so viel gute Lehre am Wege liegt, historische, philologische, hermeneutische. Bruckner ist zu groß, um ein Geschenk nur an die Musiker, nur an die Musik zu bleiben. Auch die größten Dichter greifen über die Schrifttumskundigen und über das Schrifttum hinaus. Darum wenden wir das schwierigere »Im Anfang war« bald um in das wandernde »Uns ist in alten Mären« oder »Es begab sich«.

Erstes Stück

Über einen Bach bei der niederösterreichischen Schloßherrschaft Wallsee südlich der Donau führte seit Urgedenken eine Brücke. Nach ihr hieß der älteste geradenwegs auf Anton Bruckner führende Ahn im Mannesstamm Jörg Prukner »an der Prugh auf seiner hueb« (Hufe). Jörg war um 1400 geboren. Vielleicht sind die Brückenbauern aus Franken eingewandert. Sie saßen dann die Jahrhunderte hindurch um die Kirchen von Sindelburg und Strengberg auf dem Pruckenhofe, dem Pyragute, in dem Markte Oed bei Amstetten, als Bauern ursprünglich, später als Gastwirte, Böttchermeister, Steinbrecher und andere Gewerbetreibende, auch als Ratsherren, manche von ihnen geadelt. Und erst Bruckners Vater Josef wurde in Oberösterreich geboren. Sie überdauerten in der Heimat viel kriegerische Not, Aufstände des Landvolkes, Türkeneinfälle, Pest und Pocken. Wir mögen Getöse, Gestöhn, Geschrei und Gelächter aus ihrer Zeitentiefe heraufhallen hören, aber wir vernehmen keinen einzigen Ton einer Musik zu Trost oder Trotz, die einer von ihnen erfunden hätte.

Der Aufbruch in die Nähe der zu Klang verklärten Schöpfung geschah durch Bruckners Großvater, – freilich nur in die Nähe. Er hatte zwar das Böttcherhandwerk erlernt, doch gehorsam dem Drange zum Lehrberufe und damit zur Armut, ging er, ein sechzehnjähriger Jüngling, zur Vorbereitung nach Linz und wurde nach langer Helfertätigkeit in dem zwei reichliche Stunden von Linz entfernten Dorfe Ansfelden als Schulmeister ansässig. Sein Sohn Anton, der Ältere, folgte ihm im Dienste und heiratete 1823 Theresia Helm, die Tochter eines Amtsverwalters, ein aus Kreisen wohlhabender Geschäftsleute in der Gegend von Steyr stammendes Mädchen. Theresia gebar am 4. September 1824 ihren Sohn Anton, unseren Meister, als erstes von elf Kindern. Und auch dieser tat Schulmeisterarbeit beinahe bis an seinen Tod, wenn man das zwölfjährige Organistentum um die Lebensmitte abrechnet. Dabei bleibe unvergessen, daß es der alternde und krankende Musikprofessor in der Hauptstadt seines Landes bitterer hatte als der jugendliche Anfänger in weltverlorenen und weltbehüteten Dörfern. Zuerst die Trockenheit im Kinderschulbetrieb, nachher die Nüchternheit in der theoretischen Lehre und immer die Sorge und immer der Mangel trachteten seine menschliche Fülle von der Grenze des Klangreiches zu verbannen, in dem sein Geist doch mitteninne wohnte und mächtig war. Wie sein früher Ahn Jörg hauste auch er nach dem Namen, den er vom Schicksal empfangen hatte, gleichsam an einer Brücke, aber das andere Ufer war so fern, daß die Füße nicht hinführten und daß wohl das Jenseits in das wesensgleiche Diesseits herüberkommen oder das Diesseits sich ganz in das ihm wesensgleiche Jenseits verwandeln mußte. Der Rhythmus, der sich durch die sämtliche gültige Musik Bruckners zieht und der zwei Viertel mit einer Triole von derselben Dauer bindet, mutet wie ein Sinnbild dessen an. Manchmal steht die Zweiheit am Anfang des rhythmischen Gebildes, manchmal die Dreiheit. Die Zweiheit schreitet auf festem Grunde, die Dreiheit – so ist es bemerkt worden – schwebt und löst sich ab, und doch haben sie nur verbunden diese Wirkung. Bis zur wesensaufschließenden unwillkürlichen Formel und gar zu den riesigen durch zwei und drei teilbaren Satzfügungen der Symphonien war es ein langer Weg. Gehn altbayrische Volkstänze, die »Zwiefachen«, und manche Weisen der »Meistersinger« Wagners im »Brucknerrhythmus«, so ist der Rhythmus hier dennoch nicht von Bruckners Puls getrieben.

Bruckners Vater und Großvater und ihre Amtsbrüder wollten gewiß überhaupt keine frei geäußerte Musik treiben, als sie von Katheder und Kirchenchor Musik machen mußten. Trauungen und Begräbnisse befahlen ihnen, nicht Genien und Dämonen. Sie ließen sich ergeben einspannen, wie man Ackergäule vor den Wagen spannt. Zogen sie freudig an, so bewies sich die bewegungsfrohe Art aller Kreatur, wiewohl die Art der Kunst davon nicht unterschieden ist, wenn sie zur Herrlichkeit gelangt. Der Linzer Domkapellmeister Franz Xaver Glöggl und sein Sohn schrieben in den zwanziger Jahren, daß der musikalische Gottesdienst vor allem den kirchlichen Erlassen zu folgen habe. Er solle »gleichförmig, anständig und nach Vorschrift der Kirche und des Staates gehalten werden« (Robert Haas). Gefordert wurde Kenntnis der zerstreuten Verordnungen neben Kenntnissen in der lateinischen Sprache und Unterscheidungskraft bei der Auswahl angemessener Stücke: beigegeben wurden dem Handbuche ein Kalender wie die ausführlichen heiligen Texte Roms, insgleichen aufreihende Erklärungen der kompositorischen Gattungen. Empfohlen wurden sonderlich geeignete Tonarten für Andacht, Glaube, Buße, Bitte. Viel war den Wächtern über den Vollzug der Feiern und Weihen schon gewonnen, wenn die Festmusiker sich einem sauberen Schema einpaßten. Das strenge »Du sollst nicht!« und das zuredende »Du sollst!« waren damals offenbar nötig, denn nach ernstem Zeugnis war der Landschulmeister oft träg und anmaßend, und mehr als einem gefiel es, Possengassenhauer selbst in die Musik der Messen zu mischen.

Der kleine Anton Bruckner wird von einer verborgen spürbaren Lenkung zur Gotteszucht bald berührt worden sein. Pfiff er auch immer etwas, »was man nicht gekannt hat«, und fuhr er in seiner Sehnsucht, Gutsbesitzer zu werden, auf einem bockbespannten Wäglein Heu zu Stalle, ritt er das Steckenpferd und machte den Soldaten, so predigte er daneben gern vom Kasten herab und war ein barscher Vertreter seines Vaters im Unterricht der Kleinsten.

Zur Zucht gehörte ihm offenbar von Anbeginn die Pracht: beide gaben einander wechselseitig den Sinn. Es freute ihn, das Spinett des Vaters »furchtbar« zu spielen und im Kirchenchor mitzusingen, zumal wenn die Musik durch Trompeter und Pauker von außerhalb Zuzug erhielt. Zweifellos empfand er keine Lockung des Unerlaubten, bloß weil ihn kein Muckertum lockte. So liefen, als er elfjährig bei seinem damals zweiundzwanzig Jahre alten Vetter Johann Baptist Weiß in Hörsching den Anfangsunterricht im Orgelspiel und in der Harmonielehre erhielt, hier und da stolze Ungewöhnlichkeiten des Klanges unter, als er seine ersten eigenen Orgelpräludien aufschrieb. Erklärt man das Auffallende als Ungeschick, so wählt doch das Ungeschick das eine Mal täppisch, das andere Mal glückhaft und neugierig.

Hier griff die Neugier für einen Augenblick in die Reifezeit Bruckners voraus und tauchte dann sehr lange nicht mehr auf. Der Knabe sättigte sich an der Musik der österreichischen Schule, lernte Stücke von Haydn und Mozart kennen und ahmte den Stil des in der Umgebung von Hörsching so berühmten Vetters und Firmpaten nach. In Weiß muß er zum erstenmal in seinem Dasein die Macht der Persönlichkeit gespürt haben, der es verliehen ist, über das Bekannte und Gegebene in die eigene Sphäre hinaufzureißen. Besaß er nicht selbst schon Macht, wenn er so jung dermaßen gefördert war, daß er selbständig und gut zum Gemeindegesang spielte? Würde die Macht nicht wachsen, wenn er den Generalbaß anging, wahrscheinlich mit einem Treuversprechen bis ans Grab, während Altersgenossen noch Bubenspiele trieben? Der Geist des Baptist Weiß begleitete Bruckner fort und fort, als er längst sein Haus verlassen hatte. Weiß endete sein Leben durch Selbstmord, Bruckner bewahrte Notenhandschriften des Toten als Reliquien und bemühte sich, seinen Schädel dazuzufügen.

Der Aufenthalt in Hörsching war die magische Erweckung einer Wesensschicht. Schnell folgte die vulkanische Erschütterung einer anderen, tieferen.

Herbst 1836 mußte das Kind Anton Bruckner nach Ansfelden zurück, um die Ämter seines unheilbar schwindsüchtigen Vaters zu betreuen, Sommer 1837 starb der Vater. Mit dem Priester hatte der Sohn die letzte Ölung verrichtet, und der Schmerz hatte ihn dabei ohnmächtig hinsinken lassen. Oder war es die Größe des Abschiedswunders, das ernste Gesicht des Erdgeistes, der plötzlich erschien und etwas raunte, was spät den ersten Satz der achten Symphonie beschloß und was Bruckner, von der eigenen Klangvision erschüttert, in die Worte faßte: »Das ist die Totenuhr. Die schlägt unerbittlich, bis alles aus ist.« Nichts sonst aus dem Leben Bruckners ist bezeugt, was ihn so bis zum Verlöschen der Sinne ergriffen hätte wie das Sterben des Vaters. Selbst die Kunde vom Tode Wagners, den er ehrte wie keinen Sterblichen, traf ihn milder. Er hatte sich da schon zu dem »non confundar in aeternum« – ich werde in Ewigkeit nicht zuschanden werden – durchgerungen. Dieser Trost stand, vorher für die Kirche gesungen, nun von Anbeginn im Adagio der siebenten Symphonie, und als in den Abgesang des Satzes die Trauerbotschaft brach, lösten sich aus Bruckners Augen befreiend die Tränen: Wie hab‘ ich da geweint, ach, wie hab‘ ich geweint!

Der Abschied des Vaters aber von der Erde zeigte ihm zum ersten Male das Unbegreifliche einer unentrinnbaren Ordnung. Der Riß nach drüben zeigte wohl noch in grausige Leere. Hatte er auf seinen Versehgängen schon Sterbende gesehen: hier sah er die noch fremde Nacht der Welt. Zudem zertrümmerte ihm dieser Tod die Gnade des Elternhauses – denn sie ist nicht zu verpflanzen – und den Rest der Kindheit. Das Schicksal sprach zu ihm: Nun siehe du zu! Es riß ihn zunächst in Extreme, in eins der Herrlichkeit und eins der Dürftigkeit, die beide märchenhaft anmuten, wenn man sie sich recht zu vergegenwärtigen sucht.

Die Mutter zog mit ihren kleinen Kindern nach Ebelsberg, für ihren Anton aber wandte sie sich an den eigentlichen Fürsten über die Heimat, den Prälaten in St. Florian, Propst Arneth. Dieser nahm Bruckner als Sängerknaben in das Chorherrenstift der Augustiner auf. Durch 800 Jahre war die Abtei an Glanz und Macht gewachsen, im vierten Jahrhundert wurde der Grundstein der Krypta gelegt. Und ein Dreizehnjähriger war nun wie am Schopfe der kahlen Enge und Armut entrückt, um an seinem Teile im prunkvollen Kirchenregiment mitzuwirken. »Denn die Sängerknaben«, so unterrichtet uns Orel, »zählten zu den nächsten Angehörigen des Stiftes nach den geistlichen Herren, sie waren gleichsam die Kinder einer großen Familie, an deren Spitze Seine Gnaden, der mächtige Prälat, als Vater stand. – Wer nicht Gelegenheit hatte, eines der reichen Stifte Österreichs zu besuchen, kann sich schwer eine Vorstellung machen von der Breite, dem feudalen Glanze, der machtgegründeten Ruhe und Sicherheit, die äußerlich und innerlich das Leben an diesen Stätten durchströmen.« – Vor dem Krummstab als dem Symbol der höchsten Macht habe sich Bruckner hier zuerst und dann zeitlebens gebeugt, und sogar den Kaiser, als er diesen kennengelernt hätte, habe er davor geneigt gesehen. »Auch die Wiener Hofkapelle ließ immer noch den Bischofsstab vor dem Zepter den Vorrang behaupten.« Ein ungeheures Schloßmassiv, in sechzig Jahren erbaut, unter dem der für das Christentum gefallene römische Oberst Florianus den langen Schlaf schlief, war in St. Florian der Sitz dieser Macht. Ihr Herz jedoch pulste für Bruckner in der von Franz Xaver Krismann erbauten Orgel. Sie zählte »59 Registerzüge, von denen aber mehrere mit zwei bis drei Pfeifenregistern besetzt« waren, ungerechnet die drei- bis zwölffachen Mixturen, wodurch wenigstens 74 »vollständige, klangbare Register« entstanden. Im Hauptmanual waren »2200 Pfeifen, im mittleren 1592, im oberen Manual 758, im Pedal 680«. Die größten zweiunddreißigfüßigen Zinnpfeifen wogen an die 500 Pfund. Die Orgel war ein taugliches Organ für den gesamten von innen erklingenden Kosmos, geräumig genug für alle Mysterien, gelassen genug auch für die überkreatürlichen Leidenschaften, gerüstet für den Empfang des brausenden Heiligen Geistes, eine Berge allen Lichtes und allen Dunkels. Ohne von sich zu wissen, ruhten Urbilder der Symphonien Bruckners in ihr. Doch als der Meister sie erkannt und befreit hatte, war es eine Befreiung über das vorstellbare Maß geworden. Sie hatten nicht mehr die Seele der Orgel, sie genossen die Freiheit eines Raumes, wo ein Träumen und ein Schluchzen gleicher Art und gleichen Ranges waren wie Nebelzug und Wolkenflor. Kirchlich und weltlich waren darin verschollene Rufe. Die Tongestalten erinnerten an ihre Florianischen Vorgestalten nur noch durch die Würde und Souveränität ihrer Haltung, durch die Neigung zu jäher Stille wie zu jäh gesteigerten Gluten und unbändigen Umbrüchen, sowie durch die flözweise Lagerung der Klangmassen. Zu ihrem Ursprung ist Bruckner nie zurückgekehrt, nur zur Stätte ihres Ursprungs.

Im Blick auf den vollendeten Weg zum Gipfel gleitet das Auge behutsamer über hinterlassene Spuren einzelner Schritte, als es den Stapfen auf geraderer und bekannterer Straße folgen würde. Es ist, als sollten die Spuren zu leuchten beginnen. In den ersten Jahren zu St. Florian leuchten sie nicht. Bei dem Schulleiter Michael Bogner empfing Bruckner Wohnung und Volksschulunterricht. An Klavier und Orgel wurde er von dem tüchtigen Stiftsorganisten Anton Kattinger weitergebildet, Gesang und Violinspiel lernte er zuerst bei einem gewissen Raab, dann bei dem Geiger Franz Gruber, der bei Schuppanzigh, dem Violinlehrer Beethovens und führenden Spieler der Beethovenschen Quartette, ausgebildet worden war.

Das alles war Nebenwerk und allenfalls notwendiges Hilfsmittel bei dem Trachten Bruckners, ein Schulmeister zu werden wie der Vater. Für die Vorstufe dazu, die Präparandie, bereitete ihn der Schulgehilfe Steinmayr vor. Der war also einstweilen sein wichtigster Hauptlehrer. Und selbstverständlich durfte er nicht etwa an der großen Krismannschen Orgel üben: an der Seitenorgel tat er es um so eifriger und bis zum Ärger seines Violinlehrers.

Am 1. Oktober 1840 war er in Linz zum Antritt des Präparandenkurses und wurde mit lauter »sehr gut« und »gut« im Zeugnis vom 16. August 1841 Kandidat des Gehilfentums für Trivialschulen. Abgesehen von der musiktheoretischen Förderung durch August Dürrnberger, den Verfasser eines von Bruckner stets hochgeschätzten Generalbaß-Lehrbuches, abgesehen von dem Gewinn, Webers Euryanthe-Ouvertüre und Beethovens vierte Symphonie gehört zu haben, trug er ein dürres Bündelchen Wissen aus Linz.

War denn das Überwältigende an St. Florian nur eine feierliche Phantasmagorie gewesen, und die Papst-, Prinzen- und Kaiserzimmer mit ihren farbigen Seidentapeten, Gemälden, Gobelins, die hunderttausendbändige Bibliothek, die weißen weiten Stiegengänge mit ihren Prunkstukkaturen wichen zurück vor einem zu Knechtsmühen bestimmten einsamen Schelm? Wir glauben in der Tat, die Berührung jener Dinge hatte etwas Halbwirkliches, kühl Demütigendes, und erst allmählich erstarkte das Phantom zur Wirklichkeit. Für das Glück, außer in der Sehnsucht, war es zu früh, für die schwere Zubereitung in der Verbannung war es Zeit.

Ihre erste Station hieß Windhaag. Das Dorf lag an der Maltsch gegen die böhmische Grenze. Ein Großfeuer hatte es kürzlich verwüstet. Seine zweihundert Bewohner hausten abgeschnitten von jedem Verkehr. Das Lehrerhaus drohte einzustürzen und wurde geschlossen. Die Schule wurde verlegt, das neue Haus war noch nicht zu Ende gebaut, als der Gehilfe Bruckner dort den Dienst antrat. Er erhielt monatlich einen Gulden »Münz«. Das geizige Essen mußte er morgens und mittags gemeinsam mit einer Dienstmagd, die ihm zuwider war, verzehren. Sein Vorgesetzter, der Lehrer Fuchs, durfte mit ihm tun, was ihn gut dünkte. Früh um vier Uhr mußte er den Tag anläuten und mähen, dann den Pfarrer ankleiden, Orgel schlagen, Wein holen, den Geistlichen begleiten, den Kleinen etwas beibringen, für Fuchs viele Noten schreiben, nach der Schule Heu wenden, dreschen, ackern, Kartoffeln graben, Mist laden, abends zum Gebet und Hausschluß läuten.

Der Pfarrer forderte, empfing und bescheinigte Unterwürfigkeit, obgleich er kein Tyrann war. Damit möglichst viele an der Erniedrigung des Gehilfen mitwirkten, war es so eingerichtet, daß er bei Festen, bei denen er als Gast ausgeschlossen war, zum Tanze fiedeln mußte. Nicht genug damit; er hatte die Brautpaare auch fiedelnd von der Kirche nach Hause zu begleiten.

Bruckner tat es bestimmt ungern, weil dieses lakaienhafte »Herumdudeln« ihn von der Musik abhielt. Ein Dorfbewohner, der sein Leben ansah, war der Meinung: lieber ein Schuster als ein Schullehrer. Bauern sind immer Könige und der milchbärtige Driller des Nachwuchses ein hereingeschneiter Hans Naseweis.

Musik nach Herzenslust betrieb der Fremdling freilich auch, aber die mochte Fuchs an Bruckner nicht leiden, weil Bruckner mehr wollte und gewältigte als er. Dicht unter der Demut lauerte die musikantische Unmäßigkeit. Fuchs hatte um sein Spinett Angst, er jammerte, Bruckner werde ihm die Orgel zusammenschlagen. Er schrieb ihm auch nachher nichts über sein Spiel ins Zeugnis. Wenn er ihn nicht in seine Unterrichtsstunden sperrte, wo er für die Kinder Kielfedern schnitt, lief Bruckner querfeldein und spann harmoniesüchtige Hirngespinste. So sahen ihn die Landleute und nannten ihn bald den halbverrückten Gehilfen. Er brachte die Kirchengemeinde durch seine sonderbare Liedbegleitung in Verlegenheit. Als alte Windhaager später nach ihm ausgefragt wurden, gaben sie widersprechende Auskunft über seine Leistungen. Kaum die zweite Geige und das Einfachste auf der Orgel habe er ordentlich spielen können, hieß es einmal, und das andere Mal, er sei ein ungewöhnlicher Musikus gewesen. Wie dem sei, an unermüdlichem Auftrieb kann es ihm nicht gefehlt haben. Auch nicht an unermüdlicher Lust: Alle Abende geigte er mit dem Webersohne Franz Sücka; dieser spielte die erste, Bruckner die zweite Violine. Zur Faschingszeit gesellte sich ihnen der Vater Sücka mit seiner Trompete. Dann wurde reihum durch die Spinnstuben gezogen und die ganze Nacht hindurch gegen kleines Entgelt zum Tanze aufgespielt. Auch eine Klarinette war im Dorf, und der Arzt blies Flöte. Das außeramtliche Musizieren erlöste Bruckner in abgesparten Dunkelstunden aus den Fesseln. Und er ging auch in den aufgegebenen Verrichtungen über das Amt hinaus. Den Kindern erzählte er von dem Lauf der Himmelskörper. Franz Sücka bereitete er vor Tagesanbruch, daß es keiner merke, zum Präparandenkurse mit vortrefflichem Erfolge vor.

Wir müssen aus alledem seine Subordination zu begreifen suchen. Er hatte, wie jeder in seinem Alter, eine Fülle niederer und höherer Dinge kennengelernt. Wie nicht jeder, besaß er die Gabe der Unterscheidung. Das Größte unter dem, was er bisher gesehen hatte – sinnlich, geistig war noch einerlei –, war die Kirche. Für andere war sie eine Anstalt in den Dörfern und Städten, für ihn die Pfalz eines Reiches, das alle Reiche einschloß. Manche sahen auf die Kirche von einem Bauernhofe, aus einer Weberstube, er sah aus der Kirche auf Höfe, Felder, Gemächer, und sie waren alle in ihr. Sein Zutrauen zu den weltlichen Dingen brauchte deshalb nicht karger zu sein als das der anderen, es konnte sogar wärmer, unbefangener sein, da sie in einer einheitlichen Regierungsplanung geborgen waren. War seinem Anblick das Ganze zuteil geworden, so brauchten Wunsch und Arbeit nicht den Teil zu erstreben, der ihm nicht von dem Ganzen zugebilligt war. In dem Ganzen war seine Sehnsucht bereits am Ziel, außerhalb des Ganzen mühte sie sich in Last und Hitze. Darum stand ihm, was zur Kirche gehörte, unter dem höchsten Recht. Die Priester wurden ihm zu Symbolgestalten. Er grüßte in ihnen über Schwäche und Fehlbarkeit hinweg das unbefleckbare Amt, und davor erlischt der Eigenwille. Vor dem Sinnbild verliert der Wille die Macht; Wille kann es nicht einmal annehmen, geschweige denn es zerstören: er würde nur sich zerstören.

Nun wurde Bruckner aber von einem Willen umgetrieben, der so stark war wie sein Glaube. Der Glaube war das Statische, der Wille das Motorische seines Wesens. Und auch das Motorische zielte auf die hohen Dinge. Doch mußten diese, wollten sie für die Erfassung durch den in Arbeit, Fleiß, Sehnsucht, Traum umgesetzten Willen geschickt bleiben, selbst arbeitshaltig, fleißhaltig, sehnsuchtshaltig, traumhaltig sein. Sonst war die Vereinigung, die Identifizierung nicht zu erreichen. Den gewordenen Symbolen der Kirche setzten sich eigene werdende entgegen, den überkommenen ankommende, den innerlich und äußerlich sichtbaren innerlich und sinnlich hörbare. Sie waren erst dunkle Visionen des Geistes, sie duldeten kein Säumen und Nachlassen. Darum bückte man sich wunderlich freundlich vor den Hindernissen, um von ihnen nicht gebeugt zu werden. Es war, als bäte der plumpe und auch der jähe Eifer alle Mißgünstigen, die Bahn freizugeben – sie war ja die Bahn des Lebens. Das konnten die Mißgünstigen nicht wissen, und so braute sich bisweilen bei Spott und Fron eine böse Witterung für eine empfindliche Seele zusammen.

Bruckner verlor nach eineinvierteljähriger Tätigkeit in Windhaag die Geduld und verweigerte eine ihm aufgetragene Landarbeit. Propst Arneth von St. Florian, der ihn vielleicht dafür strafen sollte, erbarmte sich seiner. Er kannte ihn und wußte, daß seine Klagen frommer waren als die Anklage. Er mochte seine Liebe zur Tonkunst nicht weiter kümmern lassen und bewirkte Bruckners Versetzung nach Kronstorf, einem Dörfchen zwischen Steyr und Enns. In beiden Städten blühte eine ernsthafte Musikpflege, beide konnten leicht erwandert werden.

Bruckner fühlte sich »in den Himmel« gehoben. Die Mitte des Himmels war das »Speckkammerl«, worin er wohnte, ein enger Verschlag im Schulzimmer. Da zog er Ende Januar 1843 ein. Johann Sebastian Bach zog mit ihm ein: in die Schulstube kam ein altes Klavier, das er bei einem Bauern lieh. Darauf spielte er früh vor dem Dienst und spät bis in den Morgen. Der kränkliche Lehrer Lehofer duldete es gern, und seine Frau, die nach Mitternacht manchmal aufstand, um ihn ins Bett zu schicken, versorgte ihn wie ihr Kind.

In den Städten standen gute Orgeln, in Steyr eine von Krismann, dem Meister des Florianer Werkes. Dort fanden sich alsbald auch Freunde, wie er sie bisher noch nicht gehabt hatte. Plötzlich war unter den Besten sein menschlicher Wert anerkannt.

Der Pfarrhof in Steyr wurde auf Lebenszeit sein Zufluchtsort, wenn er müde und krank war, und er saß im Hause von Karoline Eberstaller über Liedern Schuberts mit einer Frau vor den Tasten, die einst mit Schubert selbst hier am Klaviere gesessen hatte. Nachklänge von daher gingen bald in seine Erfindungen ein.

Bereicherte er in Steyr sein Wissen nach der Seite der Ruhe und Schönheit, so vertiefte er es in Enns nach der Richtung des Ernstes und der Gründlichkeit. Der Organist an der Ennser Stadtkirche, Leopold Edler von Zenetti, unterwies ihn zum erstenmal umfassend in den musiktheoretischen Wissenschaften, wie auch die praktische Hinleitung zu Bachs Choralkunst und zum »Wohltemperierten Klavier« bestätigt. Das Bildnis Zenettis zeigt einen klugen Kopf mit sinnend verkleinerten Augen hoch über dem kräftigen Munde. Er hielt sich an das altertümlich solide Lehrbuch von Daniel Gottlob Türk. Bruckner klärte sich den Wissensstoff in einem Schriftheft, dessen Inhalt Selbständigkeit nachgerühmt wird. Dreimal wöchentlich holte Bruckner neue Aufgaben von Zenetti und brachte die Lösungen manchmal noch am Abend des Empfangstages nach Enns zurück.

Hunderte von Meilen hat er während der zweieinhalb Kronstorfer Jahre für die Mehrung seiner Kenntnis zu Fuß zurückgelegt. Es gemahnt an die Wanderungen des jungen Bach. Dann bestand er mit Auszeichnung die Konkursprüfung für »sistemisierte« Schulen und wurde am 25. September 1845 in St. Florian als Lehrer angestellt.

Wir haben Bruckner nun schon durch eine Anzahl von Dörfern und Städten begleitet und haben ihn immer in deren Kirchen, Pfarreien, Schulen, Wirtshäusern, Rockenstuben und Kammerverschlägen gefunden, niemals recht im Freien. Oder hätte er die Landschaft genossen, wenn er auf den Rainen Notenpapier aus dem Hute zog und die Liniensysteme mit grauen Saaten bestellte? Wenn einer zum Tanz fiedeln mußte wie er an den Sonntagabenden, so reichte das Freie vom Geigenleibe bis an das Ende des Tanzbodens. Wenn einer Dung laden mußte wie er, so reichte es von der Forke bis auf den Wagen hinauf. Wenn einer zu arm ist, um zu fahren, und mehrere Stunden traben muß, nur damit er seine Übungshefte kurz dem Theorielehrer vorzeigen und neue Aufgaben zusammenraffen kann, so hantieren unterwegs seine Gedanken nach gewichtigen Regeln mit Notenköpfen und ruhen kaum neben der Straße in der Sonne, ängsten sich kaum in den Nachtschauern.

Er war damals der Landschaft, die ihn doch besaß und ihm einflüsterte, nicht zugekehrt, nicht abgekehrt, nur den Menschen und ihren Geschäften. Aber alle seine Arbeiten unter Menschen, mit Menschen und für Menschen wirkten an der andern Arbeit, die das Geschick mit ihm vorhatte: ihn den Menschen verlorengehen zu lassen. Er mußte so nahe, derb und handfest bei ihnen sein bis in seine letzten Zeiten, um nicht in raunenden, brausenden, donnernden Klanggewalten ohne Gestalt zerschliffen, zermahlen, zerschmettert zu werden.

Bei der Betrachtung des zweiten Aufenthalts in der Chorherrensiedlung behalten wir vor Augen, wie er ausging: in Friedlosigkeit des Herzens, Schwermut, Flackern des Triebhaften. Sein Leichtes, Freudiges, Lustiges, Tapferes stieg ans Licht, und zugleich senkte und setzte sich das Schwierige und Schwere. Wir haben den Eindruck, das Genie, das vorher schon keimen wollte, habe sich in den Jahren zwischen zweiundzwanzig und zweiunddreißig zusammengezogen und geschwiegen, indessen das Talent sich ausbreitete. Der Fleiß zwar blieb ehrwürdig emsig, die Zahl und der Umfang der Werke schwollen an, Eile, Geduld, Meisterung und Gelegenheit arbeiteten Hand in Hand, das technische Üben und Können erreichte die Kraft hoher Vorbilder, aber wäre Bruckner so jung wie Schubert und noch wie Mozart gestorben, wir Laien wüßten heute nicht viel von ihm. In seiner Spätzeit wollte er das meiste von diesen Kompositionen vernichtet wissen.

Trotzdem sind das Requiem in dmoll, das Libera in fmoll und die Missa solemnis in bmoll darunter. Er lehnt sich manchmal wohl notengetreu an Mozart an, doch auch an Beethovens von ihm damals noch nicht gekannte neunte Symphonie und an Wagners damals noch nicht vorhandenes »Rheingold« haben hineinhorchende Nachfahren gedacht. In seinen Abschriften ging er bis auf Caldara und Händel zurück. Studien zur Religion und in der lateinischen Sprache bei dem Chorherrn Paulitsch zogen den Bildungskreis ins Weite. Vorspiel und Fuge in cmoll für Orgel gemahnt an die großen Beherrscher des Orgelstils. Werden wir nur nachträglich seiner so froh?

Es fällt auf, daß in dem Jahrzehnt vor der wohl schönsten Orgel des ganzen Landes ganz wenige reine Orgelstücke entstanden, wahrscheinlich drei. Die Orgel begleitete Gesänge und Chöre, so das für eine Singstimme geschriebene Lied »O du mein liebes Jesukind«, die gemischten Chöre der sechs » Tantum ergo« und des »Herz-Jesu-Liedes«, ebensooft fand sich ein Orchester hinzu mit einer Vorliebe für mehrere Trompeten und drei Posaunen, in anderen Fällen blieb die Orgel fort, und in wieder anderen auch das Orchester. Die Orgel sättigte in der Produktion die Klangfarben, nichts weiter.

Als selbständigem Instrumente schien, was sie herzugeben geruhte, ihr eingebaut, wie sie selbst eingebaut war. Sie diente beim Nachspielen fremder Meisterwerke und war dem Improvisieren und Phantasieren eines schlagfertig kombinierenden Geistes aufbehalten. Imitationen durch Stimmen und Register laufen und Figuren quirlen lassen, Akkordgedröhn gegen Grund und Gewölbe schleudern, das mußte man immer können, es verachtete die langsame Schreibfeder: diese Kunst munter bis zum Schweißtriefen fortsetzen, hieß schon sie aufbewahren, sie wartete tagtäglich auf ihren Zauberer, es war eine parate und mündliche Kunst, ihr Medium war die triumphale Gegenwart. Das bedeutet: Das Weltkind erwachte auf der Kirchenempore zu seiner Art Andacht.

Drunten tummelte es sich schon ohnehin beim wendigen Schwimmen und Tauchen, es sang den ersten Baß im Männerquartett der Freunde und drehte sich zur Faschingszeit im Tanze. Gern getanzt hat Bruckner, der von Frauen Ungeliebte, zeitlebens, wie er, der vom Gelde Gemiedene, gern im Wagen fuhr. Seine Besoldung stieg jetzt allerdings und verfünffachte sich schließlich ungefähr zu kläglicher Höhe. Aber die Weltlust gedieh. Wenn er und ein Lehrerkollege und der Regenschori und sein späterer Schwager Hueber in den Pausen zwischen den Tänzen anstimmten, mag es etwas aus dem Gebiet seiner bürgerlichen Männerchöre gewesen sein, worin ein »Ständchen« gebracht wird, der »Lehrerstand«, die »Sternschnuppen« und das »edle Herz« ihn bewegt, aber auch ein »Lied an das Vaterland« dargebracht wird.

Denn die politische Märzluft drang bis in die Entlegenheit der Klöster. In Wien hatte der Volksaufstand am 13. März 1848 begonnen. Metternich wurde entlassen, die Einwohnerschaft bewaffnete, die Presse befreite sich. Aus der Gesamtmonarchie wurden Abgeordnete zur Beratung der Verfassung berufen. Wie rasch die Revolution das Land aufrüttelte, geht daraus hervor, daß die Linzer, also Bruckners nächste Landsleute, schon am 19. eine schwelgerische Dankadresse an die Bürger der k. k. Haupt- und Residenzstadt Wien richteten. Sie beginnt: »Muth und Entschlossenheit der edlen Bürger Wiens und seiner Hochschule haben Österreichs Macht neu begründet, uns das erhabenste Geschenk für freie Völker, die Zusicherung einer Constitution, erworben. Das konstitutionelle Kaiserreich Österreich wird Segen bringen dem Kaiser, dem Volke. Kostbar wird die Frucht der Erfüllung sein, sie fordert uns Alle auf, sie treu zu bewachen. Ferdinands Worte sind Wahrheit, unbegränzte Liebe ist die Erwiderung.« Sie schließt:

»Hoch lebe die edle tapfere Bürgerschaft unserer Hauptstadt Wien!«

Der selige Schwung erfaßte auch Bruckner, er schloß sich (nach Schwanzaras Forschungen) der Nationalgarde an und übte militärisch. Da die an Erbe und Eigentum der Grundherren haftende Gerichtsbarkeit, die patrimoniale Rechtspflege, aufgehoben wurde, benutzten auch Männer wie der Stiftsorganist Kattinger die Gelegenheit, aus der geistlichen Bannmeile zu entfliehen. Allerdings durchschauten die Weisen, wie der Rausch endet. Stifter warnte damals: »Jeder Mißstand, jedes Übel (von jeder Seite) wird nur durch das gesänftigte, edle, ruhige, aber allseitig beleuchtete Wort gut – durch dieses wird es aber ganz gewiß gut –, und das Wort, diesen ›sanften Ölzweig‹, so heiß ersehnt, endlich errungen, gebrauchen wir jetzt so selten recht, oft wird es eine Zündfackel, oft wird es kurz beiseite geschoben und die Gewalt gebraucht, die nur noch mehr verwirrt, die Gemüter von jeder Seite mißtrauischer macht, Verzagtheit, Ohnmacht, Zügellosigkeit, Despotie und Reaktion hervorruft und in vielen Fällen nicht einmal die gewünschte Frucht, sondern oft die Mißfrucht erzeugt. Ich bin ein Mann des Maßes und der Freiheit – beides ist jetzt leider gefährdet, und viele meinen, die Freiheit erst recht zu gründen, wenn sie nur sehr weit von dem früheren Systeme abgehen, aber da kommen sie an das andere Ende der Freiheit.« Weiter fand Stifter, mancher Ehrenmann sei jetzt plötzlich von bösen Leidenschaften und gierigen Gelüsten beherrscht – »er war nämlich nie ein Ehrenmann, sondern seine Triebe waren bloß gehemmt, jetzt fühlt er den Damm weg, und sie strömen aus. Wer ein echter, innerer Ehrenmann war, ist es auch jetzt noch, ja, sein Gold hat Gelegenheit, noch mehr zu leuchten als früher. Er gab sich auch im alten System seine Gesetze selber, und diese bestehen noch. Darum ist die Freiheit allein der Probestein der Charaktere, und sie macht auch allein die großen Menschen möglich.«

Wir denken bei Stifters Überlegungen an Bruckner wie an seinen künftigen Oberhirten Bischof Rudigier, der von seinem sakralen Standort aus dachte wie Stifter.

Bruckner waren die eigenen Gesetze vorausgereicht aus der unpolitischen Revolution seines Innern, die noch kommen sollte. Zu ihnen hin handelte er, grub, um sie zu ergraben, in die Tiefe, harnischte sich in Härte, wie sie noch unentwirrbar forderten, begab sich bei bescheidener Lustbarkeit nicht aus ihrer Hörweite.

Er lehrte nun, wo er Schüler gewesen war. Gute Kinderbehandlung hatte sein mitgebrachtes Zeugnis hervorgehoben, dabei blieb es. Kindlich-väterlich gab er sich auch in den Familien, in denen er verkehrte. Er wohnte wie dereinst im Hause des Lehrers Bogner. Dort blühten junge Töchter auf. Die eine schaukelte er auf den Knien, sang ihr Liedchen vor, spielte lächelnd etwas volkstümlich Albernes auf dem Klaviere ihres Vaters. Das Kind verwechselte sich als Greisin mit ihrer Schwester Luise, die von dem Hausgenossen ein in Liebe gewidmetes Lied erhalten hatte. Die sechzehnjährige Luise aber ließ Bruckners Liebe nicht ins Herz, wie bald darauf auch die Tochter Antonie des Steuereinnehmers Werner nicht. Bruckner flammte bis ins hohe Alter noch oft und oft auf, wurde nie erhört oder gekränkt und enttäuscht. Für den Jungmädchenzirkel von St. Florian entstanden zwei Tänze für Klavier zu zwei Händen.

Erhalten haben sich noch vier Klavierstücke zu vier Händen. Auch sie sind Hausmusik. Bruckner besaß als Erbstück von dem 1848 verstorbenen Stiftsbeamten Sailer einen neuen Bösendorferflügel, welcher bis zu seinem Tode in seinem Besitz blieb und auf dem er nach der Sage täglich zehn Stunden geübt habe neben täglich dreistündigen Orgelübungen. Die Leute hörten unter den Fenstern gern zu. Die Übermachung des Flügels deutet auf Achtung und Freundschaft. Bruckner erwiderte mit der Gedenkmusik des Requiems. Die Zueignungen lassen überhaupt erkennen, wie seine kleinen und großen Anhänglichkeiten verteilt waren. An Kinder wendeten sich liebe kurze Klaviersachen, an Fräulein Quadrillen und »Steiermärker«, der Freund Seiberl empfing zwei Totenlieder und einen Chor »Die Geburt«, dem Prälaten Arneth weihte den Namenstag eine Kantate, die Bestattung 1854 das Libera in fmoll. Seinem Nachfolger Mayr, ebenfalls einem Freunde Bruckners, wurde als dem »Hochwürdigsten Herrn Prälaten Friederich I.« zur Infulierung die erste lange Messe zugeschrieben.

Es ist einleuchtend, daß Bruckner sich in St. Florian am meisten beheimatet fühlen mußte. In drei Daseinsformen hatte er es in sich aufgenommen, als Schüler, als Lehrer, als Gast aus Kronstorf. Nach Länge und Vielfalt häuften die Aufenthalte im Stift die Erfüllung der ersten Lebenshälfte. Sie erhoben sich aus den Gegensätzen kleiner Verhältnisse. Und die erste Lebenshälfte ist, weil sie mit beiden Händen zubringt und mit einer wegnimmt, mindestens doppelt so lang wie die zweite, wo zwei Hände nehmen, was eine schenkte. Darum blieb für Bruckner die Sehnsucht hierher immer heil.

Die Gegenwart aber war schlimmer. Prometheische Anstrengungen brachen sich immer an den geistlichen Wällen, und es freute nicht immer, von den Spielen außerhalb der Umwallung zur unsichtbaren Burg zurückzukehren.

St. Florian hatte sich spukhaft verändert. Es war zum zweiten Verbannungsort geworden, ängstigender als der erste. Die Einsamkeit unter Mitgefangenen begann Bruckner zu drücken, und je mehr Sträflingswärter um ihn waren – man wurde als Dreißiger geduzt! –, um so beklemmender zog sich das Verlorensein in ihm zusammen. In dreitausend Tagen hatte er es nicht gelernt und wehrte sich mit dem Gefühlswiderstand, der ihm seine Lage überhaupt erst deutlich machte. Ihm war es verwehrt, auf die Hochschule zu gehen, wie es sein Freund Josef Seiberl hatte tun dürfen. So sandte er ihm wenigstens schriftlich seine traurigen Gedanken nach. Ein als guter Tenorist ihnen willkommener Kollege sei versetzt worden, sein Nachfolger hätte zur Pflege des kränklichen Vaters heim müssen, und der Regenschori sei am Nervenfieber gestorben. »Siehst Du, welch schauerliche Veränderungen! Ich sitze immer arm und verlassen ganz melancholisch in meinem Kämmerlein.« Wo könnte er einen Helfer finden? Er besann sich; dem Hofkapellmeister Aßmayr war er vorspielen gereist, und dieser hatte ihn »gewandt und gründlich« befunden. Würde der sein Glück begründen können? Noch immer sprach er vom Glück. In späteren Gesuchen an einflußreiche Männer flehte er um Rettung, und er übertrieb nicht. Er begründete die Übersendung seines vielleicht noch schwachen und schonungsbedürftigen 114. Psalms an Aßmayr so: »Ich habe hier gar keinen Menschen, dem ich mein Herz öffnen dürfte, werde auch in mancher Beziehung verkannt, was mir oft heimlich sehr schwerfällt. Unser Stift behandelt Musik und folglich auch Musiker ganz gleichgültig – oh, könnte ich recht bald wieder mündlich mit Ihnen sprechen! Ich kenne Ihr vortreffliches Herz welch ein Trost! Ich kann hier nie heiter sein und darf von Plänen nichts merken lassen.«

Als er die vielentscheidende Reise zum Herrn Hofkapellmeister Aßmayr nach Wien machte, ließ er ein Lichtbild von sich herstellen. Es hat das Verschollene und das Saubere der alten Daguerreotypien. Bruckner steht auf einem mit diagonal angeordneten Quadraten gemusterten Teppich gegen eine leere Wand. Er hat dem Photographen offenbar mitgeteilt, wer er sei, und sich danach gestellt. Der rechte Arm möchte lässiges Selbstbewußtsein zeigen, die Hand hat die Jacke zurückgeschlagen und steckt mit herausgespreiztem Daumen in der Hosentasche, neben der Uhrkette. Die Linke hält eine weiße Rolle schräg über die Beine und fesselt ihren herabhängenden Arm lose an den Körper. Die Gestalt ist schlank und hält sich trotz der niederziehenden Falten im Beinkleid mit bescheidner Straffung aufrecht. Nur der Kopf neigt sich eine Winzigkeit nach links. Ein kräftiger Bart unter kräftiger Nase nimmt den Mund weg. Die dichten, dunklen, kurzen Haare fassen die hart gewölbte Stirn in zwei rechten Winkeln ein. Das ganze Antlitz wäre verschlossen, richteten sich nicht ernste, fast bekümmerte Augen auf etwas Entlegeneres, als es diese Stunde des Einheimsens von Anerkennung für jugendliches Streben ist. Ein Hauch bitterlicher Luft um das Haupt (oder ist es nur die Abwesenheit jeder Lüge?) wich nicht, während die Figur den klösterlichen Kavalier stellte und eine große schwarze Halsschleife den Ruhm von morgen anheftete.

Ein Jahr später war ihm die Gefängnisluft schon so unerträglich geworden, daß er auszubrechen versuchte. Schlüssig, von sich zu werfen, was er bisher erarbeitet und geplant hatte, wollte er Kanzleischreiber werden und wandte sich an die Landesbehörde mit einem wahrhaft phantastischen Schreiben. In abenteuerlich erzwungener Vorstellung sah er den Büroschemel als den Thron, für den er von je sich berufen gefühlt, auf den er sich gesehnt habe. Das löbliche k. k. Bezirksgericht St. Florian bezeuge, daß er diesem vor ein paar Jahren ganz unentgeltlich, fleißig und hingebungsvoll seine Dienste gewidmet habe. Er legte der Bewerbung alle Atteste, über die er bis dahin verfügte, als Anlagen a, b, c, d, e, f, g bei und wurde dann doch mit langen Aktenzeichen kurz abgewiesen, eiskalt, nämlich nach länger als einem Jahr.

Die innere Unruhe wühlte in ihm weiter. Möglicherweise nagte ein Unbehagen darüber an ihm, daß seinen Kompositionen, nun schon einem halben Hundert an der Zahl, noch der Freispruch durch einen Geist fehle, der in keinem Menschen hauste und vor den er nicht als Prüfling treten konnte. Kirchlich waren sie wissend, technisch waren sie eingeweiht, gleichwohl wandelten sie vor ihm wie Unerweckte, von ihm nicht erweckbar. Die Hand jenes Geistes hatte zuweilen schon die seine geführt, doch er erkannte nicht, was sie schrieb. Im Orchestereingang zum Resurrexit der bmollMesse steigt der Streicherchor, vom Pianissimo her aufwehend, über leise schüttelndem Dominantorgelpunkt chromatisch im Tremolo empor – das war er selbst, und er erkannte sich nicht. Dem Kyriechor quillt in der Tat beim versunkenen Aufbangen zur Terz und Zurückneigen zum Grundton aus der Kehle ein Hauch der acht Hörner, die misterioso die neunte Symphonie öffnen – er erkannte es nicht. Altäre waren um ihn, er war in ihrem Heiligtum, noch nicht im Segen ohne Altäre.

Darum hatte er in ein langes Jahrzehnt unablässig die Energien gepreßt, die ihn in ein seinem Werte und seiner Zuversicht entsprechendes Amt tragen konnten. Sein Ehrgeiz durfte sich gekränkt fühlen, wenn er als supplierender Stiftsorganist von 1845 bis 1849 dienen mußte, dann nach Kattingers Übertritt zur Steuer als provisorischer bis 1855 (er vermerkte das provisorisch auch auf dem Titelblatt der Missa solemnis in b von 1854), und erst von da ab, als es seelisch für ihn zu spät war, als ordentlicher. Man hat seine Verbissenheit, sich sein Können immer wieder bestätigen und bescheinigen zu lassen, eine Sucht genannt, aber er brauchte vorläufig die Scheine alle. Als Lehrer wie als Musiker kam er aus unterster Tiefe. Um nicht ein Handlanger in Trivialschulen zu bleiben, mußte er nochmals nach Linz zu dem zweijährigen neugeschaffenen Kurse, und dann nochmals zu dem ebenfalls zweijährigen Unterrichte für Unterrealschulen, immer von St. Florian aus, schließlich zur Lehramtsprüfung für Hauptschulen. Die letzte hatte er ohnehin drei Jahre über die Fälligkeit hinaus bis 1855 verschoben.

Währenddessen wollte er vor sich wissen, ob er auch in der musikalischen Ausbildung gleichsam als Angeklagter vor Schwurgerichten bestand. Daher hatte er sich Kattinger offiziell gestellt und dessen Kollegen im Stifte Seitenstetten, und sie sollten nicht wohlmeinen, sondern ihr Urteil dokumentarisch vertreten. Daher hatte er Ignaz Aßmayr vorgespielt und Simon Sechter und Gottfried Preyer und Robert Führer, lauter Männern von Ruf, die ihm einen obersten Gerichtshof in Dingen der Musik bildeten.

Wie hart gebettet aber er sich in dem Florianer Kloster glaubte, geht daraus hervor, daß er, der Mensch ohne Hinterhalt, sich heimlich um die in Olmütz ausgeschriebene Domorganistenstelle bewarb, zum Zorne seines Prälaten und Freundes.

Das war im Sommer 1855. Er blieb.

Darauf befiel ihn eine Art Gleichgültigkeit und Saumseligkeit: Im Herbst starb der Dom- und Stadtpfarrorganist Wenzel Pranghofer in Linz; Bruckner hätte sich zum Probewettspiel für die Neubesetzung des Postens melden können, er ging aber nur als Zuschauer und Zuhörer hin. Sein ehemaliger Theorieprofessor Dürrnberger nahm die Prüfung ab und war mit den Stegreiffugisten unzufrieden. Da holte er den widerstrebenden Bruckner auf die Orgelbank, und unter seinen Händen und Füßen erschloß sich aus dem von den anderen verdorbenen Thema eine hinreißende Fuge. Als nach zwei Monaten das entscheidende Wettspiel stattfinden sollte, zauderte Bruckner wiederum unbegreiflich, als läge ihm nichts daran, sein unpäßliches Dasein zu verbessern. Mehrere unwirsche Ermahnungsschreiben aus Linz holten ihn endlich heran. Namhafte Organisten stritten mit ihm im Dome, »der ersten und obersten Kirche in der ganzen Diözese«, zwei aus der Stadt, der dritte und bedeutendste war der Komponist Ludwig Paupie aus Wels. Bruckner triumphierte im »Organistenkrieg«, wie, darüber gibt das in der Sakristei aufgenommene Protokoll gravitätisch Bescheid. Bis zu Bruckners Auftritt referiert es verhalten schadenfroh. Der erste Bewerber, Privatmusiklehrer in seinem Wochentag, versuchte und versagte. »Derselbe hat sich daraufhin unbemerkt freywillig entfernt und der weiteren Prüfung über Choralbegleitung gar nicht unterzogen.« Der zweite, Paupie, gestand ein, das ihm aufgegebene Thema in cminor sei ihm zu schwer und die von ihm verlangte Choralbegleitung sei ihm ganz fremd. Er griff das Thema an, phantasierte sich jedoch pfiffig aus ihm heraus. Bruckner als letzter errichtete über ihm dann eine strenge Fuge, wie er denn »auch die ihm aufgelegte schwierige Choralbegleitung mit so hervorragender Gewandtheit und Vollendung zum herrlichsten Genusse verarbeitet und ausgeführt hat, daß dessen ohnedies in der praktischen Behandlung der Orgel wie nicht minder in seinen bekannten, sehr gediegenen Kirchenkompositionen bewährte Meisterschaft sich neuerdings mit aller Auszeichnung fest erprobte«. Die Stelle wurde ihm zugesprochen, damit er in seinem Beruf ein Vorbild, »Muster wahrer erhabener kirchlicher Kunstübung für alle Organisten der Diözese« werde.

Im Linzer Jahrzwölft traten vier Gestalten vor die anderen in den Vordergrund.

Ein Fürst: Bischof Rudigier. – Linz scheint damals eine Bürgerstadt von etwas klebriger Liberalität gewesen zu sein. Massenhafte Unterschriften unter eine Revolutionsadresse sind gerade aus solch einem Zustande heraus leicht geleistet. Die Stadt hatte bei ungefähr zwanzigtausend Einwohnern neun Kirchen, ihre Donauschiffahrt und die Pferdeeisenbahn nach Budweis. Im Jahre 1859 wurde ein Aufsatz über den Baustil von Linzer Häusern geschrieben, der die »Kisten« und ihre »weißliche, gelbliche, grauliche, grünliche, nichtssagende und kunstlose Tünche, mit der man so oft Gebäude und ganze Gassen überzogen hat«, unförmig, völlig gedankenleer und kunsttrostlos schilt. Der Verfasser war ein Dichter, doch er meinte, als Seifensieder würde er seinen Mitbürgern weit willkommener gewesen sein. Es war Adalbert Stifter, der größte Poet seiner Zeit in Österreich, und nicht nur dort.

Er war um die vorige Jahrhundertmitte einer der drei Geistesfürsten, die gleichzeitig in den Mauern des kleinen Linz lebten: Stifter, Bischof Rudigier, Anton Bruckner. Ob Stifter je den beiden anderen begegnet ist? Er sandte zwar den Lehramtskandidaten Hager zu dem zweiten, dem Domorganisten, der den musikalischen jungen Mann auf den Kirchenchor zog und sich von ihm häufig an der Orgel vertreten ließ, aber ob Bruckner mit Stifter jemals ein mündliches Wort gewechselt hat, ist unbezeugt. Als Stifter sich mit einem Rasiermesser die Kehle durchschnitt, erfuhr Bruckner es nicht; als ein paar Monate später die Donaubrücke von eisernen Schleppern eingerissen wurde, wobei Menschen ins Wasser fielen, geriet die Stadt in Aufregung.

Doch Bischof Franz Josef Rudigier und Bruckner standen im Bunde der Verehrung dessen, was sie waren.

Rudigier, ein Bauernsohn aus Vorarlberg, gebildet in den theologischen Fakultäten zu Innsbruck, Wien, Brixen, dann junger Professor des kanonischen Rechts und der Kirchengeschichte in Brixen, Professor der Moraltheologie in Wien, seiner hohen Gaben wegen schon seit 1852 Bischof im neuen Bistum Linz, war ein »eiserner Charakter«, ein wilder mittelalterlicher Herzog seines ewigen Herrn, dessen feuerflüssige Bilderschrift über die ganze Welt hin in den Sternbildern zu lesen stand. Zur Domäne des Ewigen gehörten Rudigier selbstverständlich Schule und Ehe, die Jugend, die da wuchs, die Jugend, die da wachsen würde. Alle Knaben und Mädchen reiften vom Puppenstand durch die Totenhülle Gott zu. Daher lag es seiner irdischen Vertretung ob, die Schule zu behüten und den Ehestreit zu schlichten und zu richten. Die nachmärzlichen Sturmfluten wollten die überkommenen apostolischen Rechte als Strandgut in die Hände der schwatzenden Spießer am ungefährlichen Ufer spülen. Sie umgarnten das lebendige Recht mit den Netzen ihrer Gesetze. Empfand Bischof Rudigier in der klerikalen Ordnung die Botschaft von oben, so verstand er sich ebensogut auf die Redensarten der Paragraphenmacher. Bei seinem Parlamentieren stoben die Fetzen. Ungehorsam gegen die Gesetze der Unbefugten war schließlich die Forderung seines Hirtenbriefs; der Hirtenstab schlug und stach wie eine Hellebarde.

Ein in Linz residierender Erzherzog wollte ihn zu einer Haustaufe bestellen; er weigerte sich, es sei üblich, daß der Täufling in der Kirche erscheine. Davon war auch ein erzherzoglicher Täufling nicht ausgenommen. Dem Kaiser Franz Joseph sagte er in Ischl ins Gesicht, daß er sich wegen der Unterzeichnung der freisinnigen Schulgesetze vor dem göttlichen Richter werde verantworten müssen. Er spürte das Unreife, Unernste, Großmannssüchtige in den Verordnungen. Er hatte sich oft genug mit dem Linzer liberalen Doktorenregiment herumgeschlagen. Er sah, um an den Weisen zu denken, gegen das Ideal der Sittlichkeit »das Ideal der höchsten Stärke aufkommen, das Maximum der Barbaren, das in Zeiten verwildernder Kultur gerade unter den Schwächlingen sehr viel Anhänger finde«. Rudigier wurde für die rauhe Folgerung aus seiner Einsicht verhaftet. Der gebürtige Linzer Hermann Bahr erinnerte sich aus seinem siebenten Jahre, wie die unerträgliche Doktorenherrschaft »sich erkühnt hatte, dem hochwürdigsten Herrn Bischof Franz Josef Rudigier in seinem eigenen Hause vom Bürgermeister der Stadt Viktor Drouot durch den Gemeindesekretär, den sonst so gefälligen, so gemütlichen, schnaufenden Herrn Eduard Thum, … Gewalt anzutun und ihn, wie einen gemeinen Verbrecher, just an eben dem Tage, da er vor sechzehn Jahren zum Bischof geweiht worden war, mit der Polizei zum Landesgericht einliefern zu lassen«. Rudigier nahm weltliches Gericht nicht an, wurde trotzdem zu Kerker verurteilt, aber nächsten Tages vom Kaiser begnadigt. Bahr nennt ihn einen im Absoluten ruhenden Geist in der Fehde mit allen Relativitäten des irdischen Lebens.

Der gleiche Gewährsmann berichtet auch, wie der von ihm verehrte Bruckner vor den Linzer Pfahlbürgern und -bürgerinnen erschien: er kam eine Zeit ins Haus »als Klavierlehrer eines losen Tantchens, dem er, verliebt, unablässig die kleinen ungeschickten Händchen abzuküssen nicht müde ward … Bruckner war mit seinen Kratzfüßen, vor Verlegenheit schwitzend, in seinen ungelenken Huldigungen ein bäurischer Tolpatsch von solcher Possenkomik, daß meine Mutter vor Lachen nicht dazu kam, sich ihn einmal näher anzusehen.«

Der Bischof sah ihn durchdringend an und erkannte sein Maß, schweigend, handelnd. Er ahnte vielleicht, wie der Klavierlehrer sich wegen abschätziger Behandlung heimlich ausweinte, er hätte verstanden, daß er vor Übermüdung in den Lektionen einschlief und, wenn sie ihm einmal zu hoffnungslos schienen, auf dem Klaviere selber vortrug. Als erster in Bruckners Leben gab der Bischof durch die Art seines Schweigens und Handelns die einsame Größe des Meisters zu. Er soll ihn auf der Straße mit ausladender Geste wie einen König gegrüßt haben. Daß der Bann, den Bruckner ausübte, ihm in dem Kerne, in dem die triebhafte Persönlichkeit sitzt, unverständlich bleiben mußte – dieser einfältige Famulusdrang, sich im grauesten Mottenbrüten zu vergraben, diese zyklopische Ausbündigkeit des Phantasierens auf der Orgel, dann wieder das harmlose Mundartgesprudel des Unbedarften! –, das webte das Vertrauen nur dichter. Er ängstigte sich nicht vor dem Zyklopen, und er spottete nicht über den schüchternen Muttersohn eines liebevoll besuchten Dorfweibleins im nahen Ebelsberg. Er erfuhr am Spiele seines Organisten das Dämonische im Frommen und das Fromme im Dämonischen und bekannte ihm, es erginge ihm wie weiland Saul beim Harfenschlag Davids. Andere, beispielsweise die breite Zuhörerschaft Bruckners beim Wettspiel im Salzburger Dom mit dem Virtuosen und Komponisten Führer, den er nach dem Urteil der Eingeweihten tief niedergerungen hatte, erklärten ihn für einen Narren. Rudigier kannte ihn lange: er hatte ihn oft aus St. Florian geholt, wenn der Saulswahn ihn überkam und Heilung verlangte. Er hatte ihn jetzt auch im Dienst kennengelernt, wo Bruckner sich mit den rein praktischen Erfordernissen zu beschäftigen hatte. Aus seiner ersten Linzer Zeit lagen zwei Eingaben an das bischöfliche Ordinariat vor, von denen die eine sich auf Restaurierung und Ausbau der Domorgel bezieht, die andere um Verteilung des Doppelamts an den Orgeln der Stadtpfarrkirche und des Doms auf zwei Personen bittet; Bruckner nämlich hatte den Dienst an beiden zu versehen und mußte sich von einem ehemaligen Kürschner helfen lassen, aber »bei dessen schon sehr hohem Alter werde auch sein Spiel schon sehr mangelhaft, und es kamen diesfalls wiederholt Beschwerden an den Gefertigten, dessen diesfällige Verantwortlichkeit ihm wohl sehr schwer fällt«.

Der Bischof jedoch wandte lieber seine Sorge dem Künstler über dem Amte zu. Er saß wie früher als einziger Hörer in der Kirche, wenn Bruckner für sich übte und spielte. Nun war der andere der Priester und er der Andächtige ohne Weihen. Er förderte Bruckner zunächst, indem er ihm reichlichen Urlaub für seine Studien-, später für seine Kunstreisen verschaffte. Simon Sechter, der für Bruckner der Magus der Theorie war und ihre letzten Geheimnisse besaß, wohnte in Wien. Es war beschwerlich, brieflich den Unterrichtsdialog zu führen. So durfte denn Bruckner jahrelang außer für die sechs Ferienwochen sommers, in Zeiten der Orgelstille, noch drei Wochen im Advent und drei in den Fasten zu Sechter fahren. Vielleicht begriff der Bischof die Lebensnotwendigkeit dieser Lehre für Bruckner. Sie war eine Entsprechung des Katholizismus, ihr Dogma duldete keine Abweichung. Sie hatte auch geschlossenes Eigenleben, weil sie nur sich selbst wollte. Auch sie war Einkehr in den Urgrund.

Nicht minder verstand der Bischof die Dringlichkeit, daß Bruckner seine kirchliche und weltliche Kunst außerhalb der Stadtmauern befruchte. Bruckner würde am besten entscheiden, wohin er fahren, wen er suchen müsse.

Bischof Rudigier ließ es aber auch an Aufträgen nicht fehlen. Zur Grundsteinlegung des neuen Mariä-Empfängnis-Domes schrieb Bruckner auf seine Bitte die Festkantate. Da sie auf dem Bauplatz aufgeführt wurde, wirkte Militärmusik mit. Als die Votivkapelle des neuen Domes fertig wurde und eingeweiht werden sollte, lud der Bischof den schon in Wien tätigen Meister ein, wieder die Festmusik zu übernehmen; Bruckner widmete ihm darauf die bereits drei Jahre früher, 1866, geschriebene emollMesse »für Doppelchor und Harmoniebegleitung« und führte sie nach achtundzwanzig Proben auf. Er verwandte ausschließlich Bläser, darunter vier Hörner und drei Posaunen, weil er an die Aufführung im Freien gedacht hatte. Solange Bruckner ihm in seinem Sprengel unterstand, mochte es dem Bischof vornehmer scheinen, Bruckner anders zu helfen als durch Geld. Am Ende hat er es doch nicht abschätzen können, wie aufreibend der große reisende Schüler als Privatstundenlehrer sich hatte schinden müssen, um seinen Aufwand unterwegs einigermaßen zu decken. Aber als Bruckner so schwer an den Nerven erkrankte, daß er nicht allein gelassen werden konnte, gab Bischof Rudigier ihm einen Priester in das Heilbad mit. Und als Bruckner beim Scheiden aus Linz um die Festigkeit seiner neuen Stellung fürchtete, ließ er ihm den Linzer Organistenposten jahrelang aufheben, bis Bruckner selbst auf die weitere Freihaltung verzichtete. Nun aber, zur Aufführung der Messe, kam er als auswärtiger freier Künstler, und er wurde als solcher, ungeachtet, daß sein Werk liturgisch weitabgewandt, in den acappellaStil Palestrinas versunken war, gefeiert und hoch ausgezeichnet und erhielt nach einigen Wochen ein Honorar von zweihundert Gulden. Noch sechzehn Jahre später schrieb er im Gedenken an den öffentlichen Geburtstag der Messe: »1869 von mir einstudiert und dirigiert an dem herrlichsten meiner Lebenstage bei der Einweihung der Votivkapelle. Bischof und Statthalter toastierten auf mich bei der bischöflichen Tafel.«

Der Dankbrief Bruckners an den Bischof aber läßt uns erschrecken. Wir werden inne, daß der Musiker mit Rudigier die lange Frist über nicht wie mit einer Person, sondern wie mit einer Macht verkehrt hatte. Der Bischof mußte, um über die Unterwürfigkeiten seines Schützlings nicht zu erröten, versuchen zu erblinden und zu ertauben. Bruckner sieht in dem Briefe als Kühnheit an, daß er es wage, an die bischöflichen Gnaden, an den hochgeborenen Oberhirten zu schreiben; doch die Schranken des Anstandes würden durch seine Gefühle heftigst durchbrochen. »Wohl schon seit 1855 ward durch die bischöfliche Gnade mit Auszeichnungen und Wohltaten jeder Art ich Unwürdiger hochbeglückt.« Mit Rührung nehme er das große Geschenk an, küsse dem Geber ehrfurchtsvoll die Hände, »bittend, mir nie Hochdero Gnade entziehen zu wollen«. Dann bittet er Gott um Lohn und Segen für den Bischof und um Kraft und Ausdauer in schweren Kämpfen.

Wer hier noch das Gesprochene nach dem Alltagsgebrauch abwöge, begriffe nicht, daß Bruckner in Gewölben der inneren Natur angekommen war, wo alles anders scholl und wog als gemeinhin. Er hatte gelernt, sich mit dem Munde der Instrumente vollkommen auszudrücken, und verlernt, es mit anderem Munde zulänglich zu tun. Er gebrauchte Phrasen ohne Würde, wenn seine Sätze selige Flügel hätten gewinnen mögen.

Der Magus: Simon Sechter. – Den Gang zu den Müttern möchten wir das nennen, was bei Bruckner in seinen Bemühungen um das Letzte und Äußerste der Theorie über die Theorie hinausführt ins Geheimnis. Sein Studium der abstrakten Grundsätze der musikalischen Komposition bis zu dem Endzeugnisse Sechters dauerte von Hörsching an ein gutes Vierteljahrhundert. In dieser Spanne hatte er fast jeden Tag und viele Nächte dafür genützt. Die Kreise waren gewachsen, der weiteste von ihnen fiel mit dem absehbaren Horizonte zusammen. Und es ist keine Lüge, zu sagen, er habe die Akkorde und alle Lebensregung in ihnen mit den Füßen erwandert, Schritt für Schritt. Die Kammern, in denen er gewohnt hatte, waren ihre Geburtsstuben, die Felder um Hörsching, Florian, Windhaag, Kronstorf, Steyr, Enns, Linz, waren ihre Saatfelder, die Lehrbücher waren ihre unsichtbaren Burgen. Bruckner wählte die schwierigsten Wege, auf denen die meiste Vorsicht und Beharrlichkeit vonnöten war. Bei dem überwachten, halsstarrigen, halluzinierenden Verweilen wurden die Beziehungen der Töne durchleuchtend und ließen anschauen, was sich in ihnen verkappte. Wenn von ihren Höhlen jedes andere abgeschlossen blieb, war der Aufenthalt in ihnen eben der einzige Aufenthalt, und die Bedingungen, von denen er abhing, spiegelten die allgemeinen Bedingungen. Sie hatten ihren Werdedrang, ihr Alter, wurden befolgt oder verletzt. Sie wurden von geistiger Meteorologie erhellt und getrübt, trugen ihre Beschwerden und fanden ihren Humor. Hirn und Blut ihres Pflegers nahte ihnen so dicht, daß sie sich, wie selber mit Blut und Hirn begabt, eigenkräftig zu bewegen begannen.

Deshalb erkannten sie kein Geflunker der Vielgereisten und Gewitzigten an, in deren Augen ihre Sitten als altvaterisch erschienen wären. In dem alten d’Alembert, der da gelehrt hatte, der Grundbaß sei der wahre Wegweiser des Ohrs und die wahrhafte Quelle des diatonischen Gesangs, waren sie jung und jünger als in irgendeinem Pedanten von heute. Seinem Professor Dürrnberger in der Präparandenzeit schrieb Bruckner noch aus seiner eigenen Wiener Professur, wie er sich freute, einem Kurse Dürrnbergers treffliches Lehrbuch zugrunde zu legen. Ebensowenig war ihm der würdige Daniel Gottlob Türk großväterlich erschienen, als er ihn durch den Mund des Edlen von Zenetti mahnte, die Vorbereitung der Dissonanzen nicht zu versäumen, »damit das Gefühl bey dem freyen Eintritte derselben nicht so heftig angegriffen werde«.

Das zuletzt in dem Hoforganisten und Konservatoriumslehrer Simon Sechter aufgesuchte Orakel vollends berief sich auf die genialen Entdeckungen Rameaus und spann sie nach der Kritik der Gelehrten in den drei Bänden seines Hauptwerkes bis zu irrigen Konsequenzen aus. Sechter, in der theoretischen Literatur seiner Vorläufer rundum belesen, wurde gar nicht gewahr, wo der Stamm der vielen Äste wurzelte. Sollte er Rameau noch einmal erfunden haben, so wäre das für diesen wie für Sechter ehrenvoll. Der wohl beste Kenner der Theoriegeschichte, Riemann, bezeichnet Rameau als den Stammherrn der eigentlichen Harmonielehre und begründet das am kürzesten so: »Der geniale Grundgedanke von Rameaus theoretischem System ist die Zurückführung aller möglichen Akkorde auf eine beschränkte Zahl von Grundformen ( accords fondamenteaux) zunächst in der Gestalt der Lehre von der Umkehrung der Akkorde. Daß egc harmonisch dasselbe ist wie ceg, sprach Rameau zuerst aus. Seine Basse fondamentale(Grundbaß) ist eine fingierte (nicht klingende) Stimme, die Reihenfolge der Grundtöne der Stammakkorde, von denen der Satz beliebige Umkehrungen bringt; sein Zweck war, einfache Grundformen für die Logik der Harmoniefolgen kenntlich zu machen.« Ein Schüler Bruckners sagte über den nach Rameau komplizierten Sechterismus, in der Lehre, die über den mächtigen Urschritten des Quintfallens und Quartsteigens durch alle sieben Stufen ihre Akkordketten wie Girlanden hinzöge, stecke so viel Gesundes, Lebenskräftiges, ja Verführerisches, daß man unter viel Gerumpel überall das Elementare gefunden habe. Dem Terzfallen entsprach ein Zwischenfundament.

Bruckner drängte es nach den archaischen Fundamenten. »Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit; von ihnen sprechen ist Verlegenheit.« Aber er stieg wie ein Doktor Faust wieder hinauf in das jenseitige Licht seiner Musik, und nun ist der majestätisch ruhige Bau noch im tobenden Gedränge schon als graphische Figur in den Partituren abzulesen. Und alle seine Schichten sind aus Gesang erbaut.

Bruckner berief sich oft mit Stolz darauf, daß die Lehrzeit bei Sechter sieben Jahre gedauert hatte. Schwer war es schon, bei ihm angenommen zu werden. Immerhin, von Florian nach Wien zu reisen und die Missa solemnisvorzulegen, hatte genügt. Dann, als die Hindernisse der Übersiedlung nach Linz und die des Einlebens überwunden waren, begann die Askese: es war Sechters Schülern verboten, neben der Lehre zu komponieren, und Bruckner besuchte während der Unterrichts jähre auch die Oper nicht. Angesichts versuchter Satzfreiheiten würde der Alte, wie Bruckner erzählte, »furchtbar«. 1855 tauchte er unter und verwendete, wie er in einem späten Promemoria betont, »all sein Ersparnis und alle seine Zeit, ja die Nächte für seine Ausbildung«. 1861 tauchte er auf, da freilich wie »ein Kettenhund, der sich von seiner Kette losgerissen hat«. Unterweilen trug er sein Haupt aufrecht und rettete sich nur durch vieles Phantasieren auf der Orgel vor Trockenheit. »Freien Compositionen gönnt« er »nicht die erforderliche Zeit, nur einige Lieder und Chöre für die Liedertafel schrieb er, die, namentlich das (siebenstimmige) Ave Maria, sowohl in Salzburg als in Linz ausnehmend gut aufgenommen wurden.« Als eine Linzer Zeitungsbesprechung über: »Der Rose Pilgerfahrt« von Schumann mit deutlichem Fingerzeig auf ihn bemerkte, Schumann sei keine von den traurigen Gestalten, die noch jetzt mit gesenktem Haupte herumschlichen und glaubten, der Kunst Genüge getan zu haben, wenn sie den Kontrapunkt in trostloser Abstraktion recht tüchtig handhabten und in scholastischer Dürre herumirrten, wehrte er sich: »In Linz bin ich der Einzige, der den Contrap. studiert, aber ich senke weder mein Haupt, noch schleiche ich herum.« Der Rezensent solle ja nicht voraussetzen, daß er nach Vollendung seiner Studien glauben werde, der Kunst Genüge geleistet zu haben. Wer sollte ahnen, was es bedeutete, wenn er Sechters Buch mit Randbemerkungen füllte, wobei sein Meister sogar mithalf, bis der Band nicht mehr zusammenhielt? Wer sollte begreifen, daß die handgeschriebenen Folianten mit Übungen und wiederum Bemerkungen rund um die Notensysteme herum vom Fußboden seiner Wohnung herauf bis an den Flügelboden anwuchsen? Ihn selbst beruhigte es, daß Sechter seiner Gewohnheit gemäß alljährlich Zeugnisse erteilte, zuerst über Harmonielehre und Fundamentalbaß, dann über den einfachen Kontrapunkt, zwischenein wieder einmal über Orgelspiel, dann über den doppelten, den dreifachen und vierfachen Kontrapunkt. Mag der einfache Kontrapunkt, also die Erfindung einer selbständigen und harmonisch richtigen Gegenstimme zu einem Cantus firmus, leicht sein, so beginnen beim doppelten, also bei der Vertauschung der oberen und unteren Stimme, Verwicklungen, weil parallel gehende Quarten, die in der Umkehrung ja zu den verbotenen Quintenparallelen werden, ausscheiden sollen. Da handelt es sich trotz der lediglich formalen Absicht bereits darum, eine scheinbar ungefesselte, schöne Gegenstimme zu erfinden. Bruckner besaß Sinn für die vertrackte Mathematik dabei, und als er Schüler hatte, die es gut machten, freute es ihn, selbst noch trefflichere Lösungen im Hinterhalte zu wissen. Vor Sechter aber bezweifelte er noch im besten Gelingen gelegentlich seine durchgehenden Auflösungen, so daß der gefürchtete, längst freundschaftlich aufmerksame Theoriemeister ihn just am Tage seines vollendeten sechsunddreißigsten Hoforganistenjahres tröstete: »Übrigens macht es gerade nichts, in diesen Beispielen die Durchgänge als unwesentlich zu betrachten, ich ziehe es aber vor, die Rechtmäßigkeit derselben durch neue Fundamente darzutun, dann ist es für jeden Fall gerechtfertigt.« Bruckner blieb auch in der Folge mit sich nicht zufrieden, als gingen Konvulsionen eines Erdbebens durch das feste Tongebäude, und er müsse es unzerreißbar in sich fügen. Er schickte Sechter neue Berge von Studien. Da gebot der zweiundsiebenzigjährige Greis dem Jüngeren Einhalt. »Ihre siebzehn Hefte über den doppelten Kontrapunkt habe ich durchgesehen und mich mit Recht über Ihren Heiß gewundert, sowie über die Fortschritte, die Sie darin gemacht haben … Damit Sie aber in Gesundheit nach Wien kommen können, ersuche ich Sie, sich mehr zu schonen und sich die nötige Ruhe zu gönnen. Ich bin ja ohnehin von Ihrem Fleiß und Ihrem Eifer überzeugt und möchte daher nicht haben, daß Ihre Gesundheit durch zu große geistige Anstrengung zu leiden hätte. Ich fühle mich gedrungen Ihnen zu sagen, daß ich noch gar keinen fleißigeren Schüler hatte als Sie.« Wenig später hielt Bruckner das letzte Zeugnis Sechters über Kanon und Fuge in Händen sowie ein musikalisches Abschiedsgeschenk seines Lehrmeisters, die Fuge »An Gottes Segen ist alles gelegen«. Sechter besuchte ihn dann bald darauf auf vier Tage in Linz.

Ohne eine amtliche Bestätigung war der Studienabschluß für Bruckner kein Abschluß. Wo war eine ihm überlegene Instanz aufzutreiben? Die Führer der hauptstädtischen Musikkörperschaften mußten zusammentreten. Zum imaginären Konservatoriumsprofessor sollten sie ihn machen. Es waren fünf, unter ihnen außer Sechter der artistische Direktor der Gesellschaft der Musikfreunde Johann Herbeck, forthin bis an seinen Tod der Betreuer Bruckners. Vor einer mündlichen Befragung scheute man sich und begab sich auf die freigestellte Bitte Bruckners vor die Orgel der Piaristenkirche. Es ist oft erzählt worden, wie dort durch Verlängerung des aufgegebenen Themas dem Prüfling eine Falle gestellt wurde, wie dieser durch sein Überlegen vor dem Spielbeginn eine heitere Spannung erzeugte, wie er dann glänzte und Herbeck zu dem Wort hinriß, das heute jedem in Bruckners Leben Eintretenden wie eine Krone gezeigt wird: »Er hätte uns prüfen sollen! Wenn ich den zehnten Teil von dem wüßte, was der weiß, wäre ich glücklich!«

Nun war der Aufruhr der Begierde, alles wissen zu wollen und begründen zu können, für ein kurzes beruhigt. Es verbarg sich darin mehr, als eine Unterweisung stillen konnte. Der unsichtbare Stern der Schöpfung wollte licht werden, und daher mußte mit seinem Zustand als Lichtaura aufgeräumt werden. Die Korona war von gleicher Substanz wie der Kern. War sie in ihrer Trächtigkeit durchschaut, so wurde sie aus ihrer liederlichen Herrlichkeit und prahlenden Willkür verjagt. Sie wurde ernst und mütterlich, um den Spruch zu neuer geordneter Regung aus dem Anfang zu erwarten.

Das All des musikalisch Formalen war entwickelt, bewohnt und benutzt gewesen, bevor der Neugeborene das Ohr geöffnet hatte. Nun entstieg es gleichsam wieder dem Nichts. Gleichsam, denn das Nichts ist nicht vorstellbar und denkbar. Es ist nicht wahr, daß nur das geringste der musikalischen Form im Uralter von der Natur gestiftet worden sei. Es gibt in ihr keinen Ton, der den Willen in sich trüge, einmal zur Tonika zu werden, keine Tondreiheit, die sich aus dem Zufall zum Dreiklang beriefe, kein Miteinander von Tönen, das sich übel befände und nach Wohlbefinden drängte, keine Konsonanz in nachbarlicher oder verschmitzter oder geharnischter Auseinandersetzung mit einer Dissonanz, keine Tonfolge, die sich anderswohin versetzen oder kanonisch nachahmen wollte, es gibt keine Tonleiter, die doch einmal, wie beispielsweise bei Bach, die Entfernung vom Zenit bis zum Nadir ausdrücken wird. Alles ist menschliche Übereinkunft, alles mußte erfunden werden. Die griechischen Tetrachorde mußten in der Meditation entdeckt und gepaart untereinandergesetzt werden, damit sie ihren Ausgangspunkt anderswo, wir nennen es in der Oktave, wieder entdeckten. Die verschiedene Lagerung der Ausgangsstufen aber ließ die gleichlangen Wanderungen durchaus verschieden erscheinen: Sie führten jeweils durch ganz andere Sitten und Gewohnheiten, durch Provinzen mit eigentümlicher Blutmischung und eigentümlichem Klima, so daß sie mit Ländernamen wie ionisch, dorisch, phrygisch, lydisch, äolisch ausgestattet werden konnten. Die Tonvölker aber sehen eines langen Tages ein, daß sie ein Volk sind und daß dieses sich aus zwei Geschlechtern fortzeugt. Die Geschlechter Dur und Moll vervielfältigen und verfeinern ihren Umgang, die Persönlichkeiten in ihnen lernen über sich, ihre Eltern, Verwandten, Freunde, Feinde, Götter nachdenken, und allgemach besteht ihr Wesen nicht mehr in mathematisch ausdrückbaren Beziehungen, sondern sie haben die natürliche Wirklichkeit inne. Die so weit ausgedehnten Bezüge gründen aber immerdar auf Prinzipien der ordnenden menschlichen Vernunft und auf Konventionen der auf diese besondere Weise Vernünftigen und Willigen. Daß die Dissonanz, die keineswegs gattungsmäßig, sondern allein durch ein etwas komplizierteres physikalisches Zahlenverhältnis von der Konsonanz unterschieden ist, dieser entgegengesetzt wurde, ist sowohl ein dialektisches Vergnügen wie eine Not, eine Erziehung des Gefühls wie seine Auslieferung an den Verstand. Der Sinn des Intervalls ist nichts Gegebenes, die Klausel der Kadenz ist nichts Geschenktes, wie denn auch sonst ein Ja und Amen zwar den Beschluß macht, aber nicht der Beschluß ist.

Nichts Festes oben und unten, nichts inmitten und zu Seiten. In mancherlei Idiomen und Grammatiken ist die Musik des Erdkreises zur Gegenwart herangewandelt. Sie wurden immer nur in ihrem Heimatbereich, der oft genug hinter der Größe des europäischen Kontinents zurückblieb, verstanden, und ganz nur von den Zeitgenossen. Die Verständigung war ausgeschlossen, wenn die Entwicklungsstadien der Ausdrucksmittel nur so weit voneinander ab lagen wie die Sprachstufen des Gotischen und Mittelhochdeutschen.

Alle ursprünglichen Musikschöpfer stehen unter dem Zwange, sich den überlieferten Hauptgesetzen ihrer Kunst zu vertrauen, bis alsdann das Vertrauen der Gesetze sie zu Gesetzgebern freit. Manche absolvieren die Gesetzeskunde, manche rechnen und spielen, manche wissen, ohne zu lernen. Wir stellen die grundsätzliche Frage aber gerade vor Bruckner, weil er zuerst glaubte und dann erkannte, und weil sein Glaube zu Geboten und Verboten sprach: Weil du bist, so sei! Darum liefen die Tag- und Nachtwachen seines Lehrlingtums so ungeheuerlich auf, darum hatte er so lange Fundamente in den grundlosen Grund zu rammen. Endlich war das Wissen so stark wie das Glauben, und beides war im Können vereinigt.

Hier steht es uns an, vorzugreifen und einige Abschnitte aus Bruckners Antrittsvorlesung an der Wiener Universität anzufügen.

»Wie Sie selbst aus verschiedenen Quellen wissen werden, hat die Musik innerhalb eines Zeitraumes von zwei Jahrhunderten so kolossale Fortschritte gemacht, sich in ihrem inneren Organismus so erweitert und vervollständigt, daß wir heute – werfen wir einen Blick auf dieses reiche Material – vor einem bereits vollendeten Kunstbau stehen, an welchem wir eine gewisse Gesetzmäßigkeit in den Gliederungen desselben sowie eine gleiche von diesen Gliedern dem ganzen Kunstbau gegenüber erkennen werden. Wir sehen, wie das eine aus dem anderen hervorwächst; eins ohne das andere nicht bestehen kann und doch jedes für sich wieder ein Ganzes bildet.

So wie jeder wissenschaftliche Zweig sich zur Aufgabe macht, sein Material durch das Aufstellen von Gesetzen und Regeln zu ordnen und zu sichten, so hat ebenfalls auch die musikalische Wissenschaft – ich erlaube mir, ihr dieses Attribut beizulegen – ihren ganzen Kunstbau bis in die Atome seziert, die Elemente nach gewissen Gesetzen zusammengruppiert und somit eine Lehre geschaffen, welche auch mit anderen Worten die musikalische Architektur genannt werden kann.

In dieser Lehre bilden wieder die vornehmen Kapitel der Harmonielehre und des Kontrapunktes die Fundamente derselben.

Nach dem Vorausgelassenen werden Sie, meine Herren, mir zugeben müssen, daß zur richtigen Würdigung und genauen Beurteilung eines Tonwerkes, wobei zuerst erforscht werden muß, wie und inwieweit diesen oben erwähnten Gesetzen in demselben entsprochen wurde, sowie zum eigenen Schaffen – nämlich eigene Gedanken musikalisch korrekt verwirklichen, sie belebend machen – vor allem die volle Kenntnis von der erwähnten Musikarchitektur beziehungsweise von den Fundamenten dieser Lehre notwendig ist.

Aus dem Entwickelten mögen Sie nun selbst entnehmen, daß die Gegenstände ›Harmonielehre‹ und ›Kontrapunkt‹ bei dem im übrigen so weit entwickelten geistigen Leben ebenfalls einen notwendigen Platz finden müssen, wo selbe gepflegt, wo selbe, auch ohne den Endzweck, ausschließlich Künstler heranzubilden, gelehrt werden können; denn sie gehören – und das mit Recht zu den Trägern unserer geistigen Bildung; da wir durch sie in die Lage kommen, unseren Gedanken und Gefühlen nach musikalischer Richtung hin in ästhetischer Weise gerechten Ausdruck zu verleihen.«

Weiter verspricht er seinen Hörern, ihnen manche Härten durch praktische Übungen zu vermindern und sie »mit sicheren Schritten durch dieses Reich des Wissens von einer Grenze zu der anderen zu bringen«.

Von einer Grenze bis zur anderen: das war immer die hochherzige Meinung seiner Gedanken.

Der Mann der weiten Welt: Otto Kitzler. – Wenn Bruckner den Domkapellmeister Zappe, seinen Hausgenossen, die Kirchenmusik dirigieren sah, dann mußte ihm im Orchester ein ausgezeichneter Cellist auffallen. Es war ein junger Mann um die Mitte der Zwanzig, der da freiwillig mitspielte. Seinem Berufe nach war er Theaterkapellmeister. Er hatte schon eine lange Kometenbahn durch den Musikhimmel gezogen, verweilte auch in Linz nicht lange, verschwand nach Königsberg, kehrte jedoch auf drei Jahre wieder, um darauf nach Temesvar, Hermannstadt und Brunn weiterzuwandern. Er hieß Otto Kitzler und war nach vielseitiger Ausbildung in Dresden, Brüssel, Prag nach Straßburg, Troyes, Lyon, Paris und – Eutin gelangt. Als Studierender, Mitglied von Opernorchestern, Solorepetitor, Musikdirektor, Theaterdirigent war er mit vielen Männern des Fortschritts in Fühlung gekommen, hatte in Beethovens neunter Symphonie unter Wagner gesungen und beherrschte sein Handwerk, ohne im Betriebe zu verstauben. Er brachte den Atem der freien Welt mit. Um seine schmächtige Gestalt, auf seinem Antlitz, in seiner Stimme soll etwas Heiteres gewesen sein.

Er spürte, daß er Bruckner aus der kontrapunktlichen Grotte zur Aussicht auf dem Berggipfel leiten konnte, und Bruckner, daß er ihm dazu die Hand bieten mußte. Kaum war das Spinnen mit Sechter vorbei, ein Spinnen in einer Welt ohne Kunst, so erfolgte mit einem Ruck die Besinnung in umgekehrter Richtung. Beethovens Klaviersonaten offenbarten, wie man von Stund an in großen Formen komponieren konnte, Sechters Scharfsinn hatte gepredigt, wie man sozusagen in einem Jahrtausend die Allwissenheit erwarb. Jetzt dienten Lehrbücher der Komposition wie die von Lobe, Richter und Adolf Bernhard Marx nur wie geschickte Gehilfen, früher war der Schüler ein Gehilfe seiner Wälzer gewesen. Mit Keckheit und Spaß, die bei Bruckner beinahe wie Vorwitz rechnen, wurden im Beethoven die Versündigungen gegen die unfehlbaren Prinzipien aufgestöbert. Eine Gesinnung meldet sich darin an, die lange nachher zu dem drastischen Ausspruch gegen Mottl führte: »Alles, was wir hier machen, geschieht nach den strengen Gesetzen des Generalbasses, jede Dissonanz wird der Regel gemäß vorbereitet und ebenso aufgelöst, Freiheiten gibt’s keine; wenn mir aber später einmal einer was bringt, was so ausschaut wie das, was wir hier in der Schule gemacht haben, den schmeiß‘ i naus.« So stellten sich auch, als er die Wagnerschen Enharmonien als Zauber erfahren hatte, Sechters und seine Ansicht schroff gegenüber. Während der Dogmatiker die enharmonischen Verwechslungen ausschalt als die natürlichen Feinde der gesunden Melodie, welche zwar das Unwichtige mit einem gewissen Glänze umgäben, bezeichnete er sie als den Schlüssel zur neuen Schule.

Die Freudigkeit erklärt die reißende Eile, mit der er bei Kitzler fortschritt. Der Lehrgang bei ihm dauerte nicht so viele Monate, wie die früheren Klassen Jahre verschlungen hatten. Doch selbst nun noch dünkte er sich nicht mehr als ein Scholar. Aus der Mühsal beiseite sehend, bangte er, es werde für ihn zu spät werden zu heiraten: um so rührender mutet es an, in einem Briefe die kindliche Mitteilung zu hören: »Wir haben bereits die Instrumentation u. dann die Symphonie, wo auch nur, wie du weißt, die Sonatenform ist. – In drei bis vier Monaten bin ich fertig.«

So kamen die Tage des Überschwanges, die Tannhäuser-Aufführungen.

Sie waren Benefizvorstellungen für Kitzler und seine Frau, der Veranstalter hatte sich die Erlaubnis bei Wagner erbeten.

Wagner wurde für Bruckner durch seinen Siebenmeilenstiefelmann Kitzler als Bewohner der weiten Welt entdeckt, als der ältere Bruder unter der heutigen allbescheinenden Sonne. Er war ihm nicht der ferne Fixstern, der sich mit jungen Planeten umgab. Bruckner war sogar in seiner Demut der jüngere Bruder, nicht der Trabant. Aus Wagners frühen Partituren, die den Linzern zu Ohren kamen – »Tannhäuser«, »Liebesmahl der Apostel«, »Fliegender Holländer«, »Lohengrin« –, ist kein Gedanke auf Bruckner übergegangen, nur, da er auch ein Baumeister war, der Traum von neuer Architektur, neuem Maßwerk, neuen Bogengängen. In den Farben schimmerte nicht mehr nur die Psyche auf, sondern auch die Physis äußerte sich darin, und das bedeutete die Aufnahme des Verweslichen in die Unverweslichkeit der Töne, weil ja auch im Werkeltag nie das Leibliche aus dem Seelischen verdammt war.

In der Koloristik erlebte die Musik seit alters die häufigsten Stilwenden. Genügten dem Geiste auf lange hin die immer gleichprägenden Formen, dem kurzlebigen Körper genügten sie nicht. Die tönenden Hieroglyphen für Bewegungen, Gesten, Gebärden wechselten mit den Generationen, wie dann nicht das sie Versinnlichende? War einer erwählt, die Erneuerung zu verkünden, so war er es nicht mehr, wenn er allein blieb. Dem Giovanni Gabrieli folgte Heinrich Schütz, dem Londoner Bach Mozart. Bruckner fand Wagner nicht allein, doch begnügte er sich mit ihm als dem Vollkommensten unter seinesgleichen. Und nicht einmal das: er besuchte Liszt in Budapest. 1864 und 1865 machte er fünf Kunstreisen nach dem Neuesten. Daß Liszt seinen Symphonien Überschriften gab und daß er seinem »Tasso«, »Prometheus«, »Orpheus« und weiteren Arbeiten ausführliche Paraphrasen der anregenden Idee voranstellte, warf sie nicht aus den Angeln und versklavte sie nicht der Literatur.

So heiß ihn die farbige Orchesterlohe des »Tannhäuser« anstrahlte, so wenig störte ihn die Nähe des Brandes bei dem, was er Schularbeiten nannte. Kurz nach der Aufführung der Oper begann er seine Studiensymphonie. Sie hatte von Wagner nichts gelernt, und auch von Kitzler gerade das Hinlängliche über die Sonatenform. Schon die düstere Tonart fmoll fand der erfahrene Theatermann ungünstig. Aber vom Zeitgeist der Romantik war trotzdem einzelnes gebildet worden, was die Schulluft nicht ausbilden konnte. Der leise Anfangsgruß eines Instrumentes war Gruß dieses Zeitgeistes, der Anklang daran im Lebensabschiedsgruß des allerspätesten Symphoniesatzes war es dereinst ebenfalls.

Und die nun sich ballenden Musikgestalten wie gleich die nicht numerierte dmollSymphonie zitierte schon manche noch nicht geschriebene künftige: zuerst die fünfte, dann im Andante die dritte, im Scherzo die erste, im Trio die siebente. Die große dmollMesse spielte im Kyrie Motive aus dem noch unveröffentlichten »Tristan«, aus dem unvorhandenen »Parsival«, im Agnus aus den ungekannten Nibelungen. Sogar in der Rückschau auf die Arbeiten der Zurüstung wimmelt es plötzlich von Wagnerischen Redewendungen. Die Gelehrten haben sie im einzelnen festgestellt. Man hätte sie kaum aufgefunden, wären die von solchen Vorahnungen freien Meisterschöpfungen Bruckners ausgeblieben, denn sie haben nur einen Umriß aus ihrem Entstehungsalter, doch keine Ziele für die Zukunft. Sie wären untergegangen mit den Verbänden, in denen sie stehen.

Sollte Kitzler nicht verwundert gewesen sein, als Bruckner eines Julitages wünschte, freigesprochen zu werden? Es schmeckte nach Zunft und Innung. Das innere Auge Bruckners sah unwillkürlich, ohne daß sein Bewußtsein aufzumerken brauchte, die Musikantenzunft mit Lehrbuben, Gesellen und Meistern in Stufenringen aufgebaut. Daher sein stetes Verlangen nach Lehrbriefen und Freibriefen. Kitzler versagte ihm den seinen nicht; sein Abschied von der Stadt stand bevor, man hielt sich wert und lieb, die Freisprechung wurde ein Freundschaftsfest. Bruckner lud das Ehepaar Kitzler ein, nahm einen Wagen und fuhr nach dem Jägerhause in Kirnburg. Mahl, Brief und Glückwunsch setzten der Unrast ein Ende. Kitzlers Nachfolger, Ignaz Dorn, hatte nur noch Anregungen zu geben, keine Lehren.

Wir verfolgten ein ungewöhnlich langwieriges und zähes Aufarbeiten der technischen Dinge. Doch auch der Arbeiter war von den technischen Dingen aufgearbeitet worden. Diese These meint nicht, daß er verletzt oder gebrochen war. Er blieb heil als geistige Person und hatte sie doch in die theoretischen Gegenstände hinein aufgegeben. Er war in die Bauformen und Baustoffe seines Werkes hinein versunken. Machte sich dieses nun mit Gewalt in die Erscheinung auf, so schuf es in handwerklicher Beziehung ebenso sich selbst, wie er es schuf. Der Verzicht auf den Ehrgeiz des Einzelmenschen hatte nicht von geizloser, allmenschlicher Ehre abgelassen.

Der Freund: Rudolf Weinwurm. – Bruckners Linzer Frist wollte vom Geiste ohne Rest zu fristentrücktem Gewirke verwebt werden, und doch hängte sich der ganze kleinstädtische Alltag an ihn, der Stunden verschmatzte, Wochen praßte, Monate wiederkäute. Die Liedertafel »Frohsinn«, deren Chormeister er eine Zeitlang war, tagte nicht nur, wenn sie in ihrem Vereinssaale übte, ihre Seele hauste überall und war am schlimmsten, wenn sie nicht sang. Sie lächelte spöttisch, wenn Bruckner brummend aus dem Domportal trat, sie schielte bei seinen zahlreichen Lektionen ihm auf Haltung und Lippen, sie tuschelte in Intrigen und schrieb in Zeitungen, so daß er vielleicht am liebsten die Tür zu seiner Zweizimmerwohnung im »Mesnerstückl« neben der Stadtpfarrkirche hinter sich schloß. Die Linzer waren nach seinem Urteil »echte Krähwinkler-Charaktere«.

Um sie zu erdulden, mußte man ab und zu sie schmälen oder sie mindestens mit Wehmut abschlagen. Dazu bedurfte man eines Freundes, der nicht zu groß, anhänglich und selber im Leiden an Kleinlichkeiten bewandert war. Bruckner fand ihn in Rudolf Weinwurm, dem Begründer des Akademischen Gesangvereins der Wiener Universität. Flüchtig hatte er ihn in St. Florian gesehen und bald nach seinem Antritt in Linz die Bekanntschaft erneuert, auf der Rückfahrt Weinwurms vom Salzburger Mozartfeste. Als dieser zum dritten Male die Orgelkunst Bruckners in Wien bewundert und den dankbaren Bericht Ludwig Speidels darüber gesandt hatte, war der Bund geschlossen. Weinwurm hatte einen Kreis berühmter Musiker zu dem »Privatgenusse« aufgefordert, und Bruckner antwortete: »Also du bist es, der sich geopfert, du, der für mich so treu sorgte, du, der mich auch künftig nicht verläßt.« Von nun ab nannte er Weinwurm den einzigen wahren Freund, den er besitze. Er fände in ihm das teilnehmende Gemüt, das er bei anderen Vertrauten vergebens suche. Er bat ihn um ein Bildnis, damit es lebenslang einen Ehrenplatz in seiner Wohnung einnehme. In der Mehrzahl der Briefe an ihn freut er sich auf ein Wiedersehen oder bittet inständig, der Freund möge gleich schreiben. Weinwurm mußte mehrmals mit Geld aushelfen, weil die 542 Gulden Sold und der Nebenverdienst nicht reichten. Um so notpeinlicher grämte sich Bruckner, als er eine Gegenbitte Weinwurms zu erfüllen nicht imstande war. Die läppischen Kleinigkeiten verschönerten sich im Herzen des Freundes. Bruckner zögerte nicht, ihm seine Quartierwünsche für Wien mit ausführlichen Einzelheiten vorzutragen, von der Gartenaussicht an bis auf die Retirade hinab. Das Poetische an derlei hausbackener Kameradschaft war die Gewißheit, alles werde wie von einem zweiten besseren und hurtigeren Ich ausgeführt werden. Er wußte seine Klagen über üble Behandlung durch die Mitbürger nicht in den Wind geworfen, darum jammerte er nicht viel, stieß ein paar kräftige Seufzer aus, polterte, rumorte ein wenig, damit der andere begriffe, wie es stand, und beide Verbündeten labten sich alsdann an der Wohltat, daß leisere Klageechos zwischen ihnen hin und her gingen. Einmal teilte Bruckner mit, wie die Mädchen einer auswärtigen Singakademie gegen ihn aufgereizt gewesen seien, wie er infolge arger Beleidigungen aus der Liedertafel ausgetreten sei, ein anderes Mal, wie ihm Weinwurms Bruder Alois in Linz das Du aufgekündigt habe, und er hätte den Grund der Verleumdungen und der Hetze nicht aufdecken können. Einmal bestürmte er Rudolf, ihm zu sagen, warum er gar auch bei ihm beschuldigt worden sei, des weiteren gestand er ihm, wie er, selber grippekrank, sich um ihn wegen der Cholera in Wien gesorgt habe. Die Anhänglichkeit zog ihn aus allen dumpfen Winkeln des Daseins fort, aber sie trübte ihm nicht den Blick für das Gerechte. Als auf einem Sängerbundesfest sein neuer erhabener Chor »Germanenzug« gegen Weinwurms »Germania« unterlag, mußte er von seinen Anhängern mit Zureden fast auf das Podium gezerrt werden, um mit dem zweiten Preise vorliebzunehmen. Das hinderte nicht, daß Weinwurm weiter sein »liebster und wärmster Freund auf der Welt« und der »Balsam des Lebens« blieb, daß er ihm sachlicher als irgendwem sein Ausspähen nach Liebe und Ehe anvertraute, daß er ihm die Kränkung erzählte, wie ihm das Schubertsche Ständchen als Geschenk zurückgewiesen worden wäre, kurzum: »Du bist mir unentbehrlich – ich habe nur einen Freund – und der bist du.«

Wir erschließen aus dieser Freundschaft, was Bruckner von Freundschaft überhaupt erwartete und worin er am einsamsten war. Gönner, Huldiger, Stifter haben ihn in den Hochgefilden seiner Sendung mehr beglückt, aber in den Tiefen des Alltags, mochten ihn die Fröhlichen umringen und er selber mit ihnen behaglich sein, kam ihm die Heimat abhanden.

In den ausgehenden Linzer Jahren wiederholten sich, ungeheuer verstärkt, die Spannungen, die vor dem Abschied aus St. Florian an ihm gerüttelt haben. Unheimliches hatte seine Nerven befallen, sie brachen zusammen. Es war jetzt nicht gut, wenn er allein blieb. Es war vortrefflich, daß ihn in der Kaltwasserheilanstalt Kreuzen der von Bischof Rudigier entsandte Priester bewachte und zu Hause während der letzten drei Jahre seine jüngste Schwester Maria Anna versorgte.

Die Wurzeln seiner überaus herben Melancholie sind in keinen äußeren Tatsachen zu ergraben. Was lag vor? Die Menge der Privatstunden schrumpfte zusammen und mit ihnen der Geldsäckel, aber ein Zuschuß zum Kurgebrauch wurde erbeten und gewährt, der Wunsch nach Gehaltsaufbesserung wurde gewagt in der Hoffnung, nicht taube Ohren zu finden. Bewerbungen um einen zusätzlichen Posten in der Stadt beim heruntergewirtschafteten Musikverein waren an Bruckners künstlerischen Bedingungen gescheitert – die Sänger sollten wenigstens für eine Stunde wöchentlich auf Ehrenwort pünktlich erscheinen –, Bewerbungen nach außerhalb, so um die Stelle des verstorbenen Hoforganisten Aßmayr oder die um eine Beschäftigung unter König Ludwig von Bayern, schlugen fehl, aber immerhin waren die Hochherzigen in Linz nicht träge geworden. Der Kreiskommissär, der Bischof, der Domdechant Schiedermayr blieben ihm gewogen, den Feldzeugmeister Grafen Huyn versetzte er bei einem Besuch durch sein Orgelspiel in eine Stimmung: Ehrfurcht! Ehrfurcht! Ihnen voran hielt, ihm unverbrüchlich verschworen, ein Schüler aus, sein einstiger Amtsnachfolger Karl Waldeck. Bruckner stieß ihn einmal im Zorn über unpünktliche Meßhilfe von sich, Waldeck aber vermittelte ihm Arbeit, immer treu.

Auch viel unglückliche Liebe erläutert uns seinen verzweifelten Zustand nicht. Sie war ebenso Folge wie Grund seiner Verstörtheit. Die siebzehnjährige Josefine Lang richtete die ernsteste Wirrsal in ihm an. Er hatte sie bei einer Schulvertretung kennengelernt, war in seliger Angst um sie, die anderen lächernd vorkam, stellte sie vor die unbedingte Wahl des Ja oder Nein und erhielt die »gänzliche ewige Absage«. Die Glut schwelte unterirdisch weiter und war nicht zu ersticken.

Seine Gesangsproben blieben leer. Warum? War die Welt als »Pagage« begriffen, wie es an Weinwurm heißt, war die Schwermut in Menschenfeindlichkeit umgeschlagen, warum dann der menschenhungrige Verzweiflungsschrei aus der Einöde: »Bitte innigst, retten Sie mich, sonst bin ich verloren«? Phantastische Auswanderungspläne gebaren sich in seinem Kopf. Er habe gehört, Weinwurm wolle zur Hofkapelle nach Mexiko gehen. »Ist etwas Wahres daran? Auch mir wurde ein solcher Antrag gestellt. Schweige gegen Jedermann hierüber und schreib mir. Gehen wir nach Rußland und wo immer hin, wenn man uns im Vaterland nicht kennen will.«

Eine Gaukelei täuschte ihn: er war bereits ausgewandert und hatte sein Land erreicht, kein anderes hätte ihm gefrommt. Der Blitz, um den er solange gerungen, war in mehreren Strahlen niedergefahren und hatte gezündet; eine alte Welt brannte aus, und er war mit unsichtbaren Brandwunden bedeckt. In die neue Welt, aus der die Blitze gesprüht waren, paßten die Gefährten nicht mehr hinein, und auch er als sterbliche Gestalt fand sich fortan nur unbeholfen darin zurecht.

Den zweiten Symphonieversuch in dmoll glaubte er eines Tages selbst mit einer Null überschreiben zu müssen. Obgleich er ihn überarbeitet hatte, fragte ihn ein Sachkenner, wo denn das Thema sei. Richtig, das Thema war eine arbeitende Begleitung. Die brauchbare Keimkraft im weiteren bewahrte sich ohne Zutun auf und streute ihre Samen von neuem aus, als sie gereift waren. Das Scherzo erschien schon in. der nächsten Symphonie wieder, verwandelt, gestrafft, herrischer im Geist, doch verwandt dem Vorgänger schon in dem anfangenden Unisono der Streicher.

Selbstüberschätzung plagte Bruckner nie. Aber als die Nullte (entstanden 1863/64, revidiert 1869) unverzüglich von der dmollMesse beiseite gedrängt war, fühlte er die Glieder der neuen Gestalt an und sagte sich auf seine Weise: Es sind Gigantenlieder. Er hieß sie »mein Kleinod« und schenkte sie in der Widmung der Gottheit. Ihre Form umschreitet schon sein All, hier das der religiösen Erlösung, in geschlossenem Kreise, wie deutlicher und deutlicher die Symphonien. Er stimmte dem golden in weiße Seide gestickten Motto zu, das ihm nach der Aufführung im Dome überreicht wurde: »Von der Gottheit einstens ausgegangen, muß die Kunst zur Gottheit wieder führen.« Erst der Tod entzog es seinen Augen; er hatte den kleinen Lorbeerkranz, an dem die bestickte Schleife hing, unter Glas rahmen lassen. Es begann und beschloß das Dankgedicht eines seiner besten Hörer, Mayfelds.

Ebenso war ihm der Rang seiner ersten bleibenden Symphonie in cmoll bewußt. Wir lesen es wieder mehr in Äußerungen seiner ganzen Natur als in gestochenen Worten.

In den Proben weinte er. Die Musiker mußten sich doch erbitten lassen, das Werk vor dem Höllensturz zu bewahren. Nach der Uraufführung war er trotz des Erfolges zerbrochen, nicht weil er wegen des schwachen Besuchs lediglich aus den Reihen der Aristokratie draufzahlen mußte, sondern weil er es mißkannt fühlte. Die Schwierigkeiten ohnegleichen für das Orchester besiegte er in sich nach dem Glauben, auf den Bach einst eine Motette gebaut hatte: Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf mit unaussprechlichem Seufzen. Die technischen Unbarmherzigkeiten waren aber leichter zu bezwingen als eben der unfügsame kühne Geist. Nach Jahrzehnten noch war Hugo Wolf vor ihm stutzig und gestand, bis auf das Scherzo und einiges aus dem ersten Satz gar nichts verstanden zu haben. Und Bruckner erinnerte sich aus der schmerzmildernden Rückschau, sich beim Finale um keine Katze geschert und nur den funkelnden Überfällen nachkomponiert zu haben. Absichtliche Vermessenheit widersprach seinem Sorgenweg bisher. Was wußte er, was er Böses mit der in langen Ehren ergrauten Sonatenform getan hatte, wie die drei Themen statt der klassischen zwei sowohl dehnten wie preßten, längten und kürzten, wie sich die Verhältnisse der Hauptteile verschoben hatten, wie statt der vorgefaßten Geschlossenheit der Gliederung die offenen Flutungen der Entwicklung eingedrungen waren, wie sogar der Tonalität schwindelte, wie sie sich langsam, atemschwer heranklärte! Was wußte er, welche Riesen er eingelassen und welche Lasten sie besonders in das Finale, den bisherigen Ort der Entlastung, hineingeschleppt hatten! Ebenso axiomatisch waren ihm die Qualstürme im Kyrie der emollMesse, die Verzahnungen und Verbeißungen der Geschlechter Dur und Phrygisch in ihrem Gloria.

Dem widerspricht keineswegs sein fröhliches, geradezu mutwilliges Untertauchen in bürgerlichem Behagen. Er wollte kein mystischer Meister werden, seine Ohren hatten von dergleichen nicht vernommen, er war es aber, und sein gütiger Dämon flüsterte ihm ein, er solle probieren, es zu verleugnen. Zudem brauchte er die breite oberösterreichische Weltlust, um mit ihr in seinem Klangreich die Feierabendtänze zu begehen. Das Vergnügen, mit dem er deftigen Speisen überreichlich zusprach, die Munterkeit, mit der er Wein trank, schnupfte und rauchte, in unbelästigende, wohlig weite Kleidung gesteckt, gab ihn der bescheidenen Mitmenschheit wieder, und sie huldigte ihm in geselligem Geschwätz, wie sie es verstand. Der »Bayerische Hof« und der »Rote Krebs« haben ihn oft gesehen und ihm Leckeres geboten. Seine strotzende Gesundheit wollte in der Arbeit wie in der Rast gleich beschäftigt sein. Er dämpfte sich, er räumte den einen Tisch ab, indem er den anderen besetzen ließ. Er heilte die spukhafte Krankheit der Überanstrengung, die in Spalten seines Ichs nistete, gleichsam durch Auflegen des nächstbesten Lauwarmen.

Zur Sangesbruderumgebung, der er Seichtes und Süßliches aus der Kehle zu schmeicheln hatte, konnte er von seinem Vollbringen unmöglich sprechen, und zu sich selbst davon zu sprechen, war überflüssig, da er als Vollbringer sich schon ohnehin mit Füßen trat. Damit hielt er den Schein aufrecht, als wäre er noch der Bruckner vom »Krebs«, nachdem er durch unbegreifliche Explosionen zu neuer Persönlichkeit umgeschaffen war.

Die Übergänge wurden ihm unkenntlich wie überschwemmte Furten.

Wie die Tiere eine in ihrer Umgebung unauffällige Schutzfarbe annehmen, war seine körperliche Gestalt von einer in die Provinzstadt passenden Schutzgestalt überdeckt. Der gut mittelgroße Mann war stämmig, ein biederer Blick konnte ihn für behäbig halten. Der volle Hals, die breite Brust verrieten zwischen und in den »Häuserkisten« nichts von der Muskelanstrengung, die in den Orkanen des Orgelspiels notwendig und so hitzig war, daß die Wäsche oft mehrmals am Tage gewechselt werden mußte. Und doch scheint in einem damaligen Lichtbild der Ansatz des Nackens, den hartstirnigen Rundkopf gebieterisch zurückzuwerfen, nur gebändigt. Das fleischige Gesicht unter der schlichten Kappe brauner, kurzgeschnittener Haare ist für die erste Musterung wohlwollend intelligent, es könnte, wenn auch nicht gerade einem Gastwirt oder Gewerbetreibenden unter seinen Vorfahren, einem im Verwaltungsberuf Aufstrebenden gehören. Noch ist die Nasenwurzel verdeckt, und was an Leid und Energie auf der Oberlippe über dem geschwungenen Mund irisieren mag, verhüllt sich unter dem breiten Schnurrbart. Die Augen allerdings fragen wie auf jedem Bilde ruhig in ein hinter den Erscheinungen liegendes Erstaunliches hinaus. Noch ist ihr Blau dunkel, später scheint es blasser geworden zu sein. Die von ihnen ausgehenden Falten haben etwas Gütiges und Blankes. Unter dem rechten Auge hat sich in den erbarmungslosen Vigilien ein schmaler Sack angestaut.

Als er einmal auf dem Fasching den weltreisenden Geiger in wallendem Mantel vorstellte, war die Violine winzig. Die vorgegebene Winzigkeit war auch im Leben ohne Faschingsflitter oft sein Schutz.

Wie vor dem Abschied aus St. Florian befiel ihn wieder eine halb aufgeregte, halb lethargische Unentschlossenheit. Simon Sechter war im September 1867 gestorben, es gab keinen geeigneteren für die Nachfolge als ihn. Herbeck wollte ihn demnach an seine Anstalt, das Wiener Konservatorium, ziehen. Bruckner, ganz Kniefall und ganz Zweifel, sah ihn wie den Versucher zu sich kommen, der die Herrlichkeit der Welt in Händen hielt und, ach, sie ihm nicht zu Füßen legte. Er begann zu schwanken, nach rückwärts Halt, nach vorwärts Sicherung suchend, daß sein Fall furchtbar nahe war. Das hinter ihm Liegende war gediegen, aber karg, das vor ihm Lockende nebelhaft, aber geräumig. Das äußere Leben starrte ihn mit einem Male so kahl und unfruchtbar an, wie es war. Er zitterte und forderte wie ein Wucherer. Einmal mußte sich sein Los wenden. Griff er diesmal falsch, so schlugen die bitteren Wasser über ihm zu. Herbeck mußte ihm die unwürdige Verzagtheit verweisen. Er solle nicht so überspannt vom Gehen »aus der Welt« schreiben, wo er »in die Welt« aufbräche. »Es geht ja alles gut! Also ruhig Blut! Haben Sie so wenig Vertrauen auf mein gegebenes Wort, daß Sie sich zu so jammervollen Ausbrüchen gedrängt glauben. Es ist nicht wahr, daß Sie überall daneben kommen, daß Sie Ihr Vaterland verstößt, Sie müssen nur so gerecht sein, einzusehen, daß eine Existenzfrage nicht im Handumdrehen abgetan werden kann, namentlich wenn von dem Betroffenen wichtige und begründete Besorgnisse ausgesprochen werden.« Am gleichen Tage, an dem Herbeck dies schrieb, gab sich Bruckner in einem Briefe an Weinwurm verloren. Statt des Vertrages über die Professur in Generalbaß und Kontrapunkt und Orgellehre am Wiener Konservatorium mit 800 Gulden Gehalt neben der Exspektanz einer Hoforganistenstelle blieb das Nichts. Über Linz war er durch die Verhandlungen innerlich längst hinaus. Es heulte in ihm wie ein aschentreibender Wind. Weinwurm könne sich von seinen Schmerzen und seiner gräßlichen Trauer keinen Begriff machen, er könne weder essen noch schlafen und meine, er müsse hinabkriechen. »Weinwurm, bemitleide mich doch, daß ich hoffnungslos – vielleicht auf ewig verlassen dastehe!« Ebenfalls selbigen Tages streckte er die Hände nach Hans von Bülow aus.

Eine wahre Apokalypse der Kleinmut brauste über ihn hin. Sie ist nicht der Spuktraum eines Beliebigen. Die Hälfte seines Lebens hatte er dem Satan der Plage geopfert, um die andere dem Erzengel opfern zu dürfen. Nun erhob sich die Gefahr, daß das erste Opfer vergeblich sein, das zweite nicht angenommen werden würde. Das Gewissen, die Lauterkeit und den Edelmut in der Mittlerschaft Herbecks leugnete er nicht, aber wie sollte Herbeck ahnen, daß seine Grundkraft nicht der Stoß war, sondern das Aushalten: Andacht in der nüchternen Arbeit, in der Bewunderung.

Indessen, wie ihm verheißen war, es ging ja alles gut. Er erhielt die Professur. Um den gleißenden Titel Professor hatte er sich schon früher vergebens bemüht.

Nein, es ging nicht gut, ohne Schuld Herbecks. Nach der ersten Verbannung in Windhaag hatte er die zweite vor dem Losreißen aus St. Florian durchlebt, die dritte längere vor dem Losreißen aus Linz – nun ging er in das vierte und endgültige Exil.

Linz aber wurde nach seinem Abschied zur eigentlichen Brucknerstadt.

Von der Übersiedlung nach Wien ab scheint Bruckners äußeres Leben stillezustehen. Wir fahren uns über die Augen, als müßten wir eine Täuschung wegwischen: War er nicht in zahlreicheren und gewichtigeren Ämtern eingespannt als bisher? Machte er nicht häufigere und weitere Reisen? Wuchsen nicht die Triumphe aus Hügeln zu Bergen, die Niederlagen aus Gruben zu Schlünden? Drängten sich nicht die Aufführungen seiner Werke in Städten und Ländern bis über den Ozean? Reichte seine Bekanntschaft nicht vom Gauner bis zum Kaiser?

Haben wir die siebente, die achte oder die neunte Symphonie im Gehör, um nur diese drei zu nennen, die Königen gewidmet sind – mit Bruckners Worten dem König vom Geist Ludwig II., dem König der Macht Franz Joseph und dem König von oben –, so zählt das alles nicht. Die Ämter, sie sind Fortsetzung des Früheren, und sie fangen ihn nicht mehr. Die Erfolge und Mißerfolge, sie sind Vergrößerungen und Verkleinerungen des Bisherigen, die Reisen, sie sind Wiederholungen, die Aufführungen – wir behalten die Daten nicht mehr, wir nennen uns nur mehr die Dirigenten der ersten Darstellungen, nicht mehr die der zweiten und dritten, wir schlagen das in den Annalen nach. Die Chronik erfaßt plötzlich nicht genug, sie scheint überdrüssige und untreue Dienste zu tun. Sie leitet nicht in die Flüsse der Geschichte, sondern in die Weiher und Lachen der Anekdote. Die Lebensentwicklung zögert auf den zielstrebigen Pfaden und durchquert und umkreist dafür Schichten.

Die Stadt Wien selbst zog sich vor Bruckner zurück und übersprang ihre alten Wälle und Gräben. Eine prachtreiche Bauepoche brach an, die Oper und das Konservatorium waren unter ihren ersten Zeugen. In die Breitspurigkeit und – da die breiten Spuren auch seeleneinwärts führen – Lügenhaftigkeit des Lebens fand sich Bruckner nicht.

Unterdessen bauten unsichtbare Fäuste einen visionären Weltraum aus. Die Reihe der Symphonien scheint auf, in größerer Höhe nochmals annähernd vollständig die gleiche Reihe, in dritter Überhöhung abermals, dazwischen unter den Firnen kürzere Gesangswerke. Während der Jahre 1869 bis 1896, von der Ankunft in Wien bis zum Tode, hört das Wimmeln und Webern der Gedanken an und ab, hin und wieder nicht auf, gleichgesonnener großer Gedanken. Die zweite Symphonie entstand 1871/72, die letzte Eintragung darin 1891, die dritte in dmoll, die Wagnersymphonie, in erster Fassung 1873, in zweiter 1876/77, in dritter 1888 bis 89, die vierte, romantische in erster Fassung 1874, in zweiter 1877/80, in dritter 1888/90, die fünfte, kontrapunktisch dichteste in Bdur 1875/77, die sechste, luftigste und »keckste« in Adur 1879/81, die siebente mit dem ewigen Lichte » non confundar« in Edur 1881/83, die achte, prophetisch heldische in cmoll in erster Fassung 1884/85, in zweiter 1887, in dritter 1890, die neunte gotische in dmoll bis zum vollendeten Adagio 1891/94, mit fünffachen weitausgeführten Skizzen zum Finale bis 1896. Die erste wurde 1890/91 nochmals bearbeitet, das Streichquintett 1879 geschrieben, das Tedeum zwischen 1881 und 1884, der 150. Psalm für gemischten Chor, Sopransolo und Orchester 1892, der orchesterbegleitete Männerchor »Helgoland« 1893. Dazu gesellen sich wohl zwanzig Gelegenheitsarbeiten.

1878 entstand ein chorischer Nachruf für den Freund aus der Jugend, Seiberl, ein Antiphon » Tota pulchra« für Tenorsolo mit Chor und Orgel zum fünfundzwanzigjährigen Bischofsjubiläum Rudigiers. 1879 ein » Os justi«, 1882 zu dem in der Überschrift ausgedrückten Zwecke der »Sängerbund«, 1883 für das schönstimmige Fräulein Luise Hochleitner ein » Ave Maria« für Alt und Harmonium, 1884 ein acappellaGraduale » Virga Jesse«, ein » Eccesacerdos« für siebenstimmigen gemischten Chor, Orgel, drei Posaunen, 1886 der Männerchor »Um Mitternacht«, 1891 ein Karfreitagsgesang für St. Florian » Vexilla regis« und der Männerchor »Das deutsche Lied«.

Auf der Tafel dieser Daten lesen wir, wie Bruckner, abwendig den Niederungen, aus denen er ins gebirgig Schroffe stieg, doch der Treue zur Herkunft auf keiner Stufe vergaß. Zwar schrieb er, wenn er süchtig nach Orchesterklang war, nicht Brummchöre wie einstmals, aber eigenwillige Zusammensetzungen des Instrumentenensembles stellten sich noch immer ein; zwar komponierte er nicht mehr für die Kurzweil im Lehrer- und Bürgerstübchen, aber der Salon einer aufrichtig bestrebten Dame blieb ihm recht; zwar bot er Männerchören, die sich in die Brust werfen wollten, nichts Taugliches mehr, aber solchen, die sich vor Schwierigkeiten nicht fürchteten, richtete er die Phalanx. Der Kirche, in der seine zeitliche Wohnung wohnlicher war als in Zinshäusern, versagte er seinen tönenden Dienst nicht.

Aber in einer Wachheit über dem allen bauten unsichtbare Fäuste jenen visionären Weltraum aus.

Mustert man das reife Schaffen Bruckners aus zusammendrängendem Abstand, so zeigt es eine merkwürdige Symmetrie, als hätte dem Schicksal diese ausgewogene Einheit vorgeschwebt. In der Mitte der Symphonienreihe liegt die Burg der Fünften mit dem ungeheuren orchestralen Fugenmassiv, wo bei den ersten Aufführungen zwei Bläserorchester sich ablösten, so gewaltig war der befohlene Aufwand an Atem. Alle Teile und Sätze sind ineinandergeklammert, aufeinander bezogen, aus zyklopisch simplem Grundmaterial aufgeführt (siehe die Tabelle bei Haas). Drei Jahre blieb Bruckner an der Arbeit; er hat das Werk nie gehört, die Welt hat es fast bis auf unsere Tage nicht gekannt, denn der Druck hat seine Form im entscheidenden Finale durch vernichtende Striche, fälschende Änderungen der Instrumentation, der Tempi, der Dynamik und noch Roheres verwüstet. Und gerade dieses Werk ist uneinnehmbar, unzerbrechbar, unzerreißbar.

Zu seinen Seiten liegen je vier Symphonien. Vor der ersten gültigen liegen zwei auf dem Papier zwar vollendete, aber innerlich noch nicht vollendete Vorsymphonien, die sogenannte Studiensymphonie und die sogenannte Nullte. Hinter der dreisätzig fertigen neunten Symphonie liegt das innerlich zwar vollendete, aber auf dem Papier nicht zu Ende gediehene Fragment des Finales dieser Neunten.

Zwischen die Erste und Zweite schiebt sich die fmollMesse, zwischen die letzten völlig durchgeführten Symphonien das Tedeum und der 150. Psalm – jene riesenhaften symphonischen Dichtungen mit menschlichen Stimmen, die erste nach der Prüfung durch den Wahnsinn, die letzte vor der Prüfung durch den Tod.

Neben dem harten Werke der Mitte, der fünften Symphonie, welche die Sonatenform nicht sprengt trotz der aus den Tiefen des harmonischen Magmas flammenden, ganz unlinearen Fugengewalten, sondern die Sonate an die Grenze ihres Gebiets rückt – man muß an die Große Mauer in China denken –, neben diesem Werk oder vielleicht in seinem Schutz und Innenhof steht die in den Mitteln zarteste Schöpfung Bruckners, seine einzige Kammermusik, das Streichquintett.

Das strotzend wild in den Vordergrund preschende Hauptthema des ersten Finales mit seinem Sprung in die Oktave hinauf und seinem Rollen die Oktave hinunter empfing von seinem Erfinder in der Rückschau den Namen »Da bin i!«, das allerinnerste Thema im letzten Adagio-Finale wurde von ihm in der Vorschau »Abschied vom Leben« getauft, und es war in der Jugend schon einmal getauft worden, in einer Messe, und es hatte damals »Miserere« geheißen. Jetzt heißt es nicht mehr so, sondern Helle aus der höchsten Höhe fällt als Schlußverkündung auf sein Gebet: das Hauptthema der siebenten Symphonie.

Es ist selbstverständlich, daß solcherlei Symmetrien, nun aber nicht mehr im bloßen Anblick, sondern tätig, das Einzelwerk durchwalten, aber wir finden sie in erstaunlicher Reinheit schon in seinen kleinen Einheiten. Viele Themen bieten wunderbare, gleichsam mathematische Figuren dar, errichten, während sie sich entfalten, ein statisches Gesetz, so das die dritte Symphonie beginnende Trompetenthema. Es steigt von der Oktave seiner Tonart über die feste Hauptstufe schräg zum Grundton hinab, dann, wieder mit nachdrücklicher Rast auf der Hauptteilungsstufe, die gleiche Oktave hinauf, mit vermehrter Bewegungsenergie, denn der Aufstieg ist etwas mühsamer. Die Zählzeiten der Noten des Abstiegs sind: vier, dann drei und eins, dann wieder vier. So wurde eine Oktave in ihrer Leere ausgemessen, denn hallt sie nicht leerer, wenn die Quint hinzutritt, als wenn unterster und oberster Ton ein Unisono bilden? Durch die Quint ist das Flächige räumlich geworden. Was nun? Die folgende halbe Pause scheint es zu fragen. Da regt es sich im verlassenen tiefen Grundton, nimmt einen triolischen Anlauf mit kleiner Terz, ersteigt die Quint und dann, gedehnt, Schritt für Schritt die Oktave des Ausgangs. Der Weg aufwärts ist nicht mehr leer, er ist voll Bewegung und Leben. Was zuerst harmonisch war, ist nun melodisch geworden, und beide Abschnitte sind, als werdender sowohl wie als gewordener Inhalt betrachtet, doch fast kongruent.

Das Ganze dieses Themas aber hat Symmetrien mit dem Bau aller Brucknerschen Hauptthemen. In ihnen ist ein Typ zu enthüllen. Auer formuliert: »Alle diese Themen zeigen als Urzelle den Quintschritt als harmonisches und die um seine Randpunkte oszillierenden Wechselnoten als melodisches Element.« In der Doppelung gibt sich wie in den beiden Keimblättern der von Goethe geschauten Urpflanze die unbegrenzte Metamorphosenkraft der Brucknerschen Musik als erster mythischer Spruch kund. Die zweiten Themen singen, wie die ersten sagen, die dritten arbeiten danach – auswärts, einwärts: alle aus gleichem Baustoff. Welchen Kosmos?

Zweites Stück

Thomas von Aquino spricht in seiner »Summe wider die Heiden« davon, daß Unzuträglichkeiten folgen würden, wenn die Wahrheit von den göttlichen Dingen nur durch die Vernunft erforschbar und nicht auch durch Glaubensüberlieferung zugänglich wäre. »Denn von der Frucht mühefreudigen Forschens, welche das Auffinden der Wahrheit ist, werden die meisten aus drei Ursachen abgehalten. Einige nämlich durch das Nichtveranlagtsein ihrer Säftemischung, aus dem heraus viele von Natur her zum Wissen nicht veranlagt sind, weshalb sie auch durch keine Bemühung daran würden heranreichen können, daß sie den höchsten Grad menschlicher Erkenntnis erreichten, der im Erkennen Gottes besteht. Einige hingegen werden durch den Zwang häuslicher Verhältnisse behindert. Es muß nämlich unter den Menschen solche geben, die sich mit der Verwaltung der zeitlichen Dinge befassen und die so viel Zeit in der Muße beschaulichen Forschens nicht würden aufwenden können, daß sie an den höchsten Gipfel menschlichen Forschens heranreichten, das ist: an die Gotterkenntnis. Einige aber werden durch Faulheit gehindert.« Als weitere Unzuträglichkeit nennt Thomas dann die notwendige lange Übung zur Anpassung an das Höchste, da die Seele in der Jugendzeit noch in verschiedenen Regungen der Leidenschaft flute, und als letzte die unserer Vernunft zumeist beigemischte Falschheit.

Anton Bruckner von Ansfelden trägt die fünf Kennmale, die hier nach der Einschau eines der erleuchtetsten Sucher aller Zeiten einen Menschen befähigen, die Wahrheit von den göttlichen Dingen zu sammeln und zu erfahren. Er besaß die Säftemischung, die ihn befähigte, die – doch auch aus Feuer gemachte – Flamme der Geduld anzuzünden, eine Kienspanflamme wie in den Windhaager Nächten, und bei ihrem Lichte dreißig Jahre lang zu forschen, – dann die Fackel zu entfachen und sie dreißig Jahre dem Genius zu halten. Ferner wurde der ehelose Mann in winzigen Wohnungen mit einem Weihwasserbecken und einem alternden Flügel nicht von häuslichen Verhältnissen zerstreut. Drittens: das Hindernis der Faulheit war ihm so fremd wie der Unglaube; ihm stände der Name »das fleißige Herz« an. Viertens ließ er es an der notwendigen langen Übung zur Anpassung an das Höchste nicht mangeln und lenkte die Flutungen der Leidenschaft ihm zu. Endlich war seiner Vernunft keine Falschheit beigemischt.

Er war wohlausgestattet, in seiner Musik die Wahrheit der göttlichen Dinge zu künden.

Hier stocken wir schon. Woher wissen wir, daß es in den Symphonien Bruckners um äußerste Dinge wie Gotteserkenntnis und Gottesaussage gehe? Wir meinen die Frage nicht eng; wir meinen sie wie ein durchbohrendes Schwert, gerichtet gegen das Letzte. Billige Beweise für Bruckners Einigkeit mit seinem katholisch konfessionellen Gewissen sogar innerhalb der Kunst helfen uns nicht. Ein paar Miserere– und Benedictus-Zitate, aus Messen in die Symphonien hinübergenommen, erklären nicht das geringste an unserem Eindruck: Deum a tergo vidi et obstupui. Die Gottheit nur vom Rücken gesehen zu haben und zu erschauern, es zerschlägt den Gedanken an jede kodifizierte Konfession. Der Schreck soll uns nicht körperlich gelten, sondern sein Zeichen soll die letzte seelische Erweckung andeuten, das letzte Staunen, das letzte Merken, die letzte Andacht. Unser Frommwerden vor Bruckners Symphonik nährt sich nicht an Weihrauchgeruch, eher an Gewitterozon, es sieht auf keine Geißel der Kasteiung, eher auf peitschende Gischtbrandungen des Ozeans.

Wäre es nicht trotzdem vermessen, dieses Elementare trotz unserer Vorbehalte und Verwahrungen vor abnutzbaren Hyperbeln mit unserem Begriff aller Begriffe zu taufen? Zwar schrieb Bruckner, als er das Tor seiner Welt mit der dmollMesse auftat, über den Eingang: O. A. M. D. G., das ist: Omnia ad majorem dei gloriam, und als er das Tor schloß, stand die Inschrift vom Tedeum her und als gedachte Widmung der Neunten wieder da. Das ist eine stolze Entsprechung des J. J. Johann Sebastian Bachs: Jova juva oder Jesu juva. Aber schon in die erste große Messe ist die Symphonie eingebrochen: Leiden und Sterben Jesu sind dem Orchester vorbehalten, welches das überlieferte Symbolum nicht beten kann. Ebenso reißt das Orchester außer dem Erdbeben die Auferstehung an sich; im Hosianna verfärbt es rücksichtslos die Harmonien nach seiner Lust. Auch die Einleitung des Benedictus bleibt durch sechzehn Takte Herrlichkeit des Orchesters: das Cello führt an und beginnt vor dem Chor. – Für einen über das Bekenntnis hinausgerichteten Willen spricht auch, daß in der fMesse Inkarnation, Eintritt ins Menschenwesen und Kreuzigung thematisch gleichlaufen: der Gottmensch befindet sich in allen Stadien im vorweggenommenen Lichtreich des Auferstandenen.

Sollen wir dieses christliche Lichtreich mit dem Wohnsitze der Gottheit identifizieren? Wir haben etwas höchstes Namenloses gespürt und verzichten nicht darauf, den höchsten uns bekannten Namen aus der Umklammerung durch den Gebrauch in Tausenden von Jahren und Millionen von Händen zu lösen.

Der erste bedeutende Apostel Bruckners bemerkte, beim Anfang einer Symphonie Bruckners beginne nicht ein Musikstück, sondern die Musik. Weil der unüberhebliche Hörer sich diesem Eindruck schwer weigern kann, trägt sein Ohr ihn über den Anfang hinaus in den Uranfang. Zuweilen ist wirklich die Regung im anhebenden Orchester noch jenseits von Ton und Klang, dabei von einer eben noch erträglichen Weihe der Erwartung, wenn man weiß, was in den nächsten Takten sich gebären wird, denn wundersamerweise hört man erst bei wiederholtem Hören zum ersten Male, nicht beim ersten. Doch hätte die Weihe mit etwas Außerweltlichem zu tun? Entsteht aus dem Tönen der Ton und aus dem Zusammentönen der Klang, Harmonie, Melodie, so geht das Schicksal der Töne nach menschlichen Methoden fort bis ans Ende. Von wann ab wäre der Eintritt der Gottheit festzustellen, durch welche Pforte träte der Gott in seine Welt, wo wäre überhaupt eine Welt? Heften wir dem Unaussprechbaren hinterrücks doch wieder ein Dogma an? Blieb es unaussprechbar, da es im Klange sinnlich ausgesprochen wurde? Wir sahen Dogmatisches in die Instrumente verlegt: Leiden und Sterben Christi. Leidet Christus dort noch? Stirbt er noch dort?

Rühren wir an den Schlaf des Alls, in dem wir uns nur eine Fingerspanne weit träumend hin und her bewegen, so verschwindet der perspektivische Irrtum, der die Natur und den Geist getrennt und widersetzlich zeigt. Die Menschheitsgeschichte mit dem Geiste als ihrem Regenten verkleinert sich zu einem winzigen Ausschnitte aus der Gesellschaftsgeschichte der organischen Gattungen, soviele ihrer sind, und diese wiederum bildet einen Bruchteil in der Entwicklungsgeschichte der gesamten Lebewesen. Die Epoche der Wissenschaft von der Gottheit, gestalte sie sich in Mythen und Kulten, Prophetien und Theologien, in der Furcht des Totems oder im Vertrauen der Kunst, ist nur ein Kapitel in der anthropotropen Artgeschichte, – das letzte bis jetzt, aber was uns im Rücken liegt, kann auch vor unserer Stirn liegen. Es hieße an der Gottheit freveln, sie nur dem einen Kapitel der versuchten Erkenntnis vorzubehalten. Die Verzweiflung darüber, stets auf ein Vorletztes zu stoßen, niemals auf ein Letztes, hat die ehrwürdigen und manchmal nur bunten Sorgen, sich des Letzten dennoch zu bemächtigen, hervorgetrieben.

Die Mächtigsten unserer Gattung werden in der Tat des Geheimnisses teilhaftig, nicht seines Inhalts, doch seiner Äußerung in ihnen. Es neigt sich ihrem Glauben sowohl wie ihrer Offenbarung. Das Was ihres Glaubens und ihrer Offenbarung wäre wieder nur Inhalt, das Wie ist Äußerung wie in der übrigen Natur. Das läuft nicht auf jene Allbeseelung hinaus, die wir Pantheismus nennen, denn auch die Seele ist schon Äußerung. Und eine Äußerung über viele zu erhöhen, wäre dünkelhaft vom Humanen her.

Im Abscheu davor haben die großen scholastischen Denker sich geübt, zu teilen und nochmals zu teilen, abzuziehen und nochmals abzuziehen, und sie haben dennoch das Ganze übrigbehalten, nicht krank und mager, sondern unendlich gestärkt. Im Lächeln darüber haben die großen mystischen Denker sich befleißigt, zusammenzutun und zusammenzutun, Armut und Armut, Fülle und Fülle, Schweigen und Schweigen, und das Ganze ruhte fort in sich, kein Mehr und kein Minder. Die Natur mutet in ihren Nachdenksamkeiten fern an, als sollte sie erst erscheinen, aber auch der Geist, aber auch der Gott. Der Eindruck rührt daher, daß die Gewohnheit und das Gewöhnliche unseres Denkens ausgeschaltet sind, daß die zahllosen Eigennamen für die Einheit ausgelöscht wurden. Man kann sie nicht mehr anrufen, als kennte man sie. Sobald man die Einheit nicht wie seinesgleichen anruft, offenbart sie sich.

Eine dieser Offenbarungen ist in Bruckners Musik zu uns gekommen. Da sie als Musik kam. ist ihr Erstes nicht Kühle der Natur, des Geistes, der Schöpfung, der Gottheit – wie soll man ihr Elementares am triftigsten ausdrücken? –, sondern Strahlung. In ihrer Wärme liegt der Glaube an göttliche Wirklichkeit wie an jede.

Wir begäben uns in die Irre, wenn nicht viel von dem, was wir für Bruckners Musik in Anspruch nehmen, für alle oberste Musik gälte. Nur das Entzücken, als entstände das Elementare hier zum ersten Male, befällt uns selbst wie etwas Elementares.

Am geizigsten sind die Menschen mit dem Gefühlsopfer. Sie haben als Kinder aufgenommen und angenommen, ehrlich zu sich, redlich zur Gabe; sie haben sich kneten lassen, umgestalten, verunstalten lassen aus dem Naturstand, wenn man will. Nun kommt je und je einer, der sie wieder mit dem Einfachen beschenken will, der sie aufmerksam macht wie Adalbert Stifter, daß Gehen, Stehen, Sitzen, Schlafen in den Jahrtausenden dauernder sind als ihr Wann und Wohin, ihr Wer und Was, daß Gruß und Abschied im Grundriß menschlicher Begegnung wichtiger sind als ihr Anlaß, Zweck und Inhalt.

Und es kommt einer wie Bruckner, dem das Leben gerade hinreicht, um mit dem Entzücken über Dreiklänge und Septakkorde fertigzuwerden. All der wahrhaft zermalmende Kunstverstand, den er um dieses Entzücken breitete und tummelte, dünkt sich nicht erhabener als die Seligkeit eines solchen Dreiklangs. Das sollte den Hörer zum Erstaunen einladen, doch der entsinnt sich lieber, daß es schon lange her ist, als Haydn in der »Schöpfung« mit so einfachen Harmonien aus Moll malte, wie Gott sprach: Es werde Licht! – und wie er dann im parallelen CdurDreiklang aufwärtsjubelte, um mit gewaltiger Wirkung auszudrücken: und es ward Licht! Es ist dem Hörer unvergeßlich, weil das Einfache, auch nach zehntausend Wiederholungen, erstmalig bleibt, wenn es als ein Einmaliges erfunden wurde. Vereisende Hörer aus Altland und versengende aus Neuland überhören leicht, was weder in Altland noch Neuland noch in der Mitte liegt. Bruckners Schlichtes, seine Pausen, sein Stieg in Staffeln, sein animalisch spürsames tonales Gehör, sein selbstverständliches Anknüpfen über breiteste Strecken hin verficht seinen besonderen Anspruch.

Erst wenn die Natur sich ganz und gar als Natur äußert, zeigt sie sich als Geist, erst wenn der Geist sich ganz und gar als Geist bekennt, bekennt er die Natur. Den kosmischen Einblick in beide sucht von ihrer letzten Warte auch große Wissenschaft, große Philosophie, große Theologie. Ihre Systeme beweisen nur scheinbar das Unbeweisbare, dem sie als ihrem einzigen Sinn allesamt zulaufen. Am hellsten ist der Einblick von den Künsten her. In ihnen sammelt sich die Leidenschaft des Seins, Werdens, Vergehens – ätherisches Spiel, welches das Dasein ist. Der Künstler reißt dieses reinste Spiel an sich wie Beethoven, oder er läßt sich von ihm hinnehmen wie viele andere auf vielerlei Arten.

Ein früher Christus von Dürer liegt auf der Erde von Gethsemane hingeworfen, er gibt die Brust, den Leib, die Beine an sie auf, er breitet die Arme an sie hin, als wäre es die ganze Erdkugel, die er umklammere. Bach lauscht in dem sausenden Geschehen mitten inne: ihm ist es immer da im Kreislauf der Heilsgeschichte – Geburt, Erdenwandel, Tod, Auferstehung und wieder Geburt, ohne Ablaß. Es hat nicht begonnen und endet nicht. Das Kirchenjahr kreist, so das Sünderjahr, das Königsjahr, der Äon des menschgewordenen Ewigen. Weihnacht, Passion, Pfingsten sind überall, kehren immer wieder, in den Lüften und Wettern, in allen Geschöpfen, in der Dreiheit Hölle, Erde, Himmel, in der Trinität. Wo er hingreift, sei es, daß er ein Instrumentalkonzert ersinne oder einen Inkarnatus-Chor. ist ein Stück davon; das Schweigen unterbricht das All-Tönen nur zufällig.

Je nachdem wir die Schwerkraftsmitte des Brucknerschen Werkes unter wechselnden Begriffen zu bestimmen suchen, ereignet es sich in den verschiedenen Sphären des Gefühls, die alle das Gleiche bedeuten. Die Sphären stecken ineinander, die Umfange der einen verlaufen näher, die der anderen ferner zur Mitte. Wir bedienen uns dieses Gleichnisses und vieler anderer, weil auch die abstrakte Sprache nicht von der Anschauung zu lösen ist, doch vergessen wir keinen Augenblick, daß Gleichnis nie die Gegenwart ersetzt.

Am nüchternsten benannt, könnte das die Sphäre dieser Musik Zusammenballende vielleicht das Scholastische heißen. Es enthält, was die Jahrhunderte an Lehre gefunden haben. Es betreibt ein bewußtes Verwalten des Geheimnisvollen. Die Scholastik beruft sich immer auf einen Aristoteles, und hätte sie ihn der Gottheit so nahe gebracht wie Thomas von Aquino. Schrieb Bruckner einmal das Wort äolisch nachträglich auf eins seiner Notenblätter, ziemlich früh, so rief er die Autorität der Kirchentöne an; unterzog er die Posaunenchöre seiner Symphonik einer Sondermusterung, ob sie der Sechterschen Fundamentallehre standhielten, so grüßte er die hohe Schule, die allgemeinverbindlich und unerschütterlich das Falsche vom Richtigen schied, nicht zu Lohn und Strafe, nur zur restlosen Erfassung.

Eine andere Sehweise wäre die geschichtliche. Die Sphäre wächst. Beethoven schließt sich auf der einen Seite an, Wagner auf der anderen; Schubert lebt mit seinem volkstümlichen Gesänge und seinen Harmonierückungen in Bruckner weiter; Verdi denkt in einer Messe wie er. Eine ziemlich häufige, holde Kadenz, die nach ihrer Verschwisterung mit Textworten Marienkadenz benannt werden konnte, schreibt sich von Mozart und Haydn her. Die große gmollOrgelfuge von Bach leiht sich mit einem Stück ihres Subjekts dem unbewußten Gedächtnis dar. Aber auch höchstwahrscheinlich Ungekanntes wie das Thema der BACHFuge Bachs wird wiedergeboren. Die Gesinnung der letzten Quartette Beethovens wird vor dem Kennenlernen in Bruckners Quintett Gesang. Ebenso geistert der Kampf unserer Tage um erweiterte Tonartlichkeit in kürzeren Strecken Brucknerscher Musik voraus. Nicht in der emsig besuchten Vorlesung des Professors Hanslick, der eine breite formalistische Wüste bis ins achtzehnte Jahrhundert hineingedehnt sah, hat Bruckner die Geschichte seiner Kunst gelernt, nicht in Archiven. Bibliotheken und historischen Konzerten hat er sie studiert, sondern sie entstand in ihm autochthon noch einmal. Sie war in der Realität, unbeschadet der Um- und Abwege, vom großen Gesetz beherrscht. Es ist transzendent. Das kleine Gesetz zu erfüllen, wenn das große es will, ist selbstverständlich; ebenso das kleine zu brechen, verlangt es das große. Nicht anders verfuhr der Meister in dem ihm eigenen historischen Kosmos. Nur war das Wesensungemäße auszulassen, um bis zur Gregorianischen Litanei in sich hinabzudringen.

Überdies gehören alle schöpferischen Geisler auch der Vorzeit der Geschichte nur zeitweilig an. Sie verlassen sie im künstlerischen Aufbruch, und die Nachfahren, welche auf sie hören, nehmen sie unhistorisch, so wie sie waren. Herleitungen versagen.

Eine andere Sehweise ist die der unhistorischen Gleichzeitigkeit aller Dinge. Keine Werkreihe war dann zu vollenden, sondern eine Welt zu enthüllen. Das Nacheinander entschiede nun nicht viel. Der Musikant wäre nun das Instrument. Auf diesem Instrumente spielte sich das kosmische Wesen öfter als in den geschriebenen Noten: immer. Der Mönch Petrus Forschegrund entschlummerte im Walde und erwachte in sich. Als ein solcher Mönch konnte Bruckner auf der Orgel phantasierend schon längst das Gleichzeitige sagen, bevor er es schreiben konnte. Als er es zu schreiben verstand, verließ die Finger mehr und mehr die Lust am phantastischen Greifen, und die kranken Füße wurden zu schwer für seine kolossalischen Pedaltriller.

Das blinde Gesicht des Simultangeistes erkennt nicht den Zwang, warum das eine zuerst, das andere sodann ausgeführt werden müsse, weil es dem logischen Zwange schon im Urgründe alles Gegenständlichen verfallen war. Es gibt nicht viele Urgründe, sondern nur einen Urgrund. Wenn er in manchen Symphonien von neuem aufgetan wird, so ist es keine neue Erfindung, sondern eine neue Erinnerung.

Ein weiterer Aspekt ist der des Heidnischen. Die tellurischen Leidenschaften beziehen den Plan. Sie schonen auch die Menschenseele nicht. Ihr Temperament liegt über allen Temperamenten. Noch seine Stille ist unselbstisch, sie gehört nicht dir oder mir, sie ist Weltenstille. Heidnisch grell funkeln Sonneneinbrüche in die Struktur, Fanale, von unten rührt sich zu Katastrophen das niemals schläfrige, immer kreißende Chaos, das gierig ist, sich zur Gestalt und in ihr aufzuzehren. Und auch die lange Dauer wird nur, um sich zu verschlingen. Riesige Akkordkolonnen haben sich aus dem Boden erhoben und müssen vorüber, sie straffen sich, sie stampfen uniform heran, sie dröhnen vorbei und haben ihre Dauer mit sich fortgetragen. Wo dagegen (in zweiten Themengruppen) gesungen wird, ach, es sind meist nur zwei innig gesättigte Strophen, und bei der Wiederkehr sind sie in anderes Tonartlicht verklärt, und ihre Stimmen haben sich mitverwandelt, erklingen aus anderen Instrumenten. Unbesorgt um das erzogene Gehör eines Spätlings, das sein Heidentum abgelegt hätte und unnaiv vergleichen könnte, steigen auch sie in keine durch Schuld und Sühne gekühlte Zeit nieder. Sie fühlen sich sicher zwischen lastenden gequetschten Akkordgletschern, gepreßtem Niederwuchten, in schreiender Welt. Sie behalten das unschuldig Prangende, Strahlende, Selbstleuchtende, Erhellte oder das ebenso unschuldig Überschattete, Zitternde, Niedersinkende. In der Ruhe wird das Heidnische zum Panischen. Voller Selbsterlösung ist die Ruhe Triumph ohne vorhergegangene Gewalttat. Darum werden nicht Kadenzwirkungen gesucht, also Heimkehr der Kraft, sondern Fortleitungen der Kraft. So geben sich auch die tollkühnsten Steigerungen nicht als verzweifelnde, erschöpfbare Kräfte. Ihnen bleibt nur übrig, in der Raserei abzubrechen und neu aufzubauen oder alles zu zerschmettern.

Der letzte Aspekt ist vielleicht der magische. Es werden ohne erkennbare Mittel Berge versetzt. Die thematischen Kolosse von den Anfängen schwingen sich über den Makrokosmos des ersten Satzes, um, wie in der neunten Symphonie, erst gegen Satzschluß niederzuwuchten, oder sie überschweben, wie von der dritten ab immer, die ganze Symphonie und reißen sie zuletzt mit sich in den Weltraum empor, wo nur noch die unbändige, maßlose Glutform vor der Erkaltung und mithin die Ermöglichung irdischen Lebens besteht. Man hat das oft eine Apotheose genannt: wenn darunter die Rückgabe des Lebensstoffs in die Hände des unbekannten Demiurgen verstanden wird, soll es gelten. Vor diesem Ziele ereignen sich magische Ekstasen, die ebenfalls gesonnen scheinen, sich ohne Cherubimflügel, alle Berührung mit Körperschwerem meidend, durch sich selbst zu tragen.

Den Widerstrebenden befällt nicht die Bezauberung durch solche unzeitigen Mächte. Er erhebt Vorwürfe wegen der Verschwendung an melodischer Erfindung, die angereiht, unbedachtsam verschüttet sei. Das Getast der Entwicklung, der Sog der Umgestaltung, der Schuß ins Wachstum sind so stark, daß man im Jährling, im Tausendgrün, im rissigen Tempelhain das Pflanzreis nicht mehr erkennt. Schon die bloße Umkehrung entfremdet manche Themen für das Gefühl ihrer geraden Gestalt. Sie verkehren sich nicht in ihr eitles Spiegelbild, sondern sie stülpen ihren Sinn mit um. Es ist unfaßbar erstaunlich, wie aus dem Gottesruf: Es werde Licht! – dem viel vorweltlicheren als bei Haydn – eine Weidwerkfanfare wird; und nichts als die Umkehrung einer Quinte und die Übernahme eines Rhythmus brachte das Wunder hervor. Nichts verbindet mehr in der Empfindung das einleitende Streicherpizzikato des fünften Adagios mit seiner Parodie im fünften Scherzo. Es ist nur zum Streicherstakkato im schleunigen Dreivierteltakt geworden, während es vorher in langsam und erschrocken gezupften Triolen den Viervierteltakt durchmaß.

Wenn ein Dichter anschaut und das Gesehene ausdrückt, unterscheidet er sich in dem über den Mitteln liegenden Ergebnis nicht von dem Musiker, der das gleiche geschaut und ausgedrückt hätte. Viele Amusische teilen mit den beiden das Sehen und das Mitteilen, aber ihre Aufzählung und Beschreibung ermangelt, wo nicht der Eindringlichkeit, der Ausdrücklichkeit der Kunst. Die Ausdrücklichkeit ist in der Musik sowohl unbestimmter wie zugleich ungleich bestimmter als in den übrigen Künsten. Kann sie Baum und Stein nicht nachbilden, Gesichter und Erlebnisse nicht malen: die in uns erregten Beziehungen zum Außenweltlichen trifft sie genauer als jegliche andere Ausdruckskunst. Ebenso kann sie Gott und Teufel, Verdammnis und ewiges Leben nicht aufzeichnen, aber die Ausstrahlungen der Überwelten mit gleicher Deutlichkeit wie die der Dinge und Ereignisse hinieden. Daraus folgt ein Günstiges für die Gefühlsreichweite der Musik, ohne daß sie für ihre Vision irgendwo zu borgen hätte. Das sich bewegende Gefühl ist das sehende Organ, das Auge ist es nicht. Das Kräftedrängen zu befragen, was da dränge, ist unmöglich. Nicht privat, nicht ichhaft, nicht welthaft, vermittelt es dennoch Gehalt und Inhalt, und zwar in der Unheimlichkeit des Absoluten. Zugleich verfügt diese Abstraktion über die Macht, Wunden zu heilen, Bedürfnisse zu stillen, die meist noch nicht eingestanden waren. Und hat einer diese Wunden nicht, so muß er in der Kunst seinen Wunsch erkennen: hätte ich sie doch! – Und er wird sie entdecken.

Durch die vergebliche Herausforderung der erklärenden Vernunft sind eine Reihe von Stellen in den Symphonien Bruckners berühmt geworden. Die Analytiker haben scharfsinnig die Vorgänge darin um und um gewendet, und zuweilen fand sich der Scharfsinn vor der übergroßen Einfachheit beschäftigungslos, er bewunderte. In der Maestoso-Koda der Sechsten läuft das Thema schulstubengerecht im Quintenzirkel durch alle Tonarten, und nie scheint Trompete und Hörn so viel von der Seelenweite der Welt gewußt zu haben. In der ersten Koda der Siebenten erbaut sich über einem dreiundfünfzigtaktigen Orgelpunkt der erstaunlichste metaphysische Lichtberg. In kanonischer Umschlingung erschwebt ihn der Nachsatz des Hauptthemas, und dann hält ihn sein Anfang in den grenzenlosen Raum. Die siebzehn einleitenden Takte des ersten Adagios wirren sich unter Druck und banger Spannung, unter Seufzen und Röcheln von unten, leisestem Hornrufen von irgendwo im Ungewissen, langsam sich entschließender Vorwärtsregung durch das Tonartlose, bis das sanftgestillte feste Asdur endlich durchbricht. Den Grüblerweg kann man nachgehen, aber nicht entdecken, was den Grübler bis ins Mark lähmte. Rätselhaft vor dem Erreichen der Haupttonart ist auch der vortonartliche Anfang des neunten Adagios, wiewohl sich alles technisch deuten läßt. Und am Eingang des neunten Scherzos liegt die akkordliche Sphinx. Um den vorher nie gehörten Akkord hat sich eine beobachtende Literatur gesetzt. Der Akkord erkennt keine Verwandtschaften an; die Umlagerung auch nur eines Tones in die Oktave verändert seinen Charakter vollständig: er will nicht tristan-erotisch blühen, sondern im Totentanz mittanzen.

Es ist unleugbar eine Auslegung des Alls in dieser Musik, doch würde sie alsbald verfälscht, wenn ihr ein System aus Worten erbaut werden sollte. Denn der Verlauf ist ja musikalisch, das heißt weder dem Worte verwandt noch auch entgegengesetzt. Scheuen wir uns nicht, einer Tonerscheinung eine Vorstellung zu gesellen, oder müssen wir es manchmal sogar unwillkürlich, so sollen wir diesem Schatten nicht weit folgen, er geleitet uns sonst zum Hades. Empfinden wir beispielsweise einen Orgelpunkt auf der Tonika als das reine Element, so wollen wir uns nicht an die alten reinen Elemente Erde, Wasser, Luft, Feuer verlieren. Gleichnisse nach der Musik können immer nur einen Augenblick dienen, sie lassen sich nicht durchführen.

Auch wenn es der sterbliche Mensch Bruckner sagte: es gibt im Scherzo seiner vierten Symphonie weder eine erzählbare Jagd, noch im Trio dazu einen eßbaren Schmaus der Jäger mit Tanz. Ebensowenig gibt es im Finale eine Jagd des sagenhaften wilden Jägers in krachendem Nachtsturm.

Die gelegentlichen hilflosen Programmworte Bruckners sind von fast allen seinen Hörern verworfen worden. Wenn Ehrfürchtige meinten, der Schöpfer müsse doch sagen können, was er geschaffen habe, oder wenn Neugierige erfahren wollten, was der Musikant musiziert habe, so haben sie auf eine Weise recht, die tiefsinniger ist als sie selbst. Der Musikant Bruckner weiß, was er musiziert, in der Tat so genau, daß er es nur in der Anwendung der klingenden Saiten, des Blechs, des Holzes ausdrückt, ohne Umweg und Abschweifung in außermusikalische Gerechtsame. Erst hinterher ist er sich zuweilen mit Begriffen der Schule nachgegangen und hat in seine Partituren eingezeichnet, was sich da harmonisch entwickelt hatte, wie es nach den immanenten Gesetzen der Akkorde fortgeschritten war und ob es noch stichhielt. Und der Schöpfer Bruckner weiß, was er schafft: daher ist sein Geschaffenes als Leben den Begriffen entzogen, wie nichts Lebendiges von Begriffen, die sich ihm nähern, wirklich berührt wird. Vermögen Worte an einer Blume die Gestalt, die Farbe, den Duft, den Standort zu beschreiben, so vermögen sie ein Ähnliches vor einem musikalischen Thema. Indessen das Leben selbst verwandelt sich, ob Worte, Blicke, Hände, die es halten wollen, im Anzüge sind oder nicht, und da es in dieser Verwandlung dauert, solange es währt, entrückt es sich der Erscheinung in jeder anderen Form außer seiner eigenen. Das trifft auf die Verknüpfungen und Gegensätze des Lebens vervielfacht zu. Mit einem die begrifflichen Kategorien nur nebenher mitschaffenden Verstände binden sich die Motive in Themen, in Themengruppen und lösen sich wieder, so laufen sie durch die übergeordneten Verbindungen und Teilungen in der Sonatenform, durch Exposition, Durchführung, Reprise, Koda. Das Offenbare ist, nach Novalis, das ganz Geheimnisvolle, so auch das im Klang Offenbare.

Gleichwohl lassen sich aus den wenigen Deutungsworten Bruckners zu seinen Werken mit Vorsicht einige Schlüsse ziehen. In einer Stelle der achten Symphonie vernahm er den Tod im Vollzuge seiner Sendung. Er vernahm es in der Weite des musikalischen Raumes. Nicht nur Einer starb und nicht Er fürchtete sich, dieser eine zu sein, nicht viele vergingen, sondern alle und alles, und das nochmalige und nochmalige und nochmalige Hinunterrollen des chromatischen Motivs stand für die unersättliche und ewige Wiederkehr.

Verlegen und stammelnd, dabei stolz auf den Fund, klingt seine zweite ausführlichere Deutung der gleichen Symphonie. »Im 1. Satze ist der Tromp.- und Cornisatz aus dem Rhythmus des Thema: die Todesverkündigung, die immer sporadisch stärker, endlich sehr stark auftritt, am Schluß: die Ergebung. Scherzo: Hpth.: deutscher Michel genannt; in der 2. Abteilung will der Kerl schlafen, u. träumerisch findet er sein Liedchen nicht; endlich klagend kehrt er selbes um. Finale. Unser Kaiser bekam damals den Besuch des Czaren in Olmütz; daher Streicher: Ritt der Kosaken; Blech: Militärmusik; Trompeten: Fanfare, wie sich die Majestäten begegnen.« Wer Bruckner erfahren hat, wird sich scheuen, diese wunderlichen Späne und noch weitere, die von dem kosmisch großen Werke fielen, zu zertreten. Kaiser und Kosaken oder dafür Johanneische Reiter von den Enden der Welt, gleichviel, wenn ihr Eingaloppieren in den Klang sie unsichtbar macht. Tappte ihm mit dem Thema des dritten Satzes dieser Symphonie der deutsche Michel durch das Scherzo, träumte ihm beim Trio der Michel in das Land, so mag uns wohl eine riesige Urgestalt erscheinen, und sie mag uns vielleicht sogar nie wieder entschwinden. Nur was sie wirkt und was sie träumt, besitzen wir nie anders als in den Tönen des Orchesters, und es wiegt gleich, ob wir den Mann Anton Bruckner aus Ansfelden oder seinen vorgeschobenen Stellvertreter als Urheber und Gefäß der Träume verstehen.

Es verhält sich damit nicht anders als mit der sagenhaften Geburt der sämtlichen Leitgedanken der siebenten Symphonie. Nach Bruckners Angabe war ihm ein verstorbener Freund, der Linzer Kapellmeister Ignaz Dorn, in einer Nacht erschienen und hatte ihm das Hauptthema des ersten Satze;: diktiert und dabei die Worte gesagt: Paß auf, mit dem wirst du dein Glück machen. Er habe es sogleich aufgeschrieben. Das Finale wird von dem Thema in formaler Abwandlung beherrscht, und sein Haupt bricht, vom Erlebnisgang durch das Werk machtvoll erfüllt, am Schlüsse durch. So wäre die Konzeption auch dieses Satzes auf den toten Freund zurückzuführen. Die Erfindung des Adagios war von der Vorstellung der Todeskrankheit Richard Wagners geführt, und der Tod des Meisters hatte ihm den Abgesang eingesungen. So war wiederum ein Fremder an der Arbeit mitbeteiligt gewesen. Schließlich der Einfall zu dem noch übrigen Satze hatte ihn beim Krähen eines Gockels überfallen. Nun, der tierische Mitschöpfer mit seinem dämonischen Hahnenschrei weckt den Erdkreis.

Danach wären die Grundweisungen zu dem ganzen Werke von Sendboten aus dem Unbetretbaren überbracht worden, und für Bruckner bliebe davon nichts übrig. Wir leuchten in die Kunde vom Verkehr des Drüben mit dem Hüben nicht hinein, weil sie selbst leuchtet. Bruckners Seele reicht als Einzelseele von der christlichen Frühe bis in die Zukunft; sofern sie an der Allseele teilnimmt, ist sie außerhalb der Begrenzbarkeit. Jedenfalls führen seine Angaben über den Inhalt seiner Musik diese Musik aus der Reichweite des Programmatischen. War sein Gemüt neben anderen mittelalterlich, so sagte er bäurisch das Moderne nach, das er ringsum gewahrte. Es schien auch ihm verführerisch angetan, es lockte auch ihn durch den Neuerungswillen, die Erfolge und den Gehalt an Vorkämpfertum. Da er nicht primitiv war, mochte er nicht argwöhnen lassen, daß er irgendwo zurückgeblieben sei, und wäre es nur in der Unterstellung unter Programme. Gelegentlicher Nachahmungen der Laute, die den epischen Tag durchtönen, war er natürlich fähig wie alle ihrer Sinne frohen Musiker. Indessen, die Schläge der Geißelung und der Hahnenschrei machen nicht Bachs Passionen, Kuckuck und Nachtigall nicht Beethovens Pastorale. Ebensowenig dringt der Ruf des Vogels Zizibe, der Waldmeise, in das Gewebe der romantischen Symphonie Bruckners. Er ist nur eine Allegorie in ihrer wirklichen Sprache. Wer weiß, wie wenige der Ruf an den Rufer erinnert hätte, wären sie nicht durch Bruckner aufmerksam gemacht worden. Die tönenden Findlinge von draußen bekräftigen, daß es nur eine Natur gibt, die sich in mannigfachen Mundarten kundgibt, einmal prosaisch, einmal sibyllinisch, einmal orphisch.

Dies vorausgesetzt, gewinnen Bruckners Rückspiegelungen des Klanges ins Sichtbare doch symbolische Bedeutung. Sein Klingen schweift etwa ins romantisch Entlegene: da hebt sich eine mittelalterliche Stadt aus der Morgendämmerung, die Tore öffnen sich, Ritter reiten in den Wald. Indem er dies mitteilt, spricht er von großen Entfernungen im Räume und in der Zeit. Denken die Ritter unbewußt an den Gral und an Christus, mit dessen Blute er sich gefüllt hat? Hebt die Sonne sich zum ersten Male aus den erwärmenden Nebeln wie damals, als sie geschaffen wurde, und tönt nun wie aus Faustens Himmel in Brudersphären Wettgesang, und vollendet sie ihre vorgeschriebene Reise mit Donnergang? Es soll Bruckner nichts untergeschoben werden. Ob die Vorstellungszusammenhänge der Empfindungen in dem Symphoniebeginn ähnlich den hier angedeuteten sind oder sein könnten, niemand wird es erforschen. Nur stehn die heiligen Worte des Tons und die alltäglichen einander gegenüber, weltenfern. Das Bewußtsein hascht vergebens nach dem Überbewußtsein.

Der Weg in dieses Überbewußtsein war der Weg des Brucknerschen Lebens. An ihm hatte er nicht als verweslicher Mensch teil, sondern als Gefäß unverweslicher Natur. Und das Wort Natur streng genommen, gibt es für das menschliche Urteil nicht ein Stück Natur und nicht das Ganze der Natur, denn das Wesen hebt den Begriff der Grenze auf. Ein Vogel wäre nicht ohne alle Vögel, ein Mensch nicht ohne die Menschheit. Eins rührt alles an. Der Weg, den etwa Herder in seinen Ideen zu einer Philosophie der Menschheitsgeschichte enthüllt hat, die Erde sei ein Planet um die Sonne, und so hinab durch die Organisationen bis auf uns, läßt sich auch in umgekehrter Richtung erfliegen. Das Ganze der Schöpfung äußert sich in jeder einzelnen seiner Gestaltungen, hier klar, hier trüb, hier im Traum, den wir Leben nennen, hier in dem Leben, das wir Tod nennen.

Wie wenig es auf das Erhärtete für den Augenschein ankommt, entnehmen wir, um mit den weisen Augen eines Antipoden auf uns hinüberzublicken, der Philosophie Buddhas. Auch er offenbart die Gottheit der Natur, obschon er keinen Gott offenbart. An seiner Strahlung werden wir milder und heller, als habe das All sich an seinem Blute zur Freude erwärmt, und doch überredet er uns fort und fort, mit unseren Leidenschaften keiner anderen Leidenschaft und keinem Dinge anzuhaften. Verlöschen in uns sollen wir um der Befreiung vom Leide willen. Der Kampf, uns vom Schmerze der Welt zu heilen, wird uns zur Heilung des Schmerzes in der Welt. Uns will er befreien, und er befreit die Welt. Dies ist gewiß nicht der denkerische, aber der musikalische Sinn seiner Lehre.

Ein solcher Sinn ist weder archaisch noch zeitlos.

Bruckner ist nicht unzeitgemäß, weil die Zeit, die ihn zählt und in der er zählt, in ihm wie eine Quelle zutage trat. So quellhaft war sie in früheren ihm ähnlichen Geistern zutage getreten, so kann sie in künftigen wieder aufbrechen. Da es unmöglich ist, die Raumvorstellung aus dem Bilde zu entfernen, und weiter unmöglich, hierüber anders als im Bilde zu sprechen, mögen wir es in uns verbreitern und vermehren, über den Quellmund hinauf in sein Gebirge und hinab in seine Ebene; und sinnen wir noch bewachsene Ufer hinzu und Gestalten, welche den Trank trinken, so fehlt nicht viel, daß sich die abstrakt ohnehin unbegreifliche Zeit mit Welt aus ihrem Vermögen umgebe und die alte Welt verdränge. Der Vorgang ist die Übermannung der Wirklichkeit durch die Vision, welche die Wirklichkeit zwar nie zerstört noch stört, aber in neuen Ordnungen leuchtend und herrlich macht. In den Kämpfen großer Künstler befehdet die Welt mit ihren Realen oft die Künstler, diese jedoch kämpfen mit ihren Visionen um die Realität. Bruckner ging waffenlos in seinem Kosmos, während einige, die seine Brüder hätten sein sollen, mit vergifteten Waffen auf ihn eindrangen.

Brüder? Der nächste Nachbar wohnte hundert Jahre weiter.

Nach Beethovens und Schuberts Tode war die Sonate, besonders natürlicherweise ihre angestrengteste Form, die Orchestersonate, alt und müde geworden. Ihre Glieder waren steif und unlustig, ihre Gedanken hatten sich erfahren und festgefahren. Die Musik ging zu den anderen Künsten auf Besuch, um sich nach Anregungen und Erfrischungen umzutun. Die Maler wirtschafteten im klar anschaulichen Vordergrunde, konnte man das musizierend nicht auch einmal versuchen? Die Dichter waren pfiffige Leute, sie hatten unverbrauchte Ideen, sollte man nicht das Poetische auf die Symphonie zu übertragen probieren? Schon das Grundsätzliche solcher Vermischungen sieht nach Bluttransfusionen aus.

Bruckner wandte den Blick nicht auswärts, sondern einwärts. Wie ehemals sein Studieren durch Ausschluß alles dessen, was nicht Studium war, den Kosmos ausschritt, so wurde sein Schaffen durch Ausschluß alles dessen, was jenseits des Schöpferischen lag, erst recht kosmisch. Innerhalb des Kosmos war alles zu erfinden, daneben lag nichts. Die Versenkungsgewalt spannte alle Abstände innerhalb der Symphonie so weit auseinander, daß die alten schematischen Bezeichnungen für die Verfassung darin zopfig und kurzatmig werden. Sie sind von den Betrachtern vielfach ausgewechselt worden. Die formalistischen Chrien werden sofort Ausgeburt des Wahnsinns, wenn sie hier noch Geist und Seele in Formalien einzukramen versuchen. Will einer von achttaktiger Periode, Vorder- und Nachsatz sprechen, so gerät er, obwohl auch das möglich ist, sehr bald ins Stolpern, will er von der althergebrachten Reprise im Sonatensatze reden, so muß er sich dabei bescheiden, von Wiederholung meist nicht viel zu finden, dagegen womöglich Durchführungshaftes und trotzdem eine leuchtende Erinnerung an die Exposition. Sucht der Schematiker in Finales oder Adagios die Rondoform A B, A B, so kann er sie zwar befriedigend oft finden, aber er wird den Kopf darüber schütteln, was aus ihr geworden sei, wie sie, mit Sonate, Fuge, Choral und was immer gemengt, einhergehe, und wird sich dennoch schämen, das niedere Recht vor dem höheren zu verteidigen.

Die formale Satzkunde aus dem früheren Besitzstande wurde beibehalten, nur wurde sie mit löwenmütiger Vernunftstärke begründet. Warum hat eine Symphonie auch bei Bruckner noch zwei Ecksätze? Nicht etwa, weil es sich aus altmeisterlichem Herkommen rechtfertigte, sondern weil der vierte Satz eine Fortsetzung und Beendigung des ersten ist. Wer nicht bloß Getön und Getöse hört, kann das Brucknersche Finale ohne die ganze Symphonie nicht verstehen. Die letzten Sätze haben Taktart und meist Tonart mit den ersten gemein.

Sie stehen urhaft immer in Viervierteln, frühere Tondichter waren darin freier, moderner gewesen. Keiner aber hatte ja auch so weit her zu kommen und so weit hin zu gehen. Wegen der Entfernung vom Anfang bis zum Ende tritt der Held des Ereignisses, das Hauptthema, im Bewußtsein seines Vorhabens majestätisch, ruhegroß an, während er im Finale heldisch, lapithisch, kentaurisch sich vorzuschleudern weiß. In den beiden mittleren Sätzen, wenn er in den Abgrund seines Innern versinkt oder wie ein Halbgott mit den Menschen tanzt, läßt er natürlich das Bewußtsein von seiner Gestalt und Aufgabe aus dem inneren Blickfeld. Er schlafwandelt ja in seinen Schmerzen, Seligkeiten und Verklärungen. Das Bewußtsein seiner Einheit mit sich selbst geht ihm dabei nicht verloren. Die Mittelsätze stehen zu den Ecksätzen immer in Dominant- oder Parallelverwandtschaft oder Nachbarschaftrückung zur Sekunde.

Warum aber überhaupt das heldengleiche Grundthema? Auch das ist durch Bruckner neu und profund begründet worden. Es ist keineswegs gegeben, keineswegs aus dem Einfall aufgelesen, sondern es wird geboren. Es entsteht, um zu sein. Es fängt niemals im Forte an. Es verdankt sein Dasein einer Gruppe von Kräften, die alle zusammenwirken, alle unentbehrlich sind. Im Finale sodann wäre es widersinnig, wenn es sich nochmals entwickeln wollte. Es tritt fertig auf, wohl aber durch das Lebenserlebnis verwandelt. Es hat sein Kindes-, Jünglings-, Mannesalter, nur das Greisentum fehlt ihm, denn es verachtet den Tod und tut den Schritt gleich in die Unsterblichkeit mit unverbrennbaren Seraphsflügeln. Es weiß, daß es aus den Grundintervallen, den Grundrhythmen sich erschuf, die auch unsterblich sein müssen, sonst hätten sie nicht die Kraft des Erzeugens besessen, und sie wären nicht vorhanden gewesen. Wie aber etwa ein Mensch nicht in jedem Augenblick nur die Summe seiner Kräfte ist, sondern vor allem deren Potenz, die sich einmal wacker und einmal besinnlich erweist, die immerfort Teile daraus verbindet, entwickelt, steigert, ausscheidet, so ist das Thematische Bruckners beschaffen. Wenn es geworden ist, wird es noch immer, im ganzen und im Teile. Die Übergestalt im Gestaltwandel zeigt sich nur selten. Der Wandel ist Erlebnis; daher das Übergewicht dessen, was man Entwicklungsmotive genannt hat. Es leuchtet ein, daß die Symphonie Bruckners drei- oder viermal so lang ist als die früherer Läufte.

Die Hauptthemen der letzten Sätze erst sind Klanggestalt und Klanggewalt in einem. Wer die Gestalt nicht sieht und daher vor ihrem Getön erschrickt, faßt auch die Gewalt nicht. Wer diese nicht fühlt, sieht die Gestalt nicht. Er sieht nur etwa den einstürzenden Turm einer Oktave, die nochmals eine Terz tiefer hinabbricht und sich dann, als sei sie doch wieder ein lebendes Wesen, in mehreren Absätzen wieder hinaufquält. Der synthetische Blick auf das Äußere und Innere ist unentbehrlich. Was in keiner Gestalt erscheint, ist nicht. Die Synthese kann sich nicht mehr bloß in spezifisch musikalischen Begriffen bewegen. Sie erkennt die Musik in dem, was allen Künsten gemeinsam ist.

Für den Ausdruck dieses Gemeinsamen stellen sich, nicht zu vermeiden, Grunderfahrungen aus dem ewigen menschlichen Epos über allen Epen ein. Wir können nicht umhin, von stehen, gehen, laufen, treten, stampfen zu sprechen, von stürmen, tragen, schieben, schweben, von ermatten, sinken, sich senken, versinken, von heulen, pfeifen, wüten, dröhnen, überschäumen, von seufzen, schluchzen, trösten, verklären, erlösen. Begegnen wir dem bei allen Musikern, so machen wir Rangunterschiede, je nachdem wir mehr das Zeichen der Figur oder den ihr innewohnenden Willen meinen. In ausgehenden Stilepochen weiß der Hörer sehr weit voraus den Verlauf bis ins einzelne, er ahnt, wie von dem Komponisten gefühlt und geordnet werden wird. Harmonik, Rhythmik, Dynamik, selbst die sie anführende Melodik haben dann ihren Reiz darin, daß sie ein jedes Ding in dem Satz richtig und straff an seinen Platz bringen. Ein neues Stück bietet dann nur ein neues Beispiel mit anderem Material.

In der Brucknerschen Symphonie treibt unverbrauchte Regung nicht nur in horizontaler Richtung gegen das Unendliche, sondern ebenso nach oben, nach unten. Ist das Dynamische ausdehnungslos, so mag seine Weise zu wirken sich in räumlichen Symbolen am leichtesten erläutern. Nach August Halm hat es mit besonderem Veranschaulichungsglück Ernst Kurth unternommen, das dionysische Spiel der symphonischen Wellen, ihr An- und Rückfluten, ihre Steigerungen zu Höhenkämmen, ihre Ermattungen, ihr Ineinandergischten. ihre Neubildungen, ihre Farben zu verfolgen. Er brauchte, weil das Meer unausschöpflich ist, weit mehr als tausend Großoktavseiten. Das Bild geht sofort in seinem psychologischen Wesen weiter: Feuermeere, Nebelmeere, Lichtmeere, Berggipfelmeere – man darf nichts lokalisieren.

Lokalisiert aber ist die Tonsprache. In allem führt der Weg von einer Grenze bis zur anderen, wie es jene Antrittsvorlesung Bruckners für das Harmonische und Kontrapunktische verhieß. In seiner Verstrickung liegt etwa ein Ton, spannungsgeladen. Er »spaltet« sich, und das Zerfällte wird wieder Ton. Aus eins wird zwei, nach oben, nach unten. Wir haben uns vom Ausgang nach beiden Seiten um eine kleine Sekunde entfernt. Die Wendung nach den angrenzenden Halbtönen finden wir in allen Größen festgehalten. Die vier ersten Töne des Hauptthemas der zweiten Symphonie zeigen den Vorgang im engsten Zirkel. Die Ränder der Themenbahn zu Beginn des neunten Adagios zeigen ihn verbreitert und verinnerlicht. Ganze Satzstrecken leben von seiner Energie, wie im vierten Finale zwischen dmoll und Edur lange das unerlöste Esdur schlummert. Die Tonartrückungen unter Abschneidung der alten Umwege keimen ebenfalls in der geheimnisstillen Tonspaltung.

Spalten sich die Töne nicht, so behalten sie im Akkorde und seinen Strebungen zu weiteren Akkorden, damit durch die mehrfache Deutbarkeit die gleiche unbeschränkte Spannung. Zu geborenen Dissonanzen kommen solche durch Erhöhung und Erniedrigung, gleichsam durch Rangveränderung, und solche, die als Schicksal durch die Stimmführung zufallen. Diese Schicksalsmöglichkeiten werden entweder auf der Stelle oder bei künftigen Neuansätzen verwirklicht. Aus den Akkorden spinnen sich polyphone Bewegungen hinaus, in Akkorden spinnt Polyphonie sich ein. Oft dringen dabei zwei Tonarten ineinander, reißen aneinander in gigantischem Schütteln, bis die Lawine an den Rand eines Höllenkessels gerollt ist, darüber schweben bleibt oder plötzlich im Unraum verschwindet. Selbst in Gesangsthemen mischen sich wundersam friedliche Gesandtschaften fremder Tonarten. Aus verschiedenen Landschaften hergepilgerte Akkorde scheinen sich an, nehmen, als wären sie kristallen, gegenseitig vom Eigenlichte des anderen auf. Die Tonarten breiten die Skala des Lichtspektrums aus. Die Kreuztonarten erstrecken sich bis zur Blendung ins Helle, wir denken an so manches Edur und Hdur, BTonarten suchen das Milde und Dunkle, sanft und rein das Asdur, verklärt und verzückt Des- und Cesdur, schmerzlich cmoll, furchtbar fmoll, gotisch großartig dmoll. Das sind nur ein paar grobe Risse. Weil die Tonarten für Bruckner so durchaus Charakter sind, wendet er sie, unbekümmert um das Fortkommen der Werke in der kalten Welt, dem inneren Auftrag gemäß an. Drei Symphonien stehen in cmoll, zwei in dmoll, darunter die neunte, den Vergleich mit Beethovens Neunter herausfordernd. Aus dem nämlichen Charaktergrunde kann er mit einer Tonart sehr sparsam sein. Kurth führt sehr schön aus, wie uns der Anfang der vierten Symphonie in ein Meer, in ein nur an der Oberfläche in andere Farben gebrochenes Weltall von Esdur versetzt, dann aber das Esdur erst auf dem Höhepunkte des Satzes wiedererscheinen und erst am Schlusse des Werkes ganz deutlich ausbrechen läßt.

Der Aufgang des Lichtes in den Harmonien oder sein Erlöschen wird oft nicht gleich von helleren oder dunkleren Instrumenten verkörpert. Zwischen den klaren und dumpfgefärbten Instrumenten liegen Empfindungszwischenräume wie zwischen den Tönen der leeren und vollen Akkorde. Die Streicher, das Holz, das Blech bilden in sich geschlossene Sippen, sie werden einander gern entgegengesetzt, nicht nur ihre Weisen. Fernen klaffen zuweilen zwischen ihnen; aber sie reiben und quälen einander. Die Sippenmitglieder schließen sich ungern anderen Familien an, der orchestrale Besitz bleibt oft über längere Satzteile erhalten. Die Instrumente wechseln, wenn zum Beispiel mit Eintritt eines neuen Themas der Inhalt umgestimmt wird. Dann folgen etwa die hölzernen Sänger den harmonischen Trübungen und Hellungen leise nach in Kreuz und Be, in Licht und Weh. Und doch ist das Instrument noch etwas anderes als der Erfüller harmonischer Wege. Zum Kraftwillen im ganzen tritt die Kraft an sich. Der Gedanke wird plastisch in verschiedener Dichtigkeit, Schwere, Leichte. Bruckner liebt kein Verstärken, kein Verbleichen um seiner selbst willen, sondern er prägt seelisch das Stärkere, er gestaltet seelisch das Blassere, das Lautere, das Leisere. Die Blechbläser weben ihm das entwerdende Dunkel, das Licht bei geschlossenen Augen: bei anderen Tonschöpfern ergeben sie sich gerade umgekehrt der weltlichen Helle und Freude. Der Blechbläsersatz kann mit Sanftmut Gottvater und im Affekt Gott den Geist verehren. Aber der eherne Mund der Trompeten, Posaunen, später Tuben weiß auch ungeheure Runensprüche, er weiß den autochthon erfundenen protestantischen Choral, der, manchmal zu einem einzigen leisen Akkord verkürzt, eine Frage aus nicht antreffbaren Welten beantwortet.

Die Streicher sind das Allgegenwärtige, sie lassen die Atmosphäre des Alls wogen, zittern, duften, sie steigen in flirrende Höhen diatonisch hinauf, ihre Bässe schleichen chromatisch in die Tiefe, wo der Boden schwankend wird. Sie machen in der Mitte Schmerz und Sehnsucht blühen, groß und frei wie die Geigen im Adagio des Streichquintetts, oder die Celli inbrünstig in hohen Lagen am Beginn der zweiten Symphonie, wo es die Bratschen leichter hätten.

Das Holz ist gern über leeren Weiten einsam. Die Leere und die Weite vergeht nie. In ihr gebiert sich das Ereignis, und es stirbt da. Geschlechter der Helden und Leidenden haben ihren Raum darin und gleichsam ihr Grab und ihre Auferstehung. Die Erlebnisse verdrängen nicht den Weltraum, der sie hält und trägt. Sie werden sich nicht selbst genug in einem Verstände des Hochmuts, der das Zeitliche und Ewige vergißt, sondern sie besiegen das Zeitliche und anerkennen das Ewige, indem sie in beides eingehen. Bruckner ertönt registerhaft wie Bach, er meidet das Einschmelzen und Einfärben des Klanges. Dieser tritt auf als Substanz durch und durch, er verstärkt das den meisten Unvernehmbare so, daß es auch andere vernehmen. Mixturen enthält das Akkordliche genug, die Kolorierung dieser Mixturen ist überflüssig. Die Skala spannt sich doch vom Geräusch bis zur schwelgerischen Melodie. Es gibt der rechtmäßigen Mittel, sie räumlich, nicht flächig zu erfüllen, so viele. Da löst sich aus dem Hintergrunde in gezupften Streicherakkorden der bange Schemen eines Chorals, und erst nachher wird er aus dem somnambulen Geschwirr zum vollen Chor erwachen. Eine andere Achse des Gesangs reicht vom gregorianisch Felsigen bis zum atonalen Spätnebel. Eine andere läuft vom Tremolo in der Höhe bis zum Tremolo in der Grundtiefe, mit klingenden Inseln oben, unten. Nimmt man’s formalistisch, so behält man Materie in der Hand, eine chromatische Begleitfigur drunten, droben ein paar Flötentöne, die jeder erfinden und blasen könnte, anders aber belauscht man Grundwasser, nicht geheuer, verwehende Cirrusflocken: nur lasse man das Hörende nicht vom Akustischen vergiften.

Die kontrapunktische Gegensätzlichkeit schert ebenfalls vom Punkte bis dahin auseinander, wo Maß und Zahl nicht sind. Vom gleichen Ansatz her richtet sich eine thematische Linie in die Höhe und als Umkehrung in die Tiefe. Verkleinerungen, also Beschleunigungen eines Motives bringen Verdichtungen und Aufgipfelungen zustande, Vergrößerungen, also Verlangsamungen verlieren sich in stillen Tälern. Melodische Doppelerfindungen, besonders in den Gesangsthemengruppen, verbinden zwei Lebensstimmungen, eine mehr menschliche und eine mehr naturhafte. Sprichwörtlich sind solche Koppelungen geworden wie die im dritten Finale, wo ein Choral und ein Ländler gleichzeitig miteinander gehen: hier trägt man einen Toten hinaus, und nebenan tanzt man auf der Hochzeit – in diesem Sinne drückte sich Bruckner darüber aus. So kommt die zwei- und dreiteilige Hälfte des Brucknerrhythmus übereinander zu stehen, wie es noch viele andere Kontrapunkte der Rhythmen gibt. Sinnbildlich gesprochen, liegen Kristallinisches und Schwarzerdiges in den verschiedenen Sätzen horizontal widereinander. Wenn Teile der Durchführung und der Wiederaufnahme ineinandergeschoben sind, so entspringen natürlich daraus auch Gegensätze des Denkstils. Einen Kontrapunkt der geschichtlichen Zeiten stellt jenes Miteinander von Symphonie, Choralfuge und Doppelfuge mit dem ersten Hauptthema und dem Finalethema im letzten Satze der fünften Symphonie auf. Die Altkirche und die neue singen widereinander, die Urlandschaft raunt am Anfang, der offene Himmel drommetet am Ende.

Kühnheit ist ein fast schwaches Wort für die Vereinigung aller Hauptthemen der vier Sätze im Finale der achten Symphonie. Bach hat einmal die vier Zeilen des Liedes »Vom Himmel hoch, da komm ich her« gleichzeitig ertönen lassen. Bruckner schrieb, als er seine Viereinigkeit im ätherreinen Cdur vollbracht hatte, in die Noten: Halleluja! Eine ähnliche Zusammenballung erreicht er in vielen seiner Unisonos. »Es werden gleichsam alle Stimmen im Einklang zusammengefaßt, die sonst nach verschiedenen Richtungen hin wirkenden Energien werden vereinigt, und in dieser vom Hörer vielleicht unbewußt empfundenen Vervielfältigung der Intensität der Energie mag nicht zuletzt die Höhepunktswirkung derartiger Unisoni gelegen sein« (Orel).

Strecken der Einfachheit, Ruhe, Sammlung tun sich allenthalben in den Leidenschaften des Scharfsinns und den Gefühlsstürmen auf. Noch einmal sind hier die Choräle und vor allem die tiefen, keineswegs stummen Generalpausen zu nennen. Die Pausen dienen manchmal dazu, einen Nachhall abzuwarten, der erst stark, dann matter aus der Ferne eintrifft. Dann wird es leer über der Tiefe, und etwas Neues macht sich daraus auf. Dann sind unsichtbar knetende, knotende, emsige Hände in unterweltlicher Werkstatt fertiggeworden. Manche Pausen könnten so gedeutet werden, als sei ein Choral eben darin verklungen oder sollte aufklingen. Denn oft gibt er sich nur in dunkel eingeschlossenen Fragmenten, in einsamen Registern zu erkennen, als ein Getrümmer von Bangigkeit, hängengebliebener Weihrauch, verlorene Lichtspur irgendwo. Vereinzelte Pianissimo-Akkorde der Posaunen und Hörner vergewissern sich dann des warmen Dreiklangs. Sie blicken aus nach den gebundenen Chorälen vor, in und nach den großen Kämpfen. Die stehen in unverziertem akkordischen Satz: Macht und Wahrheit des Errungenen oder des in Hinkunft Gewissen.

Auf Vereinfachung und Verdeutlichung war Bruckner immer aus. Seine Verbesserungen beziehen sich auf »Beseitigung unspielbarer Violinpartien, Beseitigung der Überladung und Unruhe der Instrumentation«. Die ursprünglich vier gleichzeitigen Gesangsthemen im ersten Satz der Vierten wurden auf zwei vermindert. Alle Finales bis auf eins wurden umgegossen. Freilich erzwang sich neben der formalen Vervollkommnung zuletzt auch das Schwermütige und verzerrt Unbändige den späten Einlaß in die Vierte.

Die Abschnitte innerhalb der Sätze sind klar geschieden, in den Endsätzen sinken zwischen ihnen Klüfte ein. Das war bei einem Gehör sehr weit voraus, sehr weit zurück notwendig. Die Verwandlungen unterwegs waren so entschlossen, daß die Wiederkehr der Urform nicht mehr zu erwarten stand. Und gerade sie arbeitete sich nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten, aus all dem Leben heraus zu ihrer unantastbaren Gültigkeit.

Aber nun lenken wir den Blick zurück in die irdische Form, wo Bruckner im Gedränge wohnte.

Drittes Stück

Bruckners Amtliches lag wie ein vielverzweigter Kraken auf dem Werk seiner Seele. Da war nun der Stoß seiner Zeugnisse gehäuft, und er mußte rechnen um Brot, um Zeit. Zwölf Stunden wöchentlich am Konservatorium, die brachten die Nagezähne der gröbsten Notdurft zur Ruhe. Die Hilfsdienste an der Orgel der Hofkapelle hatte er unentgeltlich zu leisten, die Erziehung der Hofsängerknaben zum Gesang, die Handreichungen als zweiter Archivar des Hoforchesters erbrachten eine weitere kleine Entschädigung. Ein wenig reichlicher kleckte die Hilfslehrerstelle für Klavierspiel am Lehrerinnenseminar zu St. Anna. Aber die wurde ihm vergällt, weil er eine Schuhmachertochter lustig »mein Schatz« genannt hatte, was eine notpeinliche Untersuchung heraufbeschwor. Er wollte lieber die 500 Gulden einbüßen, als törichter Annäherungen verdächtigt werden. Amt war Amt. Zum Glück wurde er in die Abteilung für junge Männer an derselben Anstalt übernommen: Harmonie- und Orgellehre – immer das nämliche. Nach dem Unterricht nahm er gern ein Auge voll Schlaf auf der Orgelbank. Ein kleines Stipendium vom Minister, wenig hilfreich, fiel zwischenein. Bald änderte sich der Lehrplan zu St. Anna, man brauchte keinen Aushelfer, Weinwurm erhielt das Musikfach. Bruckner schrieb: »Mußte schon im Sept. und später wieder Geld aufnehmen, wenn es mir nicht beliebte zu verhungern. Kein Mensch hilft mir.« Er fand ein paar Ausländer, die Lektionen bei ihm nahmen, die einheimischen Professoren schanzten ihm fast nichts zu. Des Musikhistorikers Hanslick Standesdünkel hielt ihn, den Nichtakademiker, von der Universität fern, bis dann doch wenigstens sein wissenschaftlicher Ehrgeiz gesättigt wurde: Ende 1874 wurde er als unbesoldeter Lektor für Harmonielehre und Kontrapunkt in der philosophischen Fakultät zugelassen, nach vier Gesuchen. Drei Jahre später wurde ihm auf seine Bitte eine Bezahlung zugebilligt, nach weiteren drei Jahren hatte er ein festes Einkommen von 800 Gulden für seine Tätigkeit an der Universität erklommen. Als er mit der Todeskrankheit kämpfen mußte, wurde es ihm ungekürzt sogar als Ehrengabe zuteil. Hanslick grollte um sich herum, in sich hinein. Seine Haupteinkunft freilich war kein Bargeld, es war die Aufrichtung, die er durch die Studenten, seine »Gaudeamus«, erfuhr. Sie verehrten in seiner Person die unbekannte Sendung, sie liebten die Wärme, den Witz, die überlegene Klugheit ihres Lehrers, sie setzten sich ein für ihn als Anhänger der neuen Richtung. Im akademischen Wagnerverein dienten sie seinen kleineren chorischen Werken. Im Hörsaale aber saßen sie zu siebzig, zu achtzig, zu hundert.

Nichts stillte die Klage in Bruckners Innerem: Gebt mir Zeit zum Schaffen! Nur eine Spitzenstellung konnte ihn aus der Kleinfron erlösen. Als der Kapellmeisterposten der Kirche »Am Hof« erledigt war, bewarb er sich, erfolglos wie schon so oft Fünf Monate nach seiner Bewerbung erhielt er den einen Satz zur Antwort: »Der inangesuchte Dienstposten wurde anderweitig verliehen.« 1878 machte ihn die Hofkapelle zum wirklichen Mitgliede mit 600 Gulden Lohn und mit langfristiger Aussicht auf mehr. Archivar und Singlehrer war er nun dort nicht weiter, aber viele freie Nachmittage und Ferientage mußte er opfern. Er konnte den Erlös aus Privatstunden noch immer nicht entbehren. Erst als sein Abend sank, nahm man ihm nach und nach seine Ketten ab.

Aus der Stille des Wartens werfen sich ab und zu jähe steile Gipfel des Virtuosen-Erfolges auf wie plötzlich aus dem Erdreich aufberstende Vulkane. Die meisten dieser Feuergipfel erhoben sich fern von Wien, als wollte das Schicksal eine fahle, leere Zone der Freudlosigkeit um den Meister ziehen. Die Vulkane erloschen so rasch, wie sie entstanden waren. Bruckner blieb geblendet im Dunkel, arbeitete und sehnte sich.

Zu Anfang der Jahrzehnte zu Wien wurde ihm in fremden Ländern zweimal der Ruhm als Organist bis zum Rausch. Nach Nancy eingeladen zur Orgelweihe in einer neuen Kirche, fand er die bedeutendsten Spieler aus der Stadt, aus Paris, Reims, Straßburg, Soissons, Luxemburg und woher noch immer versammelt, er obsiegte allen, kein Name wurde neben seinem genannt außer einem. Die Erbauer der Orgel, Merklin-Schütze, zogen ihn darauf nach Paris. Im Schiff der Notre Dame erwarteten ihn wohl alle lebenden französischen Komponisten von Ruf und Glanz, ferner Kenner aus Frankreich, Deutschland, Belgien. Was man hörte, hatte man noch nie gehört. Mit der Produktion Bruckners hatte die fünfmanualige Metropolenorgel von Notre Dame ihren größten Tag erlebt. Das scholl nicht nur aus dem Tagesruhm wider, noch nach seinem Tode pries man ihn als den Wundermann an der Orgel von Notre Dame.

Auf volkstümlicher Ebene wiederholte sich sein Triumph 1871 in London. Hier riß er über die Lauheit der Presse hinweg die Herzen der Zehntausende empor. Wieder saß er an einer Riesenorgel in der neuerbauten königlichen Alberthalle. Schon als er am Abend seiner Ankunft sie ausprobierte, heizte man die Dampfmaschine, die mit zwanzig Pferdekräften den Druck in das Werk preßte und deren Kessel am Verlöschen war, neu auf. Er spielte in einem wahren Reigen von Konzerten klassische Stücke und zu besonderem Jubel eigene aus dem Stegreif; fünfmal konzertierte er noch im Kristallpalast. Was über den Aufruhr der Wirkung verlautet, erinnert an das, was über die Orgelzauberei des Altmeisters Frescobaldi berichtet wird, den Pilgerscharen durch die Städte Italiens begleitet hatten. Auch Bruckner wurde angeboten, als Virtuos durch alle großen Städte Englands zu ziehen. Ihm lag nichts daran, er mußte ja auch flehmütig um Verlängerung des Urlaubs bitten, er kehrte heim.

Nicht als Virtuosenmeteor wollte er über Europa herfallen, wie er schon im Begriffe war. In Wien blieben ihm die Gehäuse der großen Orgeln geschlossen, er entwich in die geistlichen Stifte außerhalb, um hinter Mauern zu spielen.

Der Massenwirkung gegenüber mußte er sich zu Hause lange bei der zwingenden Wirkung auf einzelne bescheiden. Sein Entführer Herbeck rang sich durch ein dumpfes Labyrinth ins helle Wissen, daß Bruckners fMesse neben Beethovens Missa solemnis stände. Eine ungläubige Dame fühlte sich durch das gleiche Werk übernatürlich gerettet. Die Menge jedoch nahm ihre Begeisterung darüber zehn Jahre später in »einer Art musikalischen Bürgerkriegs« zurück. Ebenso seicht muß wohl der grenzenlose Beifall bei der Aufführung der zweiten Symphonie gewesen sein, denn ihm folgte bei der Uraufführung schon der dritten der grenzenlose Abfall. Nur Männer wie Speidel schrieben, kein gewöhnlicher Sterblicher habe das musiziert, und die Gegner seien unwürdig, ihm die Schuhriemen zu lösen.

Als sich die Werkerfolge dichter einstellten, wichen auch sie in großem Bogen vor ihm zurück. Er mußte ihnen meist nachreisen. Vor der entscheidenden Aufführung in Wien starb der Dirigent Herbeck (Oktober 1877). Dem Quintett wurde bei der zweiten Vorführung das Finale abgehackt. Josef Schalk und Ferdinand Löwe, seine Schüler, führten einige seiner Symphonien auf zwei Klavieren im Bösendorfersaal vor. Die erste Wiedergabe des Tedeums unter Bruckner wurde ebenfalls von zwei Klavieren begleitet. Die Funken guten Willens konnten die Demütigung des einundsechzigjährigen Mannes nicht erleuchten.

Der draußen wachsende Ruhm war nicht zu verpflanzen. Nach der Leipziger Uraufführung der Siebenten unter Nikisch 1884 konnte Bruckners Name nicht mehr untergehen, aber er selbst konnte es. München folgte bald, und Bruckner wurde dort buchstäblich auf Händen getragen, es folgte Köln, Hamburg, Graz, Chikago, Neuyork, Amsterdam, Berlin, Budapest, Dresden, London – ja, und Wien war auch unter den Städten. Die Dritte war nach Dresden, Frankfurt, den Haag, Neuyork gegangen – und Wien war schmähend auch unter den Städten gewesen.

Trotz der Kinderfreude, die jegliche gute Nachricht in Bruckner weckte, scheint ihn die Grundstimmung eingesponnen zu haben, die er einmal in die Worte faßte: »Mir ist auf dieser Welt schon alles recht, und ich werde ganz gleichgültig der edlen Menschheit gegenüber.«

Reichere Ehrungen wurden erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt über ihn ausgeschüttet. Sie kamen zu spät, um ihn noch einzuholen. Das will zunächst bitter besagen: sie befreiten ihn nicht von seinen ungebührlichen Opfern an Schöpferstunden. Denn die Befreiung brachte das infolge der Überarbeitung verfrühte Greisenalter und im letzten Jahrfünft die katarrhalische Erkrankung des Rachens und Kehlkopfs, Magen- und Leberleiden, Venenerweiterung an den Füßen, die fortschreitende Erkrankung der Nerven und des Herzens. Die eingeborene stete Bereitschaft zur Freude war auch eine ermüdende Anstrengung. Die Erfolgsdaten waren sein flammender Kalender, und auf manche hohe Feste darin fiel eine Sonnen- oder Mondfinsternis. Die Ärzte, als wären sie seine Astrologen, wiegten besorgt die Köpfe, als er die Uraufführung seiner Achten (Ende 1892) ausstehen sollte. Daß sie ein großer Sieg für ihn wurde, änderte nichts daran, daß auch das Glück für ihn zu lastbar geworden war. Von der Uraufführung der Fünften in Graz (1894) unter seinem Schüler Franz Schalk war er durch sein Leiden ausgeschlossen, so daß er sie niemals gehört hat. In den Erprobungen der Werke lief sein Lebensinterpunktionssystem, das System der Zeichensetzung durch bestandene Prüfungen, weiter.

Die anderen Ehren nehmen in seinen Kalendern, die ihm als Merk- und Tagebücher dienten, keinen größeren Platz ein als etwa die sorgfältige Einzeichnung der jungen Damen, die er auf Bällen kennengelernt und mit denen er sich unterhalten und getanzt hatte, zum Fasching beim Juristenball, bei der »Concordia« der Schriftsteller, bei den Industriellen, auf »Künstlerabenden«. Es heißt über die Verleihung des Franz-Josefs-Ordens 1886: »Am 9. Juli von Sr. Durchlaucht Fürst Hohenlohe Franz Josef Orden überreicht circa 1 Uhr.« Über seinen Dankbesuch notierte er: »23. September um ¼ über 11 Audienz bei Sr. Majestät, dem Kaiser.« Das letzte, ihm erfreulichste Examen brachte er ohne sein Zutun im November 1891 hinter sich: es war die Ernennung zum Ehrendoktor der Wiener Universität. Der Kalender vermerkt darüber auf einem Blatte, das außer einer Geldausgabe an seine Wirtschafterin die Wohnung einer Valerie Pistor einträgt, das folgende: »7. Nov. Promotion als Ehrendoktor der Philosophie an der Wiener Universität. 22. 11. beim Minister. 26. 11. beim Kaiser (äußerst huldvoll).« Namen aus dem Alltag beschließen die Seite.

In die höfische Rangordnung des Kaiserreichs eingereiht zu werden, erregte ihn nicht übermäßig, so vorbehaltlos er jedem an seinem Orte die ihm gebührende Devotion spendete, so selbstverständlich ihm die Krone des Kaisers von Liebe getragen werden mußte, damit sie den Monarchen nicht drücke. Wie im kirchlichen Staate schimmerten im weltlichen durch die Personen die Ämter. Da sein Teilnehmen an den kollektiven Einrichtungen außerhalb der Frage nach ihrer Würdigkeit erfolgte, hatte er nicht nötig, sich zu unterwerfen. Bückte er sich, so nicht kriecherisch, sondern enthusiastisch, seine Hände drückten dabei sein Herz, seine Arme breiteten sich dabei von selbst weit aus. Aber Ehrendoktor zu werden, das war, als hätte die profunde Wissenschaft selbst ihn in ihren Thronsaal gewiesen. Verstand es nicht auch der Universitätsrektor Hofrat Exner so, als er beim Festkommers des akademischen Gesangvereins vor dreitausend Geladenen denkwürdige Worte sprach? »Wo die Wissenschaft haltmacht«, sagte er, »wo ihr unübersteigliche Schranken gesetzt sind, da beginnt das Reich der Kunst, welche das auszudrücken vermag, was allem Wissen verschlossen bleibt. Ich beuge mich vor dem ehemaligen Unterlehrer von Windhaag.« Der Geistliche Dr. Kluger von Stift Klosterneuburg brachte ihn im Wagen heim, in dem ein riesiger Kranz die Fahrtgenossen beiseitedrängte, und Bruckner seufzte den Dank in sich hinein: »Zu viel, zu viel.« Bei der eigentlichen Promotionsfeier hatte er sich eine Orgel gewünscht, um zu danken. So versetzte er den Geist in das Instrument, das noch beredter in Zungen sprach als die Orgel: in das Orchester. Er übereignete der Universität seine erste Symphonie.

Er konnte auf die Stufen hinabsehen, die zu seinem Throne hinanführten. Sängervereinigungen der Heimat hatten ihn zum Ehrenmitgliede erwählt, das Salzburger Mozarteum, die Amsterdamer Maatschappij tor Bevordering der Tonkunst, der akademische Gesangverein. Oberösterreich hatte jüngst einen Ehrensold, die Stadt Linz die Ehrenbürgerschaft bewilligt. Er hatte in Prag die neue Orgel des Rudolfinums weihen helfen, die alte im Dome dort beim Hochamte gespielt.

Wird der Lohn auch sonst gemeinhin nach der Arbeit ausgehändigt, so fördert er meist doch das weitere Vollbringen. Bei Bruckner entwich der Lohn allzuglatt in die Gestalt von Anerkennungen. Der Ruhm hatte in einem Leben des Robotts etwas Posthumes, so, als stände ein Begrabener von den Toten auf und dürfte sich mit tränenverschleierten Augen hienieden umsehen, wo er sich einst auf seine Kosten ein Orchester mieten oder durch einen Gönner mieten lassen mußte, wo er zweimal freundschaftlich in der Fremde gesammelte tausend Gulden zum Druck eines Werks entgegengenommen hatte, wo es an Geld für Abschriften fehlte.

Martern haben sich ihre kühle Klamm durch den Humus seiner zweiten Wirklichkeit gegraben. Darin wandelte er gegen das verborgen brausende Meer hinab. Wie eine Münchener Beobachterin spürte, »lag trotz seiner guten Laune ein Hauch Trauer über all dem, was er sagte«. Die Feinde fraßen an ihm wie ein »langsames, aber desto sichereres Krebsleiden«. Die Philharmoniker lachten ihn in den Proben laut an, erfanden Spitznamen für seine Musiken. Er vergaß wohl einmal, das Zeichen zum Anfang zu geben, nahm den Taktstock verkehrt in die Hand, warf ihn bei anderer Gelegenheit fort, um seinen Freund Moritz von Mayfeld zu umarmen. Dergleichen wurde aufgebauscht und umzischelt. Bei der Uraufführung der Dritten flohen alle bis auf zehn oder zwanzig, die Musiker zuerst. Bei der Vorprobe der nächsten Symphonie verwarfen die Philharmoniker das meiste als verrückt. »Alles ist zu spät. Fleißig Schulden machen, und am Ende im Schuldenarreste die Früchte meines Fleißes genießen und die Torheit meines Übersiedelns nach Wien ebendort besingen, kann mein endliches Los werden.«

Die drückendsten Demütigungen erfuhr er am Konservatorium. Lehrbuben und Diener entsetzten sich. Allen vorauf wetteiferte der Generalsekretär Zellner, ihn zu verbittern. Das Licht wurde ihm ausgedreht, Zellner stellte während Bruckners Harmonielehre im Zimmer nebenan Sirenen an, er riet ihm, seine Symphonien auf den Mist zu werfen und sich gescheiter mit Klavierauszügen etwas zu verdienen. Zellner sprach ihm sogar die Befähigung zum Organistentum ab. Daß Bruckner ungeschliffen und lächerlich wirkte, haßte man, weil man nicht glauben konnte, einer, der Großes in sich hatte, könne so geduckt worden sein. Sein Dämonion forderte von ihm, daß er als Zerstörer in seine Schöpfungen selbst eingriff. Er erlaubte sinnstörende Kürzungen, bat, flehte wiederholentlich darum. Die vollständige Fassung sei für spätere Zeiten und für Kenner. Seine besten Jünger rieben ihm falsche Farben, die den klaren Glanz seiner Gebilde trübten und dem Teufel der Mode dienten. Die veränderten Gebilde reizten und reizten auf, doch waren sie den einzelnen Wissern, die vielleicht schon heranwuchsen, nun nicht ganz kenntlich: sie schienen nun nicht so unabhängig, wie sie waren; durch die Stärkung waren sie geschwächt. Da wurde er auch mürbe genug, um mit der Verteilung einer Symphonie auf zwei Abende einverstanden zu sein.

Die Geschichte hat vor einen der Eingänge zu Bruckners Leben eine Reihe von Galgen aufgerichtet. Daran hat sie etliche Kritiker gehängt, Männer, die im übrigen nicht ohne Verdienst sind. Vornean erkennen wir Eduard Hanslick, Max Kalbeck, Gustav Dömpke.

Sie und andere hörten Bruckners Musik trotz ihres »Prälatenstils« als eine lemurische Spukhölle. So muß es gewesen sein, sonst hätte ihr Hohn nicht bisweilen in infernalischen Urhaß umschlagen können. Es bleibt ihnen ein Rätsel, »wie dieser sanfteste und friedfertigste aller Menschen im Moment des Komponierens zum Anarchisten wird«. Er komponiere »Hochverrat, Empörung und Tyrannenmord«. »Wie eine unförmliche, glühende Rauchsäule steigt seine Musik auf, bald diese, bald jene Gestalt annehmend.« Er sei unnatürlich, aufgeblasen, krankhaft und verderblich Halb Genie, halb Trottel, biete er antimusikalischen Blödsinn. Man glaube an seine Stegreifkomödien so wenig wie an den Sieg des Chaos über den Kosmos. Er taumle in haltlos zerfallenden, musivischen Formen. Das Credo seiner fMesse sei eine christliche Wolfsschlucht. Er komme aus den Nibelungen und gehe zum Teufel. Sein bengalisches Feuer hinterlasse keinen sonderlich feinen Geruch. Er komponiere wie ein Betrunkener. Der Modergeruch eines verwesungssüchtigen Kontrapunktes steige in die Nasen. Es dufte bei ihm nach himmlischen Rosen und stinke nach höllischem Schwefel. Man wendet sich von dem »häßlichen Gemisch von Roheit und Überfeinerung«, vom »nackten Unsinn«. Man erliegt dem »verwirrenden Dunkel, der müden Abspannung, der fieberhaften Überreizung« im »traumverwirrten Katzenjammerstil hinauf- und hinablamentierender Schusterflecken«. Man schmeckt aus den Tönen des anderthalbmal Närrischen Geselchtes mit Knödeln und Kraut. Noch dem Todkranken wirft man »mit fixen Ideen abwechselnde Gedankenflucht« vor, die »ewigen Verlegenheitstremolos, Rettungstonleitern, Angstpausen, Notsequenzen, Verzweiflungsfanfaren, das große Tschingdarassasa, Schnedderengteng und Bumbum«. Und wieder sehen dem »Eindruck der Trostlosigkeit« die Werke aus »wie Musikdämpfe«. In schmutzigen, faulen Ohren gespensterte ein travestierter Bruckner, den es nie gegeben hat und nie geben konnte: er wäre ein Widerspruch in sich selbst. Der Gegengeist, und sei er noch so spitzig, dringt nicht in den Geist.

Bruckner wußte sich nur selten und nur schwach zu wehren. »Ich bin kein Orgelpunkt-Puffer und gebe gar nichts drum. Contrap. ist nicht Genialität, sondern nur Mittel zum Zweck … Geißle den traurigen Mann … Bitte übrigens ja nicht Hanslick meinetwegen zu tadeln, denn sein Zorn ist schrecklich; er ist imstande, einen zu vernichten. Mit ihm ist nicht zu kämpfen. Nur bittend kann man an ihn herantreten. Ich selbst auch so nicht, da er sich stets verleugnen läßt.« Er hätte zudem seine zwei Adjunkten, die auf Kommando schreiben müßten.

So brachte er bei der letzten Audienz die Kinderbitte vor seinen Kaiser, er möge doch den Professor Hanslick zur Mäßigung bewegen. Franz Josef schätzte Bruckner mehr als die Menge der Fachleute, sein Orgelspiel war ihm in Ischl sogleich aufgefallen, er machte ihm Zuwendungen, bezahlte den Druck zweier Symphonien und war bereit, die Kosten von Kunstreisen zu übernehmen, »und sollten es Tausende sein«, aber den mephitischen Geschmack konnte er nicht von dem Gaumen nehmen, das unvorhandene Gerümpel schöner Torsen konnte er nicht abschleppen lassen, das Denken konnte er nicht ändern, sondern die Hälfte des Publikums stand, ohne die Hanslicke zu kennen, ein halb Jahrhundert auf ihrer Seite.

Bruckner wehrte sich manchmal auch falsch: durften Praktiker seine Orchesterpalette verschmieren, forderte er selbst zu Weglassungen für den Augenblick auf, und verbot er dafür grimmig Änderungen in den Stimmen oder im Ganzen, so beleidigte er hilfsbereite Freunde, wenn sie beim Kopieren seiner Handschriften nur ein einziges überflüssiges Versetzungszeichen fortgelassen hatten.

Alle Figuren der Wiener Jahrzehnte schrumpften angesichts der Mittengestalt Richard Wagners ein. Wiederum, wie früher Aßmayr, Dürrnberger, Zenetti, Sechter, hatte der Mann des Bekenntnisses seinen Wohnsitz nicht ein paar Gassen weiter, diesmal lebte er sogar in einem anderen Lande. Wie die anderen erwandert und erpilgert worden waren, mußte er erreist werden. Doch der Abwesende ist so erdrückend gegenwärtig, daß er natürliche Kameradschaften zerreißt.

Bruckner geriet zwischen die Fronten. In dem einen Heerlager frohlockte die Mannschaft der Studenten, führte etwa Hugo Wolf, Herbeck, Weinwurm, in dem andern heulten musikalische Klippschüler, Kritiker, Schulmeister, lange die Philharmoniker, führten Hanslick und Brahms. Weil die Gegner, bevor sie aufeinandertrafen, auf Bruckner trafen, durchstachen sie ihn mit ihrem Hasse.

Er wollte nichts als seine Symphonie – das war ein Kampf nach innen. Darum glich die äußerliche Befehdung so sehr einer körperlichen Mißhandlung. Er, der Hilfloseste, hatte nicht nur das zu leiden, was ihm als originalem Machthaber auf keinen Fall erspart geblieben wäre, sondern er wurde geschunden für hundert, gewiß aber für zwei, für Wagner und Bruckner.

Für die Treue zu Richard Wagner hatte er sich nie zu entscheiden brauchen, ihn band Verehrung tiefer als Treue. Verehrung ist Schicksal, das, selbst wenn es fragt, nicht zweifelt. War nun der Bayreuther Meister ihm in der Wesensanschauung entgegengesetzt, – es gab keinen lebenden Künstler auf Erden, zu dem er eher hätte sagen mögen: gleich zu gleich!

Von Wagner nicht zurückgestoßen zu sein, bedeutete ihm mehr, als von anderen mit Lob gehudelt zu werden. Wagner, der Eroberer, würde vielleicht auch seiner Arbeit das Leben auf Erden erobern. Es ging um das Leben des Werks, nicht um seinen Ruhm. Darum nannte er nach Wagners Tode die Orchesterleiter, die sich seiner annahmen, die ihm von dem Meister hinterlassenen Vormünder. Er hatte ihn, ehe er ihn selbst kennenlernte, von einem Stabe mutiger und mächtiger Männer umgeben gesehen. Begeistert führten sie aus, was er ihnen befahl. Es lag bei ihm, ihnen auch zu Bruckners Gunsten zu befehlen.

Bruckner hatte in der Ahnung den vollständigen Klangkomplex Wagner wie eine Astralbildung vor sich aufglimmen sehen, ehe er in den Kern zu der lebendigen Person des Lichtspenders vordrang. Er war 1865 zu einem Sängerbundesfest in München und erlebte dort dann die Uraufführung von »Tristan und Isolde«. In den zwischen diesen Feiern liegenden Wochen war er bei Wagner zu Gaste und hatte die fertigen Teile seiner Erstlingssymphonie mitgebracht, welche er indessen nur Hans von Bülow lesen ließ zu dessen Staunen und Erschrecken. Sie dem zu zeigen, den er meinte, überwand er sich nicht, wie er sich in seiner Gegenwart nicht einmal setzte. Trotzdem war Wagner ihm gewonnen: drei Jahre später durfte er die in Korrekturbogen gern überlassene Szene Hans Sachsens auf der Festwiese der Meistersinger von seinem Linzer Chor sämtlichen Aufführungen des Dramas voraussingen lassen.

Wieder fünf Jahre später brach er von einer Marienbader Kur entschlossen nach Bayreuth auf. um die Annahme der Widmung seiner Symphonien Nr. 2 oder Nr. 3 zu erbitten.

Das Wagnis und das Glück, mit dem es ausging, drehte sein Gemüt in Wirbeln. Diesmal unterdrückte er nicht, was er sich vorgenommen hatte. Wagner war durch den Bau des Festspielhauses überlastet und hatte seine »Nibelungen« beiseite legen müssen: Bruckner blieb bei seinem inständigen Verlangen, die Symphonien müßten angesehen, die Annahme der Zueignung erwogen werden. Ein flüchtiger Einblick werde genug kundtun. Wagner nahm die Partituren, die Zweite fesselte ihn sofort, doch schien sie ihm, nach einem Berichte Bruckners, zu zahm zu sein. Die Dritte ließ ihn nicht los; er erbat sie zu genauerer Durchsicht bis auf den Nachmittag. Es trieb Bruckner erwartungsbang durch die Stadt, Schauer der Überlegung, daß hier eine Idee Wagners Körper werde, hielten ihn dann beim Neubau des Theaters fest, obendrein beschmutzte er sich unter den Maurern, und zuletzt mußte er sich sputen, um rechtzeitig in Wahnfried zu erscheinen. Wagners Auge habe geleuchtet, anfangs habe er gar nichts gesagt, nur um den Hals sei er ihm gefallen und habe ihn ein übers andere Mal abgeküßt. Er habe natürlich gleich weinen müssen, und das sei auch nicht besser geworden, als Wagner endlich seine ungemein große Freude und die Annahme der Widmung erklärte. Zweieinhalb Stunden sei er zurückbehalten worden, habe den Garten und die Grabstätte Wagners gesehen. Wagner aber machte die Feierlichkeit fröhlich durch ein Fäßchen Weihenstephanbier. Bruckner jammerte, er komme doch eben aus Marienbad, aber er glaubte der Versicherung des Gastgebers, daß dieser Trunk gesund mache, und unterwarf sich seiner Autorität, bis er nächsten Morgens nicht mehr auseinanderhielt, welche Symphonie Wagner gewählt hatte. Der Zettel, auf dem er danach fragte und auf dem die Antwort zurückkam, ist oft faksimiliert worden. Er lautet: »Symphonie in dmoll, wo die Trompete das Thema beginnt. A. Bruckner – Ja! Ja! Herzlichen Gruß! Richard Wagner.« Das Wort »die Trompete« gebrauchte dann Wagner oft wie einen Rufnamen Bruckners. Bei einem Besuche in Wien ging er am Bahnhof schnell auf ihn zu und stellte ihn den anderen Wartenden als seinen Mann vor. In den Parsifaltagen kam Bruckner an vielen Morgen in das Haus Wahnfried, und im Freundeskreise äußerte Wagner, er kenne nur einen, der an Beethoven heranreiche – Bruckner.

Über den Abschied für immer schrieb Bruckner an Hans von Wolzogen: »Anno 1882 sagte mir der damals schon leidende Meister, indem er mich bei der Hand hielt: Verlassen Sie sich, ich selbst werde die Symphonie und alle Ihre Werke aufführen. Ich sagte: Oh, Meister.« Darauf überwältigte es ihn so haltlos, daß Wagner ihn besänftigen mußte und sein letztes Wort an ihn sprach: »Nur ruhig – Bruckner – Gute Nacht!«

Vor fast einem Vierteljahrhundert hatte er den Meister bei der Generalprobe eines Konzertes mit einem Klaviervirtuosen zum ersten Male von ferne gesehen, jetzt blieb ihm übrig, ebenso stumm bei Wallfahrten an sein Grab zu ihm hinüberzusehen.

Möglich, daß seine Hoffnung auf Wagner zuweilen einer Fata Morgana nachgeeilt war. So viel bleibt bestehen, daß kein anderer Zeitgenosse den Wuchs Bruckners so anstrengungslos riesenhaft sah wie Wagner, kannte er auch nur zwei Symphonien.

Die Verehrung des »Hehren, Unsterblichen, Unerreichbaren« war in Bruckner prädestiniert, und so warf sich beispielsweise das Gralsmotiv als unbewußte Huldigung nicht erst im Christus factus est von 1884 und im Virga Jessevon 1885, sondern schon im Tantum ergo in Asdur von 1846 aus. So mußte er den Abgott noch im freundschaftlichen Gespräch durch Handkuß und Sinken in die Knie aus der alltäglichen Nähe entfernen, was natürlich abgewehrt wurde. Er hat Wagners Musik nie anders als aus seiner eigenen Wesensmitte gehört. Darum können wir nicht ermessen, was er dabei empfand, als nach einer Aufführung seiner Siebenten (1886) Wagners Büste im Festsaal aufgestellt und als ihr sein Lorbeerkranz um den Hals gelegt wurde. Wir können nicht ermessen, welche Kommunion in ihm gefeiert wurde, während im Münchener Hoftheater, als das Publikum sich entfernt hatte und Dunkelheit eingetreten war, dreimal der Abgesang aus dem Adagio dieser Symphonie mit seinen trauernden Hörnern und Tuben gespielt wurde.

Daß Wagners tönende Gedanken an dramatische Personen gebunden waren, störte Bruckner nicht, weil sein Inneres, in dem er diese Gedanken versammelte, von Theaterpersonen nicht bevölkert war. Die schillernden Tonströme ergossen sich durch seinen Raum wie eine absolute Musik. Ihm war das Drama verborgen, in dem es hieß: »Verging wie Hauch der Götter Geschlecht, laß ohne Walter die Welt ich zurück: meines heiligsten Wissens Hort weis ich der Welt nun zu.« Der Hort war Seligkeit durch irdische Liebe. Dieses Drama breitete sich in ihm aus als Schöpfungsmythe mit vulkanischen Blitzen, neptunischen Katastrophen. Die Götter vergingen ihm nicht wie Hauch, die Welt blieb ihm keinen Augenblick ohne Walter, die Liebe verließ ihre schöne Schwüle und wurde Sehnsucht des Eros. Der Weltbrand Muspilli wurde ein christlich glorioser Weltbrand. Bedenkt man die gelegentliche Frage Bruckners, warum Brünnhilde verbrannt würde, so setzt ihn die Annahme nicht herab, er habe sich bei Wagners Texten mit einem Wundergepränge von Rittern und Reisigen, von Helden und Kämpfern, silberner Rüstung, Sagenschwan und Taube des Heiligen Geistes begnügt. Er war wohl vom Vorspiel an in einem nur musikalischen Venusberg und Monsalvatsch. Das Land, unnahbar unsern Schritten, bereiste man nicht mit Ochsenkarren und nicht mit Ikarusflügeln.

Er nahm, und auch das war bei ihm Ehrfurcht, Wagner das Denken in einer Welt des Willens und der Vorstellung weg. Die Partitur des »Tristan« war ihm ein Buch der Heiligen Schrift, die Tristandichtung hätte ihm das Buch vielleicht säkularisiert – er sah sie nicht.

Die musikalische Arbeit empfing von den Vorgängen auf der Bühne her schärfere Einkerbungen, als sie in der älteren symphonischen Gliederung durch Kadenzen abgeschnitten wurden. Bruckner vertiefte die Einschnitte noch. So wirkte er geheimnisvoll auf Wagner ein, wie dieser geheimnisvoll auf ihn eingewirkt hatte.

Unter den mit ihm tätigen Musikern Wiens stand er Herbeck am nächsten. Er nannte ihn, der mit gleichmäßigem Nachdruck für ihn sorgte, seinen zweiten Vater, obgleich Herbeck sieben Jahre später als er geboren war. Der Sohn eines Schneiders brachte es als Hofkapellmeister zum Ritter Johann von Herbeck. In Wien geboren, bei den Zisterziensern in Neukreuz erzogen, im Gymnasium zu Wien und gleichzeitig auf der Universität autodidaktischer Musikliebhaber, 1848 Legionär und Rechtsstudent, wurde er als Einundzwanzigjähriger Chorregent an der Piaristenkirche, als Fünfundzwanzigjähriger Chormeister des Wiener Männergesangvereins und bald darauf Dirigent der Gesellschaftskonzerte des von ihm gegründeten Singvereins, als Siebenundzwanzigjähriger Konservatoriumsprofessor, als Fünfunddreißigjähriger erster Hofkapellmeister, dann Direktor der Hofoper und starb, nachdem er sich aus der Intrigenluft des Theaters wieder zur Gesellschaft der Musikfreunde zurückgezogen hatte, mit sechsundvierzig Jahren an einer Lungenentzündung.

Dieses Presto seines Lebenslaufs wurde durch seine Begeisterungsfähigkeit für das neuartig Gediegene ausgewogen. Er war der eigentliche Entdecker des Schuberts der großen Formen für Wien, wie er dessen Unvollendete Symphonie und den »Gesang der Geister über den Wassern« überhaupt wieder aufgefunden hat. Dazu war er der Entdecker der Verwandtschaft Bruckners mit Schubert. Sie ist innerlich weit mächtiger als die zu Wagner. Überzeugend beschreibt Robert Haas die gemeinsamen Merkmale: »Die Sonatenform wird in Gruppen geschichtet, wobei die Gliederung in Klangflächen stark hervortritt, die Exposition verfügt über drei einander gegenübergestellte große Komplexe, ein ›Dreitonartensystem‹, die Tonart des Seitensatzes wird (wie schon bei Beethoven) von der klassischen Norm befreit, die Gliedertrennung geschieht gelegentlich durch völligen Stillstand, einen Halteton oder eine Generalpause (hSymphonie), die Durchführung wird neu gewertet und in Exposition sowie Reprise eingebaut, die Themengestaltung vollzieht sich aus dem Klang heraus und ist durch das instrumentale Kolorit gestützt, in der terrassenförmigen Harmonik und Motivik atmet eine veränderte Formgesinnung, … die innere Geschlossenheit ergibt sich durch die einheitliche gedankliche Durchdringung aller Gruppen, insbesondere auch durch die Einbeziehung der langsamen Einleitung vor dem ersten Allegro.«

Als Herbeck, vom Intendanten Fürsten Constantin Hohenlohe-Schillingsfürst an den ersten Platz des österreichischen Musiklebens gestellt, nach Schuberts CdurMesse, einer eigenen, einer von Beethoven und Cherubini Bruckners dmollMesse ansetzte, bekannte Bruckner, er »fürchte sich so«. Aber er hatte sich dem zweiten Vater schon längst ergeben müssen. In Nürnberg beim Sängerfest war Herbeck dem Linzer Sängerdirigenten Bruckner um den Hals gefallen. Der Sohn freilich durfte nicht eine ähnliche, allzu kindliche Liebesbezeigung wagen: als er in Wien auf offener Straße nach Herbecks Hand haschte, um sie zu küssen, wurde es streng abgelehnt. Ein wenig Bangen sorgte immer dafür, daß die Verehrung nicht zu weich wurde. Sollte Herbeck wieder einmal Kürzungen und Veränderungen fordern, wie so oft? Dann galt es aufzupassen und zäh zu fechten.

Sicher war ja, daß Herbeck es gut meinte, woran immer er seinen energischen Kopf setzte. Mochte er ihn nur auslachen, wenn er sich abgrämte, daß ein Witzblatt ihn gepritscht hatte. Er war doch der gute Unhold gewesen, der ihn aus Linz, von wo aus er schließlich nicht in die ewige Seligkeit eingehen wollte, erlöst hatte. Und er hatte ihn dabei behandelt, wie es ihm am liebsten war: er hatte ihn nach St. Florian mitgenommen und sich dort vorspielen lassen, er hatte ihn auch vor seiner Berufung dem Fürsten Hohenlohe allein vorspielen lassen: in der Tastensprache konnte man ihm am besten seine Kenntnisse abhorchen. Herbeck bohrte ihm die Mauern an, die ihn nicht durchlassen wollten, er schützte ihn in der elenden Mädchenverschwörung von St. Anna. Er war hochherzig und glühend und kargte nicht mit seinem Lobe. In den Proben der zweiten Symphonie behauptete er, der Saal würde vor Applaus demoliert werden, wenn Brahms das geschrieben hätte. Und: Bruckner führe eine verschwenderische Küche, mancher musikalische Lazarus könne sich da sattessen. Seine höchste Anerkennung war: das könnte Schubert geschrieben haben. Darum schwor ihm Bruckner zu, er stände unter seiner Fahne voran, und verteidigte ihn, ungeschickt genug, vor dem wortüberlegenen Richard Wagner.

Aber das Feste blieb fest: auf die zuredende Frage Herbecks, ob er sich mit seiner fMesse nicht geirrt haben könne wie Wagner mit dem »Tristan«, antwortete er: Nein. Später wurde er von dem Zweifler wie in Nürnberg umhalst. Das Feste blieb fest: beim Aveläuten wurde dreimal der Hut gelüftet, wenn man auch vor dem Großstädter verlegen wurde und ihm, um die Sicht auf die Zukunft offen zu halten, bei den Verhandlungen auf der Veranda des »Krebses« in Linz gesagt hatte, es sei in der Herbsteskälte so warm.

Herbecks Tod zerbrach ihn. Er mußte die von dem Helfer eben einstudierte Symphonie selbst dirigieren, die ungeheure Niederlage wurde in ihm durch nichts mehr ausgewetzt.

Herbecks Nachfolger, Josef Hellmesberger, bis dahin artistischer Direktor der Gesellschaft der Musikfreunde und damit des Konservatoriums, war bald günstig und bald hochfahrend. Bruckner hatte nun keinen Halt mehr an überlegenen Menschen. Am Konservatorium hatte er anfangs einen nahen Kollegen, den Klavierprofessor Schenner, der mit ihm zur Mahlzeit ging, alle seine Arbeiten ansah und sein Duzbruder wurde. Aus Schenners Klasse kam vielleicht Hugo Wolf für ein kurzes in seinen Unterricht. Es ist genugtuend, daß wenigstens dieser ebenbürtig strebende Jüngling (geb. 1860), der an den Schubert der Lieder anschloß wie Bruckner an den Schubert der Symphonien, nicht abseits blieb. Zwar hatte sich ihm das Feuer der Wahrheit wie das der Ehrgier vom Rauche zu reinigen, so daß er einige Male nicht verstand, wo andere vorgaben zu verstehen, und einige Zeit eifersüchtig war, wo andere geiferten. Nun, was das Verständnis anbetraf, so hatte Bruckner selbst von einem seiner Sätze geschrieben, ihn beim ersten Male aufzunehmen sei eine Unmöglichkeit, und was die Eifersucht anging, so meinte er just über Hugo Wolf, der komponiere den ganzen Tag, während er sich mit Stundengeben plagen müsse. Aber das dritte Feuer, das der hymnischen Leidenschaft, brannte in Wolf ohne Qualm. Wie das Weinen von vielen Unsterblichen, nicht nur von Herder, Jean Paul und Bruckner selbst, geübt wurde, fiel er dem Meister nach der dmollSymphonie heftig weinend um den Hals. Nach dem Adagio der Achten sprang er begeistert auf und rief, erst in tausend Jahren werde man diese Herrlichkeit verstehen. Er erließ inmitten der Feindschaft ringsum einen Aufruf, der dringend für Bruckner warb. Er besuchte ihn als Zwanziger häufig, legte ihm seine Schöpfungen vor, und sie freuten sich miteinander. Er stellte ihn hoch über alles, was in Wien Noten schrieb.

Brahms? – »Mein Herz ist kummervoll!!!«, heißt es in einem Briefe Bruckners über ihn. Es scheint, als habe Brahms gegen seinen großen Rivalen unvornehm gewühlt. Er hoffte, der »Schwindel« dieser »symphonischen Riesenschlangen« werde in einigen Jahren vergessen sein. Als zeitweiliger Präsident der Gesellschaft der Musikfreunde ließ er sich von seinem Konservatoriumsuntergebenen begrüßen: »Ergebenster Diener, Herr Präsident!« Des verhaltenen Hohnes aber war auch der Unterdrückte mächtig: die Sachen von Brahms seien zur Beruhigung gut, zum Aufrütteln andere. Auf das Geplänkel Brahms‘, er könne sich nicht in die Richtung der Brucknerschen Kompositionen finden, erwiderte der Angegriffene zuvorkommend, aber das mache doch gar nichts, ihm ginge es mit den Arbeiten von Brahms ebenso. Einmal wurde von Anhängern der beiden versucht, sie im Wirtshaus miteinander auszusöhnen. Die beiden Hofstaaten setzten sich an verschiedene Tische und verkapselten sich gesprächsweise, bis man wenigstens die Übereinstimmung des Geschmacks an der gleichen Speise feststellte. Brahms fand, die jungen Leute im Konservatorium würden von Bruckner gründlich und unheilbar ruiniert, aber vor Kampfesbeginn war er ihm der größte lebende Symphoniker gewesen, und als für beide die ewige Urfehde eintreten sollte, bereute er. Ähnlich verhielt sich der Brahmsprophet Hans von Bülow. Solange er leben werde, werde er für seinen Ruin arbeiten, schrieb Bruckner Anno 1887.

Als der Abend eindunkelte, da entsannen sie sich seiner, Brahms und Bülow, und empfahlen ihn. Und Liszt, der nicht böse, aber flüchtig, bei rascher Abreise die ihm zugeeignete zweite Symphonie im Hotel vergessen hatte, wofür ihm die Widmung entzogen wurde, wollte dicht vor seinem Tode bei der Tonkünstlerversammlung in Sondershausen mit seinem »Christus« zugunsten Bruckners zurücktreten, er wollte den Kameraden im Vordergrund des Festes wissen.

Hinter den hier Genannten fing die Einsamkeit an zwischen »falschen, schwachen Freunden« und die Wüste mit Schakalen und Sandvipern.

In den Ferien überhüllte Bruckner alljährlich die grüne Einsamkeit in Steyr, St. Florian oder Vöcklabruck, wohin seine Schwester Sali an den einstigen Kameraden Hueber verheiratet war. In Vöcklabruck verbrachte er auch seinen aller Welt unbekannten sechzigsten Geburtstag, hochgelobt von der dortigen Bürgerkapelle, begrüßt von einer einstigen Schülerin aus Windhaag. Und die Einsamkeit der Orgeln im Schatten schlug über ihm zusammen.

Die Wüste leckte bis in seine Wohnung hinein. Sie lag in der Heßgasse. Nach Aufenthalten in der Währinger Straße, dann am Opernring hatte sie ihm die Güte eines Gönners, des Ritters von Oelzelt, gegen einen winzigen Zins 1877 zur Verfügung gestellt. Im Vorraum hingen zahlreiche Kranzleichen, stand die Badewanne. Im blauen Zimmer verdeckte eine Sintflut von Notenblättern die dürftigen Möbel; die Hauptstücke waren ein Harmonium, der klapprig mit zitternden Händen gespielte Flügel, der mit Kreidestrichen und Tintenflecken verunzierte Unterrichts- und Arbeitstisch. Einem Schüler erschien der Raum beim wehenden Lichte zweier Kerzen wie die »Stätte eines Femgerichts«. Das Schlafzimmer enthielt Bilder seiner musikalischen Abgötter und Heiligen, ein Abguß seiner eigenen Büste von Tilgner stand am Boden, eine von seinen Studenten geschenkte messingne Bettstelle war das Prunkstück. Durch diese Räume huschte er in schlappenden Gewändern, nur wenn Besuch kam, vertauschte er sie mit noch immer ausgebuchteten und legte Wert darauf, durch Anbieten von Zigarren und Prisen den aufmerksamen Wirt zu machen. Zeitig am Morgen kam seit dem frühen, Bruckner sehr schmerzenden Tode seiner Schwester Nani (1870) die Arbeiterfrau Katharina Kachelmayr und stellte ihm den reichlichen, dünnen Kaffee warm. Nach dem Aufräumen und Flicken ging sie. Sie versorgte ihn länger als ein Vierteljahrhundert, bis er nicht mehr auf der Welt war, und starb Jahrzehnte später im Irrenhause. Oft erzählten die beiden sich züchtig und behaglich etwas Heimeliges, oft fuhren sie sich gereizt an, so daß Kathi davonlief, nicht wiederkam und von Bruckner geholt werden mußte. In der bescheidenen Oase der Wüste wuchs neben der lauen Zisterne stachliges Gras.

Bruckner hatte seine wirkliche Wohnung im Tonhimmel, auf Erden nur ein Gehäuse für seinen Leib, ein Lager für sein Haupt. Die Schüler mußten auf die Minute pünktlich erscheinen, denn der Unterricht war erzwungene Abschweifung, und er selbst schweifte manchmal ins Gebet, wenn die Kirchtürme läuteten, oder schlüpfte am Klavier, an einem Notizblatt in sein wahres Eigentum. Sie liebten und achteten ihn so, wie er war.

Die Glut, die er komponierend morgens entfachte, auch nachts beim Erwachen, mußte abends gedämpft werden. Der Tag streute viel Müll in das Brennen, aber das gefährliche Lodern konnte noch immer den Schürer verzehren. Wie die vielfachen Stundenplanaufzeichnungen kundtun, war der schlaflose Lebensteil Bruckners in Fetzen zerrissen, wie andere Aufzeichnungen beweisen, waren die Fetzen von Nadelstichen und Dolchstößen nochmals durchlöchert. Er nähte die Flicken wie ein armer Ausgedinger zusammen und heilte die Wunden mit der Kunst eines hinterweltlichen Dorfbaders. So muten uns seine geselligen Stunden in den Wirtshäusern an. Nicht, als ob er den meisten seiner Lehrlinge und Gesellen nicht von Herzen zugetan gewesen wäre, unter ihnen befanden sich Felix Mottl, Franz und Josef Schalk, Ferdinand Löwe, Friedrich Klose, Max von Oberleithner, Ernst Decsey, August Stradal, sein autorisierter Biograph August Göllerich und viele andere Träger bekannter Namen. Seine ziemlich zahlreichen Duzfreundschaften waren echt, aber sie zeichneten auch naturwarme Männer außerhalb seines täglichen Kreises aus, wie den Dirigenten der Liedertafel in Vöcklabruck oder den großen volkstümlichen Komponisten Johann Strauß, der Bruckner für seine Kunst gedankt hatte.

In der Kneipe aber wollte er weder sich noch die anderen als Künstler antreffen. Dort wurde die Erregung mit großen Stücken Fleisch und vielem Getränk beschwert. Dieser Ballast zog ihn aus den Hohen in die Bürgerlichkeit oder noch lieber in das irgendwie Abenteuerliche. In den achtziger Jahren zechte er zeitweilig mit dem ihm aus Steyr bekannten Großkaufmann Karl Almroth – gottlob besaß er eine Equipage! – und dessen Freunden, Herzog Max Emanuel von Bayern, einem Bruder der Kaiserin Elisabeth, und mit einem Fürsten Fürstenberg.

Seit Anfang der achtziger Jahre nahm er langhin auch an einem Ärztestammtisch teil. Durch den Anatomen Dr. Karl Rabl, den er in Wels kennengelernt und um dessen Schwester er, wie stets aussichtslos, geworben hatte, zugebracht, saß er als gerngesehener Gast bei Riedhof in der Josefsstadt in einer Runde von medizinischen Universitätsdozenten und sonstigen in- und ausländischen Kapazitäten der Heilkunde. Von Musik war nicht viel die Rede, um so mehr vom Fach. Bruckner beteiligte sich mit lebhafter Wißbegier, die das Ergründbare wirklich erfahren wollte. Es war ihm ein Abenteuer, den Körper von innen sehen zu lernen in seinen organischen Funktionen und Störungen. Er wurde nicht müde, nach dem Verlauf der besprochenen Krankheitsfälle zu fragen, und waren sie übel ausgegangen, dann trauerte er so tief mit den Trauernden, daß man, um ihn zu schonen, abließ, ihn zu unterrichten. Wußte jemand etwas aus anderen Lehrgebieten, etwa aus der Elektrotechnik, so suchte er auch darin bis ans Ende vorzustoßen. Saß doch für sein Empfinden die Autorität der Wissenschaft ihm gegenüber und neben ihm: davor wurde er andächtig und schüchtern. Das hinderte ihn nicht, spornte ihn möglicherweise gar, zuweilen zehn und dreizehn Seidel Pilsner Bier, auch Wein, zu sich zu nehmen, obgleich er erst gegen zehn Uhr abends sich einzufinden pflegte. Bei der Abrechnung erschrak er klagend über die »helle Schande«, aber als ein um seine Gesundheit Besorgter in der Runde sich hinter den Arzt seines Vertrauens gesteckt und dieser vor Überschreitung des zehnten Seidels gewarnt hatte, jammerte er ebenfalls. Der Herzschaden wartete – für jetzt war dringend, daß er sich in einen diesseitigen Mann umzauberte, der den jenseitigen stundenweise ablöste.

Gab er sich bei Riedhof demütig, so warf er sich unter seinen Scholaren bei Gause (manchmal im »Roten Igel« und anderen Wirtschaften) zum Tyrannen auf. Sie hatten den Feierabend im Dienste zu verbringen, sie hatten zu reden, was dem Zunftherrn Vergnügen machte. Unpünktlichkeit wurde getadelt, zu früher Aufbruch verübelt. Der Wunsch, die Oper, ein Konzert, ein Theater zu besuchen, entschuldigte nicht. In der Wärme schwitzend, mit dem bunten Tuch Kühle wedelnd, zuweilen hemdärmelig und aufgestützt, saß der meist urfreundliche Moloch im Dunste und befahl Zufuhr von allem und jedem. Damit das Pilsener frisch und schaumig vor ihn käme, war eine Kette rufender und laufender Bediensteter in Bewegung, zumal wenn die Jünger es ebenso geschenkt verlangten wie der Meister. Klose behauptet, daß zuweilen das Fleisch, oberflächlich mit Messer und Gabel bearbeitet, in die Finger genommen worden sei, bevor es in den Mund gelangte. Vor den fettbetunkten Händen seien in dem breiten, schwatzhaften, humorigen Behagen sogar die Kleider der Nachbarn nicht sicher gewesen. Gesprächsgegenstände, die Bruckner nicht fesselten, waren abgelehnt; Freunde und Neulinge nach mißfälligem oder mißverstandenem Betragen desgleichen. Trotz der Furcht vor Verstimmungen und Ausbrüchen harrten alle, fasziniert durch den Grundzug gütereinen Hochsinns, aus, wofern sie nicht wegen der Umständlichkeit des Sechterianers aus der Lehre entwichen waren. Ein einziger Schüler hat den Unterricht bei Bruckner bis zu Ende genossen.

Durch das Medium der Musik gesehen, wirken die Trinksitzungen wie Flucht aus Steinschlag und Lawinensturz.

Bruckner war gleich in eine Unterwelt geflohen. Da fand sich sogar eine Art Mephistopheles ein. War schon der Umgang mit einem Spediteur und seinem Anhang beschämend für ihn, weil der Millionenreichtum des Mannes seine Bewunderung angeködert hatte, so lieferte er sich mit seinem Anfall an den »Engländer« einem baren Gauner und Schwindler aus. Woher der »heiser krähende« Glatzkopf mit den Wollhaarresten stammte, war ungewiß, jedenfalls nicht aus England, aber er präsentierte dem arglosen Bruckner, der auf die Finte hereinfiel, von fern den Ehrendoktor von Cambridge. Der süße Jubel brach in dem ergrauenden Kinde schon los, wenn er das Wort Ehrendoktor nur hörte. Er gab dem Engländer also sein gedrucktes und ungedrucktes Gesamtwerk zur »Prüfung« in Cambridge und natürlich den Vorschuß für Gebühren und Versicherungen. Nach einer Weile bedeutete der mephistophelische Freund den ihm mit seiner Hoffnung Verfallenen, die Eingaben hätten leider keinen Erfolg gehabt, die – nicht abgegangenen – Notenpakete seien zurückgekommen, und es kostete den Schröpfkopf keine Mühe, zu einem neuen, weit kostspieligeren Versuch in Amerika zu reizen. Auch aus »Amerika« in Wien kam zum Glück das gefährdete Gesamtwerk zurück. Nun gelang es den Schülern, die vorher schroff abgeschüttelt worden waren, ihm den »Engländer« zu verleiden. Der Doktorand hatte aus seinen Vorräten und mit neuen Bemühungen bei den heimischen Behörden ein dickes Bündel Akten zu Ausweis und Empfehlung zusammengebracht. –

Ach, die Gasthäuser lagen weit vor den Toren des Innenreichs. In dieses Reich drang kein Schall von daher.

Wir hören seine irdische Stimme nicht mehr und müßten es doch, wenn wir in den zahllosen anekdotischen Worten, die ihm nachgesprochen werden, unterscheiden wollten, was darin zugefügt und was hinweggetan wurde. Auf die pralle, saftige Persönlichkeit bezogen, welche Bruckners äußeres Schicksal erlebt, nur freilich seine Musiken nicht geschrieben hat, passen sie fast alle. In ihnen steckt für den Hörer und Nacherzähler die Lockung, an einer Volksbuchfigur weiterzudichten. Was dichtet daran? Freude, schmunzelnde Nachsicht, vergnügliche Teilnahme, auch der verhohlene und zugleich zudringliche Stolz, leiblich oder doch wenigstens durch einen Mittelsmann dabeigewesen zu sein, lassen ihren Atem nicht ausgehen, erhalten sie frisch und fruchtbar.

Und es ist natürlich nicht wenig, daß jenen Volksbuchgestalten, die ihre Beliebtheit ihrer urwüchsigen oder schlagfertigen Redeweise verdanken, in Bruckner eine weitere gesellt wurde. Zumeist verbergen sich hinter den Helden der Anekdote, den Mundgerechten, geschichtliche Erscheinungen, die nach ihrer Wirklichkeit über dem oberflächlichen Gehaben zu schwierig waren, um allgemein erfaßt zu werden. So darf man sagen: die Natur hat bei Bruckner die rustikale Wärme, die dörferische Geradheit der oberösterreichischen Mundart vor seine mundartlose Sprache gestellt, vor die Musik. Bewegte er sich aber, so wie er war, durch sein Reich, so regierte er es nie durch sein Wort, und es hörte darin nichts auf sein Wort. Er hätte das nie wollen können, denn das Reich gehorchte vor dem Wort. Es verstand den Gedanken, den Blick hinter geschlossenem Augenlid.

Erkennt man deutlich, was in seinem Wort verstummt, so fühlt man es da, wo es gesichert authentisch ist. durch seine Unbehilflichkeit eine ergreifende Bedeutung gewinnen. Es steht nicht für sich selbst ein, sondern ist abkürzendes Zeichen für eine umgebende des Ausdrucks nicht mächtige Wallung des Gefühls. Wem die Silben seines Namens zum Namenszeichen seiner Musik geworden sind, dem beleben sich Bruckners Briefe in ihrem Unbeholfenen, Formelhaften, Überschüttenden in Dank und Herzenserhebung. Beim Lesen wirken die Briefe, ausgenommen die wenigen Stellen einfacher Mitteilung und anschaulich gewordener Klage, unergiebig, sie schreiben nur andeutende Randglossen an den wechselnden Daseinskalender. Im Nachhall erst beginnen sie sich mit Wesen zu umkleiden, zu rufen, an ferne Türen zu pochen, zu jubeln, zu wimmern, sich zu verzücken. Sie verschließen sich eilig vor Geheimnissen der Trauer und noch öfter des Glücks, die doch nicht zu verraten wären. Sie sind hinter nüchternen Erkundigungen voll verzweiflungsnaher Lebensangst. Die Schrift der Briefe hat meist einen hurtig ziehenden, wiegenden Schwung, der manchmal gehemmt scheint, sich schief aufrichtet und zur Rückläufigkeit neigt. Nichts ist daran Lüge. Die ungelüfteten, töricht steifen Floskeln der Bewunderung und Ehrerbietung bestehen jenseits der Buchstabenbilder zu Recht. Oder sie bestanden einmal zu Recht. Immer nämlich ist Bruckner auf dem Sprunge, zu seinem Eigentlichen wegzueilen. Er wirft sich seinen Wohledlen, Hochwohlgeborenen, Hochehrwürdigen weder zu Füßen noch an den Hals. In den schönsten Augenblicken seiner Beziehung zu ihnen waren sie ihm tatsächlich so groß, wie er sie anredet. Die höchsten Punkte des Gefühls sind die währenden Ziele seiner Leidenschaft zu leben, in der Musik wie außerhalb ihrer. Wenn er so oft um Huld und Gnade fleht, überleuchtet seine Seele tatsächlich ein Sonnenglühen, ohne daß er sich unterwürfe und seinen Wert auslöschte. Die Bereitschaft zu huldigen ist edler als der Empfang einer Huld, und sie kann, als geschehene, selbsterfüllte Regung, nicht nachträglich enttäuscht werden. Wenn er schriftlich Handküsse austeilt, so jauchzt er im Gemüt wie ein liebe- und tanztrunkener junger Bauer, und handelt es sich dabei um seine Schöpfung, wie ein dionysisch berauschter Riese, wie ein Sagengott, dessen Geschöpfe lange blind waren und denen nun die Schuppen von den Augen gefallen sind. So etwa ist zu lesen, und nicht als Prahlerei, was er nach seinem Orgelspiel in London August 1871 berichtet: »10 mal konzertiert; 6 mal in Alberthall, 4 mal im Krystallpalast. Riesigen Applaus, immer ohne Ende. Wiederholungen verlangt. Viele Complimente, Gratulationen, Einladungen. – – Deutschland, Berlin behalte ich für später, so auch Holland und Schweiz.« Dieses Selbstbewußtsein ruht auf anderem Grunde als das eines schalen Fingerfexes. In der Nachschrift des Briefes heißt es dann noch: »Gestern spielte ich vor 70 000 Menschen, u. mußte wiederholen, da das Comite mich bat; denn ich wollte nicht, ungeachtet allergrößten Applauses.« Ihn blenden nicht die Wörter für feiste Ziffern, indessen vertreten sie ihm Hyperbeln der Sehnsucht und der schon erreichten Seligkeit.

Seine schwärmerischen Worte waren wie seine schwärmerischen Handlungen. Er gab seiner Beglückung ja auch manchmal einen handgreiflicheren Ausdruck. Er schenkte einem Pauker, der eine von ihm nicht vermerkte, aber den Klang vorteilhaft ergänzende zusätzliche Pauke im Tedeum schlug, für einen unvergeßlichen Wirbel zwanzig Mark. Oder seine Freude über eine Gönnerschaft dauerte so lange und unverstellt an, daß sie sich ihm in das Gefühl einer materiellen Verpflichtung gegen den Gönner verwandelte: so schickte er einst dem Kritiker Theodor Helm eine Sendung seines Lieblingsweins Klosterneuburger Convent. Dem Dirigenten Hans Richter überreichte er einen Theresientaler mit der Bitte, er möge ein Krügel auf sein Wohl trinken. Es wurde für Richter ein Tag, an dem er geweint habe. Es war eine väterliche, ja patriarchalische Selbstverständlichkeit Bruckners, er merkte nicht, daß man dergleichen nicht tat. Und die Beschenkten hatten alle den Takt, die ungeschickten Gaben des Armen, des Überreichen nicht abzulehnen. Der sparsame Bruckner verlieh solchermaßen seine königlichen Orden, und er war wahrhaft verschwenderisch, weil er es bis zum nächsten Male vergessen hatte und nicht lernte, daß seinen plötzlichen Gunstbezeigungen aus dem Säckel wohl etwas Komisches anhaftete.

So sind seine pomphaften Briefanreden und Schlußbeteuerungen gleichfalls Verleihung von Auszeichnungen und Ehrenzeichen. Er greift hinein in seinen Reichtum und streut ihn hin. Er fühlte sich durch Förderung und geistige Wohltat von anderen nicht nur nicht erniedrigt, sondern beschenkte sich durch enthusiastische Anerkennung nochmals. Keine Erbitterung darüber, daß er Gönnertum nötig hatte, lauerte im Hintergrund, keine Verkniffenheit maskierte sich. Vielmehr: wenn er andere im Rang erhöhte, stellte er sich mit ihnen wie gleich und gleich. Allerdings, wäre seine Wortmünze ihm wörtlich heimgezahlt worden – er hätte seine Worte, aus fremdem Munde an ihn gerichtet, nicht verstanden. Sachlich jedoch nimmt er es an, gefürstet, zu seiner wirklichen Höhe erhöht zu werden. Arthur Nikisch darf ihm bei seiner Einstudierung der siebenten Symphonie von seinem herrlichen Meisterwerk schreiben, von der »in so unendlich reichem Maße verdienten öffentlichen Anerkennung «, von dem »gigantischen Werk« und der Gewißheit eines »grandiosen Erfolges«. Bruckner nimmt’s an und erwidert später brüderlich: »Du warst mein erster Apostel, der in Deutschland in hochgenialer Kunst mit vollster Kraft und Würde mein bisher ungehörtes Werk verkündete. In Ewigkeit wird es Dir zum Ruhme gereichen, daß Du Dein großes, hohes Genie für mich Verkannten und Verlassenen leuchten ließest!« Als Verlassener und Verkannter geht er großherzig danken, aber nicht betteln. Noch manche außer Nikisch haben für ihn Botschaften ihrer Ehrfurcht: er scheut und verwirft sie nicht. Seine Anreden und Gegenanreden an Verstehende und Mitkämpfer sind ihm wie ein gebührendes Zeremoniell. Auf die Fassung kommt es nicht an, lediglich auf den Sinn. Blieb die Gesinnung der Hingabe einseitig – um so schlimmer für die Welt, nicht für ihn. Er hat die Menschen größer gesehen, als sie sind, so war sein sonnenhaftes Auge, niemals kleiner. Sie wurden an seiner Güte größer, als sie waren. Beethoven fuhr schon einen Kopisten auf dessen Selbstverteidigung hin wütend an, beschimpfte ihn als einen »dummen Kerl«, als »Lumpenkerl, der einem das Geld abstiehlt«, als »Schreibsudler«, den »man bei seinen eselhaften Ohren zieht« und der ihn belehre, »als wenn die Sau die Minerva belehren wollte«. Zu solchen Püffen ballte sich Bruckners Faust nicht. Sein Zorn war höchstens drollig aufgeregt und kam wieder, aber der Dampf verzog sich durchs nächste Fenster. Er schrie einmal seine Wirtschafterin an: Ich bin der Bruckner!, und diese erwiderte: Und ich bin die Kathi! Das war nur eine erhitzte Kameradschaftlichkeit. Aber die Gegner seines Geistes erniedrigte er nicht zu dem Geschmeiß, zu dem sie sich manchmal selbst erniedrigt hatten.

Für sein schwärmerischstes Glück jedoch und den äußersten Grad seiner Verehrung wurden seine Ausdrücke am leersten. Sie fassen nichts mehr, doch wollen sie sich nicht schämen und verwirren, stoßen etwas erregt Artikuliertes hervor, während sie sich bereits entschlossen umgekehrt haben, davongelaufen sind und untertauchen. Hoch! hoch! ruft Bruckner dann, als wäre er von Einstimmenden dicht umringt, und doch zuckt seine grüßende Hand völlig einsam empor. Wer wollte ihm das Unrecht tun, ein Ungefähr in sein Hoch! hineinzuhören! Sängerbünden und Liedertafeln bewahrt er das Andenken an ernste Bemühung. Feiern sie ihn, so sieht er sie bei seinen Dankzeilen gegenwärtig. Er wird hingerissen wie in eine wirkliche Gegenwart, etwa wie er damals hingerissen wurde, als er mit Betty von Mayfeld, der Frau des Linzer Kreiskommissars, seines Gönners, am Flügel vierhändig aus seinen Partituren gespielt hatte. Diese beste Dilettantin nach Klara Schumanns Urteil hatte ihn durch die Wiedergabe des Andantes der zweiten Symphonie so entzückt, daß er niederkniete, die Arme hob und ausrief: »Gnädige Frau, Sie sind eine Göttin!« Aus solchem Aufschwung seiner Seele strömen die Hochs seiner Briefe. Überall durchbrechen sie den Text und möchten in Wortzusammensetzungen wie Hochselber und Hochwürdigster die Wörter aufschmücken. Die Anrede Unvergleichlicher ist nicht selten; der superlativische Stil vernichtet beinahe den Zweck der Mitteilung. Sogar jüngeren Freunden, wie dem Linzer Kapellmeister Otto Kitzler, erspart er noch als Greis im letzten Lebensjahre die feierlichste Anrede nicht. Kitzler war ja sein Lehrer gewesen, das ist nie in den Hintergrund des Gedächtnisses zu schieben. Geistliche Freunde sind zuerst Priester und dann erst Vertraute Daß alles, was sich auf Gott bezieht, mit großen Anfangsbuchstaben geschrieben wird, ist selbstverständlich. Wo er sein ganzes Herz ausschütten müßte und wo der Mund übergehen sollte, verschweigt er alles und schreibt sein groteskes: »etc. etc.« So schickt er aus seiner Trauer an Cosima Wagner die unmündigen Zeilen: »Tiefstens ergriffen bitte ich die Gnäd. mir gestatten zu wollen, Hochderselben u. der ganzen hochverehrten Familie mein tiefstes Beileid zu dem unaussprechlichen Verluste des phänomenalen Künstlers etc. etc. aussprechen zu dürfen! Er ruhe sanft!«

Die übertreibende sowohl wie die formelhafte Ausdrucksweise legt Abstände zwischen ihn und die Personen und Dinge seiner Verehrung. Was dem Herzen nahe ist. bleibt den Lippen eigentlich unerreichbar. Da seine Seele weiträumig war, hat sie von Bruder zu Bruder größere Distanzen zu ermessen als engere Seelen. Sein Unmittelbares ist die mittellose Äußerung. In diesem Verstände ist sein Alltag, wo er das Nichtalltägliche einbezieht, auch von der unio mystica erfüllt. Mit Witz und Schlagfertigkeit traf er das witzig Erreichbare, das Nächste. Auch die Klage um Jammer und Kummer des persönlichen Daseins bleibt unmittelbar vernehmlich, sie hatte im Werk keinen Raum. Alles übrige wurde an den Ort geleitet, wo es von Klang empfangen und in Klang verwandelt wurde.

Wo er sich Gebilden aus Sprache näherte, die andere geschaffen hatten, wurde schon immer gesungen und musiziert. Es war der Andachtsschatz der Kirche. Die Bekenntnisse und Bitten hallten in der fremden lateinischen Sprache, und was sie hallten, kam nicht aus dieser gegenwärtigen Welt her, sondern es wiederholte mit zeremoniellen Lautzeichen Mysterien. Nicht nur der Hauch lebender Lippen schwebte in sie ein, sondern auch der Atem aller Toten war darin aufgehoben. Pange lingua und requiem aeternam hatten die Heere der Entschwundenen schon gesungen. Die Mysterien waren keine Vorgänge in der Erinnerung, sondern ihre Zukunft war wie ihre Vergangenheit nie auszuschöpfen. Das Wort Wahrheit wäre für ihre Wortsymbole zu gering, weil es die Möglichkeit einer Prüfung oder das Verlangen danach enthielte. Erlaubt ist nur, sie zu wiederholen, und der Tiefsinn findet dabei nicht weiter als die Einfalt.

Bei Bruckner waren Tiefsinn und Einfalt nicht voneinander gespalten. Darum hörte sein Ohr in der beharrenden Dogmenverkündigung das Unanfechtbare, sie behielt ihm von der Jugend bis ins Alter die gleichen Dimensionen, nur die ihr dienende Kunst wuchs. Was dem dogmatischen Satze gegenüber Ergebung war, war Ergebung auch im musikalischen Satze, nämlich Auslieferung des Letzten, dort an die Glaubenssatzung, hier an das Kunstgesetz. In beiden nahm er die Überlieferung an, um weiter zu überliefern. Sie war nicht abschließbar, aber das Wort erfüllte schon den ganzen vorstellbaren Kreis des Heils, die Musik noch nicht. Darum schritt Bruckner in ihr nach beiden Richtungen aus, in das Gewesene, in das Kommende. Er gab die Messe der Kirche wieder und führte sie zugleich aus ihr hinaus. Ihre historischen Stadien wiederholten ihr Charakteristisches in ihm, doch schoben sie sich wie in geistiger Kontrapunktik zuweilen übereinander. Es war genau wie in den Symphonien. Gregorianischer Gesang, graue Kirchentonarten, romantische Melodie und Harmonik, klassische Gliederung und modern flutende Symphonik verschmolzen zu neuartigen Einheiten. So sind die Hauptmessen in manchem Betracht archaischer als die Haydns, Mozarts und gar Schuberts und Beethovens, sie neigen sich zu Jacobus Gallus, Lotti, Palestrina hinüber und sind doch jünger als die jüngsten an eben aufgehendem, farbenerweckendem Licht.

Die fmollMesse treibt über das Verstummen des gesprochenen Wortes in das verstummend geglaubte kirchliche Wort hin und über dieses hinaus, gegen das symphonische Wort zu. Die Idee der musikalischen Form brandet an gegen die Messe-Idee, doch nicht feindselig, sondern huldigend. Und eigentlich verstummt das Messe-Wort doppelt: einmal in den Glauben hinein als in eine unaussprechliche Tatsache, zweitens in die Vorstellungen des Glaubens hinein: Schöpfer, Himmel, Erde und die kosmisch mythischen Verbindungen zwischen ihnen. Das Kyrie ist wie immer dreigeteilt in Kyrie eleison, Christe eleison und nochmals Kyrie eleison; zudem erheben sich in jedem Teile drei Steigerungen. Das sind rein klangliche Gliederungen, von jeder Dialektik gereinigt. Der dritten riesigsten Steigerung folgt die versunkenste Klangstille. Das hellste und düsterste Motiv dieser Steigerung und diese Stille fügt Bruckner künftigen Symphonien ein, woraus nochmals hervorgeht, daß sie über die in der Wandlung vorgeschriebene Bitte um Erbarmen hinausgedacht sind.

Der Gloriateil lebt in Instrumenten und Stimmen von dem Gegensatze: Ehre in der Höhe und: Friede auf Erden – für großartige und tiefsinnige Vereinungen und Metamorphosen der Musik ein fast undurchschreitbarer Spielraum. Die Schlußfuge des Gloria, in deren polyphonen Bau hohe Meerwellen der Symphonie hereinbrechen wie auch das »Amen« verschlungen mit dem » in Gloria dei patris« fortbraust, zählt als »eine der allergrößten, an kontrapunktischer Kunst wohl die reichste von Bruckners Fugen« (Kurth). Musik, nur Musik, nicht Wort.

Das Credo ohnegleichen sodann sprengt die Gewölbe jedes Heiligtums. Der einige und allmächtige Gott war schon vorher in seiner Einheit und Macht dynamisch, tonartlich und vor allem motivisch im Klange gewesen, so daß ein Bekenntnis, das ihn ermessen wollte, mit der Stimme der Elemente in die Musik eingehen mußte. Die beiden Schlußteile nehmen das Erlebnis nach innen. Es bleibt übrig, mit den Engeln Sanktus zu singen, in verzauberter Sehnsucht mit dem Wunder-Benedictus zum Hosanna aufzuschweben und im Agnus den Kyriechor des Anfangs verklingen zu lassen: dona nobis pacem.

In der Partitur, die so viele Instrumente vorschreibt, fehlt die Orgel. Bruckner wünschte sie zwar und hat hie und da die Registrierung angegeben. Verzichtete er, wie vermutet wurde, auf die Orgel, um die Verbreitung der Messe zu fördern, so geht doch daraus hervor, daß er selbst sie in einem Dome ohne Kirchenluft hörte. Für ihn, den treuen Bewahrer seiner Konfession, war Gotteswort nicht Menschenwort.

Uns aber sollte das Beispiel der letzten unter den drei großen Messen daran erinnern, wie Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotte, Hörner, Trompeten, Posaunen, Pauken, Violinen, Bratschen. Violoncelli, Kontrabässe ihn betörten, die lateinische Sprache zu vergessen und die ihre zu sprechen.

Das protestantische Wort ist Dichtung, es läßt die subjektive Beteiligung und Fortspinnung zu, das katholische Wort ist Glaube. Das erste läßt Arien einzelner Stimmen zu und sehnt sich danach, daß die Ritornellform den Andächtigen umrunde. Das zweite sammelt gern die Gesamtheit in Vokalfugen, verschlingt die Vielheit in unisonen Zügen, umfaßt allmählich das Ganze mit dem in der zyklischen Form der absoluten Instrumentalmusik waltenden Willen. Bach schöpfte den Glauben aus, die Wiener Großen freuten sich in ihm, Beethoven maß sich an ihm, und alle bestanden ihn nach ihrem Reichtum. Bruckner nahm ihr Dynamisches aus dem Glauben heraus und konzentrierte es in dem instrumentalen und vokalen Orchester, das ihn nun wie ein einziger vernunft- und leidenschaftsbegabter Körper äußerte. Dieser Körper, der sich aus dem Besitz der Jahrhunderte in weitem Umkreise nährte, besaß einen Geist, worin sich das Übersinnliche, aus seiner Höhe zu farbigem Abglanz gebrochen, spiegelte. Damit das geschehe, hatte der Komponist über der Komposition zu wachen und in ihre Strebungen hineinzulauschen: dann lauschte die Komposition in die Gottheit hinein. Die scheinbare Weltlichkeit brachte in Bruckners reife Kirchenmusik etwas Beängstigendes für ihre ersten Hörer. Der Bischof Rudigier war von der dmollMesse so ergriffen, daß er nicht beten konnte. Bei der Aufführung der fmollMesse durch die Wiener Hofkapelle warfen die Gendarmen beim Schall des Blechs prüfende Blicke auf die Strebepfeiler der Kirche; die grundsätzlichen Gegner flohen.

Gott sollte ihn nicht einst am Schopfe nehmen und sagen: »Lump, warum hast du dein Pfund nicht ausgenützt, das ich dir gab?« Barst Bruckners geistliche Musik von Seele, so war das Geborstene immer wieder Form, neue Form und neue Seele gebärend. Die letzte Vokalsymphonie, das Tedeum, sollte auf Anregung des Anregers der Komposition, Hellmesberger, dem Kaiser gewidmet werden; Bruckner jedoch tat den Musikantenausspruch, die Widmung sei nicht mehr frei, das Werk gehöre Gott für die in Wien ausgestandenen Leiden. Unter seiner Kunst war die Erde davongeschwebt. Die Unendlichkeit wogte: Oktave, Quint, Grundton, immer wieder in gleichmäßiger Achtelfigur, am Anfang, in der Mitte, am Ende. Auch die kanonisch und ohne Baß solistisch geführten Menschenstimmen hingen ungestützt von Erdenfreundlichkeit im Unermeßlichen des Lobgesangs. Denn die Erde ist anders beschäftigt: te aeternum patrem omnis terra veneratur. Wohin aber ist die Erde aufgeschwebt? Tibi omnes angeli, tibi coeli universae potestates: tibi Cherubim et Seraphim, incessabile voce proclamant: Sanctus, sanctus, sanctus Dominus Deus Sabbaoth. Die Himmel sind so voll vom Schall, daß er von anderem Schall nicht zu übertönen wäre. Voll: das heißt, die apostolische Majestät und das apostolische Dogma sind wie Atome im lobsingenden Schall, sie verrichten nichts als an ihrer Stelle den Mitgesang. Voll: das heißt, ich werde in Ewigkeit nicht vernichtet werden, ich entsprang über Eh und Einst aus der Zeit. Wo keine Zeit ist, ist keine Sprache. – Die Zeit der Sprache ist auch im (Juni 1892) nachgeborenen Zwillingswerk, dem 150. Psalm, vorüber: Posaunen, Psalter, Harfen, Pauken, Reigen, Saiten, Pfeifen, Zimbeln –, alles, was Odem hat, lobe den Herrn! Unisono ins Freie, fugiert ins Gebundene hinein strömt dieses »Alles, was Odem hat«: Odem, nicht Wort.

Je größer eine Musik ist, um so deutlicher wird an ihr, daß es im Reiche der Töne das Böse nicht gibt. Andere Künste kennen es im Abbild, diese hat keine Mittel, es abzubilden. Sie kann allenfalls seine Gebärden und Gesten nachahmen, aber auch dann muß sie schon hart an die Grenze ihres Bereiches gerückt sein, sich in das Visuelle hinüberneigen, dort beobachten und sich für die Dauer des Beobachtens vergessen. Aber nachgebildete Gesten und Gebärden sind auch schon abgezogen von den Verknüpfungen, die ihnen in der moralischen oder amoralischen Welt zugrunde lagen.

Ein Leichtfertiger, Lügner, Unterdrücker braucht eine Umwelt, welche die Erscheinung seiner Mängel erst ermöglicht. Ein Leichtfertiger braucht eine Umgebung, die seinen Leichtsinn duldet oder sich an ihm erfreut, ein Lügner eine Welt, die sich belügen läßt und darum selbst lügt, ein Unterdrücker eine Gesellschaft, auf die er pressen kann. Sie alle ließen sich in absoluter Musik nicht musizieren – in untermalender, begleitender vielleicht ein wenig, aber parodiert sie dann das Musikalische nicht beinahe ins Gute?

Indessen, gedenken wir an den Schrei »Barrabam!« in Bachs Passion: ist dieser Schrei um Freigebung des Mörders nicht schon der fanatisch vollzogene Mord an Jesus? – Er ist eine dynamisch und rhythmisch fanatisierte Dissonanz. Das schwere Verbrecherische kann nicht einmal parodiert werden. Es fehlt ihm das Klima, in dem Barock- oder Rokokomelodien gedeihen mit ihrer Gleichnisfreude. Sogar das Musikdrama erreicht das Böse nicht; malen seine Töne Katastrophen, so nehmen auch sie nur Abdrücke der Gesten und Gebärden. Ihre Entladungen in Andrang, Hast, Gelärm, Kakophonie, Abbruch und allem rhythmischen und agogischen Zubehör haben mit dem kausalen Zusammenhange auf der Bühne keine Verbindung, auch nicht den einer gleichgerichtet logischen Parallele. Die polaren Gegensätzlichkeiten der Musik sind mit Begriffen der urteilenden Sprache nicht präzis zu bestimmen, doch liegen sie alle außerhalb der Domäne des Bösen: Trauer und Glück, Regung und Ruhe, Wachheit und Traum, Weiche und Härte, Hitze und Kühle, Feuer und Asche, Andacht und Weltwirbel – ihre genaue Beschaffenheit weiß allein die Musik zu sagen, von ihrer Herkunft jedoch weiß sie nicht das geringste. Sie muß sich von der Welt abziehen, um sie zu besitzen.

In Bruckners Musik zeigt sich das Gute noch auf eine besondere Weise. Wir nennen das Nichtböse bei ihm einfach das Gute, weil es das Tätige und Schaffende ist, das sein Vertrauen und seine Sehnsucht, seine Leiden, Kühnheiten und Vernichtungen aus sich selber nimmt. Es kennt den Feind nicht.

Wer denn könnte dieser sein? Etwas von dem, was drunten in der Stadt wimmelt? Einer aus dem früheren Leben? Ein Schultyrann wie der Lehrer Fuchs in Windhaag? Ein Konservatoriumspedell? Ein Fachkritiker? Sie alle würden in seiner Musik ja stimmlos. Sie wären in dieses Reich auch nicht mit Gewalt zu jagen. Ihr Gegreine, ihren Hohn, ihren Schlendrian und Eiferergang nachzuahmen, das wäre freilich das Böse. Es wäre der Mißbrauch dessen, was Bruckner empfangen hatte, zu widrigem Zweck, eine Vergeudung jedes Lufthauches in einer Oboe oder einem Fagott, Verspottung des Tierhaares am Violinbogen. Und gesetzt, die Nachahmung sei gelungen, was sollten die chimärischen Erscheinungen in der flutenden Natur der Symphonien wohl beginnen? Weil Natur enthüllt, entlarvt sie nicht. Wären die kläglichen Figuren hineingeworfen, so stünden sie gleichsam mit leeren Händen vor den kosmischen Dünungen, so dürften sie auf die Geburt einer Lichtwelt und ihre Zerschmetterung gaffen, wie sie nach Kurths Auslegung im ersten Satze der vierten Symphonie vor sich geht. Aber mehr: nicht sie begingen ja das Böse, wofern Bruckner bei der Komposition ihrer gedacht hätte, wofern ihm der Gedanke an sie gelänge, Gestalt annähme und wandelte. Dann würden die Kleingeister und Wichte tatsächlich den Weltbrand auslöschen vor der Entfachung. Das Kosmische hat keinen Raum neben dem Moralischen, gleichviel, ob dieses wertvoll oder verwerflich sei. Soll es schon als die Sphäre des Menschen begriffen werden, so läßt sie nur den Menschen zu, der noch kein Kainszeichen trägt. Der einzige, der an ihrem Werden mitwerden darf, ist Bruckner selbst, gelöst von seinen Eigenschaften, die ihn in Gasse und Haus kennzeichnen, hier innen aber nicht mehr.

Wenn nicht einen Widersacher, welchen Widergeist dann könnte diese kampfreiche Musik wohl befehden? Den Geist des Urbösen? An den Teufel hat Bruckner nie gedacht, nicht einmal an seine Spiegelungen in den Sündern. Das Kranke und Verderbte, wie es zum Beispiel bei Bach die schmerzlichen Intervalle und Melodien oft bestimmt, verweilt nicht in seinem Klange. Die Gewißheit der Erlösung strahlt es an und nimmt ihm die Kümmernis. Seiner Grablegung folgt nicht die Verwesung in ihrer Häßlichkeit, sondern die baldige Auferstehung. Und die Auferstehung sprengt bei ihm nicht die Felsplatten der Gruft und reißt die Augen des zuschauenden Volkes in freudigem Schrecken auf, sondern die Glorie des Credo, Sanctus und Benedictus wogt über sie her wie auch über das Geheimnis der Inkarnation. Von hier aus erscheint auch der Schimmer seiner instrumentalen Farben als das den Feind vergessende, das Gute. Darum tun seine heftigsten Dissonanzen wohl. Arglos türmt er Terzen übereinander, bis sie die Undezime, die Tredezime und nach Erfüllung der zweiten Oktave die Quindezime erreichen, und der Zuzug der neuen Töne in gleichen Abständen voneinander ist so gelassen trotz der bis zum Bersten wachsenden Spannung, daß im Rausch der Dissonanz diese selbst untergeht, wie auch das Unisone des untersten und obersten Tones. Sie brüllt nicht auf, sondern triumphiert der sicheren Befreiung entgegen. Sie ist seelisch schon gelöst im Vorauswissen der Lösung, und darum packt sie, sich hinauszögernd, solche Lasten auf, die alle mit einem Schlage entlastet sein werden. So wären im Agnus der emollMesse einmal alle sieben Töne der Leiter gleichzeitig zu vernehmen, wenn sie durch den Willen der fortstrebenden Stimmen für unser Gehör nicht getrennt würden.

Diese Gewalten sind nicht hoffärtig und drohend. Sie sind nicht hämisch und spotten nicht, sie verfluchen keinen Goldhort und keinen Kerker. Sie sind nicht götzenhaft und bucklig.

Auch der Tod erscheint nicht als der bittere Feind dieser Welt. Mit der Geburt geboren, begrenzt er in Eintracht mit ihr das Dasein wie Scheitel und Sohle den Körper. Der Tod ist im bleibenden Bunde mit allen Wesen, die Treue ist gut, das Böse aber ist das Vorübergehende, das Untreue. In den Vorhöfen des Todes wohnt die Melancholie. Ihr Leid ist ebenfalls der Welt nicht feindlich: es lockt sie in ihre tiefsten Verzückungen und innigsten Strahlungen.

Während des Zuwartens werden reinliche Freuden und einfacher Friede eintreten. Wie der Lehrer Bruckner zeitlebens gern tanzt, wird der Meister neue Ländler erfinden, manchmal nicht nur für ein behaglich-träumerisches Trio, sondern sogar für Finalesätze, wo das Hauptgeschäft, wie Goethe die Arbeit am zweiten Faust nannte, eigentlich keinen Aufschub duldet. Aber der heimatselige Tanz ist ja kein Aufschub. Und wie sollte ein Musikant, der vom Dorfe kommt, sich nicht zuweilen am Spiele schöner Signale erfreuen! Bach tat es in der Postillonsfuge zu Ehren des scheidenden Bruders, im Trompetengeschmetter und Hornklang durch weihnachtliche Chöre und Arien, in Siegfanfaren für seinen himmlischen König, wahren Feuersignalen, wenn das göttliche Sonnenfeuer brennt. Mozart öffnete so Sarastros Hallen, Beethoven legte ein Signalmaestoso in die Mitte der dritten Leonorenouvertüre. Das weihende Ohr des Dichters in Tönen scheidet in dergleichen das Oberflächliche und Triviale des täglichen Gebrauchs aus und erschließt den Zauber. Bruckner bekam einmal, wie Max Auer erzählt, in St. Florian die angeblich von Michael Haydn stammende »Retraite« des österreichischen Militärs als Aufgabe für eine Phantasie auf der großen Orgel. Ein hoher Militär weilte im Stifte zu Besuch, Bruckner fragte, was er spielen solle, und ein junger Kleriker pfiff ihm das Thema vor. Auer entdeckt Anklänge an diesen feierlichen Abendgruß in der Coda des Maestososatzes der sechsten Symphonie wieder. »Das Trompetensignal erklingt immer wieder in anderer Tonart, wie es Bruckner von seiner Wohnung in Linz abends von verschieden gestimmten Trompeten mehrerer Kasernen täglich gehört hat.« Die Soldaten haben keine Waffe mehr in der Hand, und jeder, der in seinem Tagewerk ein Krieger war, ergibt sich in Stille den Rufen des Friedens aus dämmernden Fernen und Nähen, Höhen und Tiefen. Es ist ein Gleichnis: die Wirklichkeit der Töne ist wahr, aber nicht biographisch verlarvt. So ist Gleichnis die Jagd im vierten Scherzo. Die Hornsignale nähern, greifen, entfernen sich labyrinthisch, sie rufen den romantischen Ruf, erkunden den romantischen Raum. Dazwischen rieseln und wehen seine immerwährenden Melodien. Beide sind sie in keinem sichtbar zu machenden Walde, sie sind, erlaubt man ein Stammeln, die musikalische Waldheit. Fernab liegt den Motiven die Realität, in welcher Tiere gehetzt und getötet werden. Ähnlich erlaubt das sechste Scherzo den Gedanken an ein elfisches und gnomisches Seelenklima, ähnlich durfte Schwebsch das neunte folgendermaßen auslegen: »Ein Schauerwindchen fächelt’s an, schattenhaft schwebt es vorbei, in ein Geisterreich zwischen Tag und Tod, zwischen altem und neuem Leben. Ein leises Klirren, wehes Irren, ein polterndes Klopfen, ein zierliches Wiegen in kühlem Sternenlicht, ein Haschen, Drängen und Wirbeln, rufende Stimmen, und dann wieder eine unendlich wehe Süße in dem flimmernden Trio.« Es bieten sich gleiche Ausdrücke der Bewegung in den verschiedenen Sphären der Scherzi an. Jedoch keinem wird der Hexenspuk der Walpurgisnächte einfallen und keinem der Höhlenfleiß tückischer Zwerge. Damit soll nicht nach dem Wert, sondern nur nach der Art getastet sein.

In Bruckners Kunst ertönt die reine, sündelose Natur. Nicht, als ob die Sünde davon abgezogen würde, sondern sie ist in ihr nicht vorhanden. Diese starke Verfassung versetzt die Natur in keinen Stand des Eigentums für irgendwen. Sie ist nicht natürlich mit dem Beigeschmack des Gewohnten und Sentimentalen. Sie belehrt nicht über ihren Inhalt, aber sie erzieht, indem sie erweckt. Sie ist nicht erbaulich für den Frommen, wiewohl ein Erfrommen ihre Wirkung sein kann. Sie beleidigt und schändet kein Wachstum. Sie nimmt niemandem etwas weg, was ihm gehört, weil es ihm durch sie gehört: den Bäumen nicht ihre Knorren und nicht ihre Blätter, nicht einmal ihr Rauschen, den Vögeln nicht ihren Gesang, den Menschen nicht ihr Schweigen, den Blitzen nicht ihren Lauf.

Alles wird, was es wird, in einem System von freihangenden Beziehungen. Kein Sinn ist darin im voraus befestigt; das Genie enträtselt die Bedeutung der Beziehungen und prägt sie ihnen ein. Die Symphonik Bruckners zeigt durchaus andere Perspektiven als die programmusikalische und musikdramatische Charakterisierungskunst. Während im Drama Motivik, Tektonik, Koloristik, Dynamik die Vorstellung und den Ton zusammenzwingen, Menschen- und Götterschicksal im Ton steigern, selbst philosophisch Vorgedachtem die Stimme lösen, charakterisiert diese Symphonik ausschließlich sich selbst und kennt kein sonstiges Schicksal als ihren musikalischen Weg. Sie macht eine problemlose Musik in jedem anderen Verstande als im rein musikalischen.

In diesem einzigen Verstande nahm Bruckner die Probleme seiner bedeutenden Zeitgenossen gierig auf. Er hat Berlioz gehört und ihn gesehen, als er seine »Verdammung Fausts« in Wien dirigierte. Zu Beethovens neunter Symphonie allerdings war er bereit, zwei Reisen zu machen. Die sentimentalen Romantiker übersah er; ihre Neigung zum Kleinen und Einzelnen legte Sperren in das große Gefälle. Ihre Zärtlichkeit war gefährlich: an den Gebilden konnte auf der einen Seite das nur Formalistische, auf der anderen das nur Sinnige durchbrechen. Das Gute war dort schon ein Eigentum. Bruckners Gefühl war universal und schloß daher aus, was nicht universal sein kann. Zuweilen verzichtete er auf das Anhören fremder Musik, damit es ihn nicht aus »dem Scharnier« brächte. So geschah es schon in Linz, wenn die Mayfelds ihm Beethovens Symphonien vierhändig auf dem Klaviere spielten, während ihm die ersten Quartette Beethovens nicht großartig genug waren.

Die tiefsten Brunnen seines Ethos rinnen in den letzten Adagios. Davor mögen wir von keinem Formalen mehr reden, und wir scheuen uns, noch eigene Worte zu gebrauchen. »Es sind böse Brunnen, in die man Wasser tragen muß.« Bruckners Musik ist hier völlig »unbegehrlich«. Beethoven liebte noch sein Leid, er hielt sich darin auf, sog es bis zur Beseligung ein, und diese ließ ihn dann die Tochter aus Elysium überm Sternenzelt grüßen. In Bruckners Adagio ist die Versenkung so tief, daß jede Ablenkung ausgelöscht ist. Wir rufen die höchsten Lehrer des Mittelalters heran, damit sie mit ihrem Munde sagen, was sie uns als Zeitgenossen des Brucknerschen Geistes deuten. Ruysbroeck heißt uns das Leben auf einen grundlosen Abgrund gründen: »Dann können wir ewiglich in Minne sinken und uns selbst entsinken in die grundlose Tiefe, und mit derselben Minne sollen wir aufsteigen und uns selbst entsteigen in die unbegreifliche Höhe … Die Begegnung mit Gott in Einheit und Ruhe muß in wesentlichen Begriffen geschehen, tief verborgen unserem Verstande, es sei denn in einem wirklichen Verstehen nach Art der Einheitlichkeit – hier ist nichts als Gott und der mit Gott unmittelbar vereinte Geist.« Meister Eckhart lehrt: »Der Geist muß übertreten Ding und Dinglichkeit, Form und Förmlichkeit, Wesen und Wesentlichkeit, dann wird in ihm geoffenbart das Werk der Seligkeit.« Suso weiß das Unmittelbare der Musik Bruckners: »Seine Gesellen nahmen Wunder ob der geschwinden Änderung, die ihm geschehen wäre, und sprach einer dies, der andere das; aber wie es war, das rührte noch traf niemand, denn es war ein verborgener lichtreicher Zug von Gott, und der wirkte geschwindiglich den Abkehr.« Suso wäre beglückt gewesen, wenn er das Innigste seines Rufes sursum corda! durch Bruckner verwirklicht wahrgenommen hätte: »Ich nahm vor meinen inneren Augen mich selber nach allem, das ich bin, mit Leib, Seele und allen meinen Kräften, und stellte um mich alle Kreatur, die Gott je schuf im Himmelreich, im Erdreich und in allen Elementen, ein jegliches sonderlich mit Namen, es wären Vögel der Luft, Tiere des Waldes, Fische des Wassers, Laub und Gras des Erdreichs und das unzählige Grieß in dem Meer, und dazu all das kleine Gestäube, das in der Sonne Glanz scheinet, und all die Wassertröpflein, die von Tau, von Schnee oder Regen je fielen oder immer fallen, und wünschte, daß deren jegliches hätte ein süßaufdringendes Saitenspiel, wohlbereitet aus meines Herzens innerstem Safte, und also aufklingend ein neues hochgemutes Lob brächte dem geminnten zarten Gott von Anfang zu Ende.« Uns ist, als ob in solchen Andeutungen der Bruckner des achten und neunten Symphonie-Adagios prophezeit worden wäre, und was sich in einem dunklen Spiegel, den Wohllaut der Gedanken und Lippen lockend, fern gerührt hätte, sei nun kein irisierendes Wetterleuchten mehr, sondern es sei der Donner der Stille und des durchgottet schlagenden Menschenherzens darin. Die Minne darin kannte keine Zwittergefühle von Greisenklugheit und Knabengier, wie sie in den Ecksätzen und Scherzi auch nur die Sehnsucht Platons, die tellurische Fröhlichkeit und die Schelmerei des Unergründlichen gekannt hatte.

Unter den ganz großen Künstlern zählen wir nur ganz wenige, die ein reines Künstlerdasein geführt hätten. Nicht, weil die meisten mit einem quälenden und hemmenden Brotberuf gerungen hätten. Im Gegenteil ist gemeint, daß sie freundlich zu allerlei bequemen Gewohnheiten und zutraulich zu den kleinen Dingen des Alltags waren. Den einen freute es, Gottfried-Kellerisch beim Wein zu schweigen und den Schummer der Nachdenksamkeit zu genießen, den anderen, Freunde um sich zu versammeln und zu bewirten zu seiner Lust, als genösse er mit ihren Gaumen, Kehlen und Nasen selber vielfach. Goethe, der so früh zu entsagen anfing, entsagte doch in viele bedeutende und auch gefälligere Tätigkeiten hinein, die anderen verwehrt waren, er entsagte in mancherlei stille Sammlungen von Plastiken, Münzen, Büchern, Stichen, Pflanzen, Mineralien hinüber. Andere bezeugen ihre Lust am Animalischen in Kauzigkeiten, und der Sonderling kehrt sich ja nur von Menschen ab, nicht von seinen Papageien, seiner Rohkost oder Hypochondrie. Der Asket wird den Nässefleck an seiner kahlen Zellenwand schwer entbehren können, und so umgarnt jeden, ohne daß er es weiß und wahrhat, die Liebe des vielen Kleinen, welche die Liebe zum Großen täglich entspannt und entgiftet.

Bei Bruckner war dergleichen auffälliger als bei anderen, und daher verfiel er der Karikatur und Scheelheit. Und er legte auch damit einen Gürtel der Vereinsamung um sich, ohne es zu beabsichtigen. Schlichtes, warmes Volk machte sich aus Eigentümlichkeiten nichts, aber die Persönlichkeiten, die Einzelnen merkten sie.

Wo es um eine Erschwerung des Leidens geht, ist nichts gleichgültig. Daß Bruckner sich mit einem gewissen Liebhabertrotz merkwürdig oder auffällig kleidete, ist nie übersehen worden. Auf die Gewandung kam nicht viel an, gleichwohl ist sie von der Überlieferung sorgfältig aufbewahrt worden. In Windhaag hatte er einmal in rotjuchtenen Schuhen die Altarkerzen angezündet, der Priester hatte es ihm als Respektwidrigkeit verwiesen: man weiß es noch heute. Der Edle von Zenetti soll in der Kleidung zu ihm gepaßt haben: man verglich die beiden. Zum Anhören des Linzer Probespiels war er von Florian mit einem Oberrocke, an dem ein Knopf fehlte, mit einem Schal um den Hals und Überschuhen in der Kirche erschienen – der Tadelbrief ist aufgehoben geblieben. Die Überlieferung hatte weiterhin ein gutes Gedächtnis für die ungeschickten, faltenreichen schwarzen Anzüge, den überweiten Hemdkragen, das riesige blaue Schnupftuch, die in seiner Organistenzeit zu ihm gehörten. Man weiß, daß Mayfeld ihn damals fragte, ob er seine Kleidung selbst mache oder durch einen Tischler anfertigen lasse. Als er in Wien abmagerte, wurden seine Hüllen von selbst noch unförmiger. Der Klatsch beschäftigte sich mit seinen viel zu breiten, dafür wegen des Pedalspiels viel zu kurzen Hosen, mit seinen gebirgigen Anzügen, die nie nach Maß, sondern nach einem alten Modell gefertigt wurden, seinen fast viereckigen, seehundsledernen Schuhen mit Röhren, um die er wie ein Grandseigneur den Schuster geschunden hätte.

Das alles schuf ihm einen Teil der Berühmtheit, die mit seinem Geiste nichts zu tun hatte. Die Gutmütigen und Böswilligen widmeten dem tuchenen und ledernen Doppelgänger ihre Aufmerksamkeit und ließen den Geist im Abraum hinter den Hüllen gewähren.

Es erstaunt uns nicht mehr, zu hören, Bruckner habe eigentlich niemals etwas gelesen. Die Kompendien seines Studiums waren in Wirklichkeit Gehäuse mit Hörsälen gewesen, Magazine mit Gerätschaften für den praktischen Gebrauch. Im Auswendigwissen verloren sie die Notform des Buches. Wäre er Protestant gewesen, so hätte er wahrscheinlich die Bibel durchforscht und Gesangbücher auf dem Borde gehabt, dem Katholiken nahmen die eigens dafür Eingesetzten die Lesemühe ab. Eine Bibel hat er nachgelassen, und er soll sie durchaus gekannt haben, doch seine Musik enthält keine intimeren Verweisungen wie etwa bei Bach. Die unerheblichen lyrischen Texte seiner Komposition wurden von Musik durchbrochen, bevor sie als Gebilde einer anderen Kunst existent wurden. An einem Opernlibretto nahm er nur auf, was zur Verwandlung in Musik taugte. Gedichtete Dramen und Romane waren vollends für ihn überflüssig, wenn er auch einmal spanische geistliche Komödien lesen wollte: er hätte damit Zeit verdorben, sonst nichts. Von unangenehmen persönlichen Erlebnissen in Linz sagte er zwar einmal, man sollte einen Roman darüber schreiben, doch geht daraus nicht hervor, daß ihm ein Roman das Unwahrscheinliche, Unglaubwürdige schlichtweg war? Sein Schüler Friedrich Klose erzählt, er habe während der dreieinhalb Jahre seiner Lehrzeit nur drei Bücher und eine Broschüre bei Bruckner gesehen, nämlich ein Werk über den mexikanischen Krieg, eine Schilderung der Nordpolexpedition auf dem Schiffe Tegetthoff, eine illustrierte kurze Zusammenstellung der Biographien Haydns, Mozarts und Beethovens, einen Traktat über die wundertätige Maria von Lourdes. Klose fügt hinzu, diese Bücher habe Bruckner allerdings wiederholentlich gelesen. Darin bezeugt sich wiederum das Bedürfnis, vom Druck fortzukommen und auswendig zu lernen – nicht die Fassung, sondern das Vorbild und das Schicksal. Was ist meinen vorangegangenen Meistern widerfahren? Was hat die Heilige vollführt? Was stieß Maximilian, dem Kaiser, in der Ferne zu? Was ereignete sich an der Welt Enden?

Er hatte in seiner Musik immer die Empfindung des unermeßlich hingedehnten Kosmos und hielt sich nun auch im wißbegierigen Alltag gern in den Grenzbezirken auf. Daß es ein erregendes Spiel zum Ausruhen und Wiederaufbruch war, wurde ihm schwerlich bewußt. Ähnlich andächtig hatte er gespielt, als er den Kindern in Windhaag von den Flügen der Himmelsgloben erzählte, ähnlich spielte er noch, wenn er ins Museum ging, um die Versteinerungen aus Urzeiten zu betrachten. Sein Lesen war ein Lernen, ein Hinüberraffen der Gegenstände in die Kraftfelder der Phantasie.

Daß er Zeitungskritiken nicht ganz überging, hatte den Sinn, neue Güte aus dem Leiden für seine einsame Schöpfung zu keltern, denn nach ihrer ethischen Ordnung war sie ja Güte. Und auch der Jubel über die spärlichere Anerkennung wirkte in diesem ethischen Systeme mit, damit der Prunk des Heldischen darin nie maulfrech und erbärmlich wurde. Es war ihm überdies aufgetragen, für den Bestand seines Werks zu sorgen. Darum war der Schreiber »hochgenial«, der ihn lobte, öfter aber las er die Kritik »mit Schaudern« – und »mir ward beinahe übel«.

1887 sagte er der Tagespresse unwirsch ab: er werde jetzt gar keine Zeitung abonnieren und es nie tun aus Gründen, die für jedermann maßgebend sein würden. »Bitte mich für alle Zukunft mit Zuschriften verschonen zu wollen, da ich nie antworten könnte.«

Seine Musik ist voll Landschaft, darum durfte er der ihn umgebenden realen Landschaft nicht sich versäumend gewahr werden, sich ihrer nicht schwelgend freuen. Er besaß sie vorgebildet schon ganz in sich. Das Nachbilden wäre kein Hinschreiten zum Urbilde gewesen. Wenn dieses Urbild nicht ein Weltbild auch in landschaftlicher Beziehung gäbe, würden wir nichts Spezifisches darin abheben. Wir finden es und meinen es manchmal mit den Sinnen erwandern zu können. Zuweilen scheint das süddeutsche Land aus den Tönen hervorzuwachsen, und wenn wir von Ober- und Niederösterreich noch nichts wußten, so wissen wir nun darum. Einmal begleitete er seine Scholaren im Wagen zum Tanzvergnügen und fuhr dann allein nach Hause, »und nun«, erzählt einer, »ertönten, was mir zeitlebens unvergeßlich sein wird, aus der davonrollenden fürnehmen Equipage laute, nach und nach in der Ferne verhallende, echt oberösterreichische Juchzer«. Der Weg lief, der Wagen fuhr, der Jauchzer klang weiter, bis sie im Binnenraume der Musik angelangt und verwandelt waren.

Bei einem anderen Ausflug war Bruckner nach dem eben angeführten Gewährsmann von einer Stelle mit besonders merkwürdigem Echo nicht wegzubringen. Er verweilte bis zur Nacht. Noch lange habe man »in der Tiefe den Säumigen Intervalle singen hören, die im Zusammenklang Nebenseptimenakkorde oder deren Umkehrungen ergaben«. Das bietet die Landschaft schon zur Hälfte umgezaubert. Das Poetische und Gelehrte begegnen sich, als träte eine Dryade einem Menschen entgegen, und sie lösten sich in ihre Zwiesprache hinein auf. So klopfte Bruckner in einer Gasse nahe seiner Wohnung Fässer ab, was sie für einen Hall gäben. Auch da noch ist ein Stück Landschaft unterwegs ins Unsichtbare. Sie wird das Einzelne, Lokale verlieren und vielleicht einmal als leisester, einsamster Paukenpuls in den tonleeren Abgrund hineinfragen.

Dämmerlichter, Zwielichtfarben wechseln genug durch den Kreis der Symphonien. Sie hatten einst ihr Wo und Wann, nun jedoch graut nicht die Dämmerfrühe eines einzelnen Tages, sondern die Urfrühe vor allen Tagen. Man spürt das daran, daß ihre musikalische Gestaltung zurückgehalten wird, daß sie mit ihrer Landschaft mitgeschaffen wird. Die Luft muß sie mit ihrer eigenen Erwärmung erst erwärmen.

Ein keinem Mit- und Nachlebenden zugänglicher Bezirk seiner Einsamkeit ist sein privater katholischer Glaube. Darüber findet man in keiner Symphonie eine Auskunft, in keiner Messe, nirgends. Daß der Dreiklang die Trinität ausströmen ließ, daß Dezimensprünge die Unermeßlichkeit verkörperten, ist Gabe an die Gottheit der Kunst. Daß er beim Gesange eines frommen Chorritornells die Stimmen immer leiser und leiser wünschte und, als der Chor schwieg, glücklich weiterdirigierte, bis das Gelächter der Sänger ihn weckte, auch dies ist noch Dienst an der Kunst: was er bei seinem verklärten Lächeln in sich sah, wird niemand ergründen.

Seinen Katholizismus sehen wir wie eine auf Goldgrund gemalte Legende an, und ihn selbst sehen wir in der Schilderei als eine Figur der Legende. Sein Glaube führte ihn weit aus unserer Zeit, und uns führt der Glaube an seinen Glauben hinaus.

Die Legende erzählt, wie er als fünfjähriges Kind zu dem sterbenden siebenundsiebzigjährigen Geistlichen seines Dorfes gerufen und von ihm gesegnet wurde. Sie erzählt, wie er damals Altäre und heilige Gräber gebaut habe.

Während der heiligen Wandlung lag er auf den Knien und sah mit verzückten Zügen in den Himmel. In den Pausen seines Orgelspiels hob er ein inbrünstiges Beten an. Das Bild der Mutter verewigte er, indem er es nach ihrem Tode in den Linzer und Wiener Wohnungen am Weihwasserkessel anbrachte, hinter einem grünen Vorhang, damit er von dem Anblick nicht zu sehr angegriffen würde. Dem heiligen Schutzengel widmete er einen Hymnus, wie er als der wandernde Lehrer täglich für sich und die Kinder gesprochen hatte: »Heiliger Schutzgeist, deinem Schutz bin ich von Gottes Güte übergeben. Erleuchte, schütze, führe mich durch dieses vielbedrohte Leben.«

Gespräche mit geistlichen Herren waren seine liebste Unterhaltung, wenn jener dunkle Goldgrund um ihn zu leuchten begann. Urlaubstage in Pfarrhäusern waren ihm tief erholsam. Die Mahlzeiten an ihren Tischen erquickten ihn anders als die Mahle um Nahrung. Als Fritz von Uhde seinen Kopf auf einem Abendmahlsbild festhalten wollte, scheute er zurück wie vor einem Unrecht. Nachdem er aber dann doch nach dem Gedächtnis als Apostel in das Abendmahl Jesu aufgenommen war, verweilte er lange und versonnen vor dem Bilde.

In Wien die Gesellschaft des Domdechanten Schiedermayr vermissen zu müssen, beunruhigte ihn bei seiner schlechten Nervenverfassung. Den Schmerz über den Tod seiner Schwester Nani, die ihm die Wirtschaft geführt hatte, meldete er Schiedermayr mit der Bitte: »In Euer Gnaden so tief fühlendes Herz lege ich meine schmerzlichen Gefühle ganz offen darnieder und bitte, Euer Gnaden wollen selbe einmal beim Heiligsten Meßopfer dem Herrn der Welt zu Füßen legen.« Nach einer Wohltat schrieb er ihm: »Dank, ewiger Dank dem Herrn der Welt! In dem verlassensten Zustande sandte er mir Hilfe, würdig der eines Engels! Das habe nur ich damals empfunden! – und jetzt staune ich, sehe ich es ein und begreife es! Halleluja!!!« Dem Wohltäter selbst wünschte er zum Namenstage, Gott möge seine hohen Verdienste um Kirche und Staat zum Teil schon hier auf Erden krönen. »Um die jenseitige Belohnung wollen wir beten!« Seine festlichste Gabe für Vertraute wie seinen Linzer Nachfolger Karl Waldeck war die Hoffnung auf ein Leben zur Verherrlichung Gottes. Bischof Rudigier war nach seinem Tode Bruckners Fürbitter. Er half ihm aus dem Himmel geschwind in Krankheit und Nöten, und als Rudigier seliggesprochen werden sollte, wurde Bruckner über die Art der jenseitigen Hilfe befragt.

Die Absicht der Verherrlichung der göttlichen Majestät lag im Grundplan seiner Arbeit, verschlossen für die Welt. Selten holte er die Urkunde aus dem Fundamente herauf, so einmal im Kreise von Chorherren: wenn Gott ihn einmal rufe und Rechenschaft von ihm fordere, so halte er ihm die Rolle seines Tedeums hin, und er werde sein gnädiger Richter sein.

Mit den steigenden Jahren schien er den Schritt ins Jenseits schon getan zu haben. Er drängte seine Inbrunst niemand auf, aber sie wurde so sehr das Wache im Traumzustand des Alltags, daß er seine Umgebung vergaß. Er soll, selbst schon ziemlich schlecht hörend, so laut gebetet haben, daß es den Messepriester störte. Ermahnt, seine Stimme zu mäßigen, geriet er in zornige Verwirrung, fühlte sich gekränkt und beleidigt. Nach dem Flehen um Gesundheit für die neunte Symphonie rief er dreimal Amen und schlug sich beim dritten Male mit beiden Händen auf die Schenkel.

Ungeheure Gebetshekatomben waren dem vorausgegangen. Zu Allerseelen lag er am Grabe seiner Schwester auf Knien, auch bei Beethoven und Schubert. An Jean Pauls, an Wagners Grabe in Bayreuth wurde er ganz sich entsunken gesehen und achtete nicht der Verwunderung um ihn her. In Kalendern zeichnete er Tag um Tag und Jahr um Jahr auf, wie viele Vaterunser, Mariengrüße, Rosenkränze sein Gewissen ihm aufgab, und er war dennoch ein ganz freier Mann vor sich.

Die Fasten nicht zu halten, wäre ihm so unnatürlich gewesen wie auf die Nahrung zu verzichten. Als Körperschwäche ihn zwang, beim Fürst-Erzbischof um Dispens zu bitten, zweimal, schrieb er es sich zu seiner Beruhigung überdeutlich auf. »Also bei jeder Mahlzeit und wiederholt bei jeder Mahlzeit mehrere Fleischspeisen kann ich genießen an allen Feiertagen und gebothenen Fasttagen des ganzen Jahres, auch in der H. Fastenzeit u. dergl. z. B. H. Adventzeit, ist mir wie sonst auch Abends u. überhaupt bei jeder Mahlzeit mehrmals H. Adventzeit (D. h. bei jeder Mahlzeit mehrere Fleischspeisen) Fleisch zu geniesen gestattet.« Alles ist darüber vergessen, die Zucht der Zunge, die Grammatik. Dieses Werkeltägliche wuchert unverstanden, verachtet, irgendwo draußen.

Doch ist uns Sterblichen der Aufenthalt im stummen Jenseits auf die Dauer verboten, aus seinen einsamen Abgründen wuchert der religiöse Wahn heran. In einer Karwoche mußte seine Haushälterin Kathi mit ihm sieben Stunden nacheinander in der Michaeler Kirche ausharren. In der letzten Krankheit zündete er nachts zu stundenlangem Gebet die Kerzen am Hausaltar an, einmal lief er im Hemd in den Garten (Göllerich-Auer, Bd. 8).

Doch diese Gefährdung hat mit religiöser Vertiefung nichts mehr zu tun, sie mündet in einen Unterweltsstrom, der sich seit Jahrzehnten durch Bruckners Leben gezogen hatte.

Seit Jahrzehnten hängte eine fremde Riesenhand seine Welt drohend in den finsteren Abgrund eines alles aufsaugenden Chaos. Schon in Linz hatten sich in ihr Risse und Schluchten aufgetan. Als er damals täglich sieben Stunden für Sechter arbeitete, hatte ihn eine Krise befallen. »Es war gänzliche Verkommenheit und Verlassenheit, gänzliche Entnervung und Überreiztheit. Dr. Fadinger kündigte mir den Irrsinn als mögliche Folge schon an.« »Schreckliches Kopfweh« nahm ihm für halbe Wochen die Arbeitskraft. Er kam für drei Monate (und später vielleicht nochmals) zur Kur nach der unweit gelegenen Kaltwasserheilanstalt Kreuzen, um sich von der Wut zu befreien, alles zählen zu müssen: die Blätter an den Bäumen, die Steine auf der Straße, den Perlenbesatz an einem Frauenkleid, die Fenster an den Häusern. Der Zwang, die Fenster an großen Gebäuden zählen zu müssen und damit nicht zu Ende zu kommen, wiederholte sich im Alter öfter. Vor dem ihn aufreizenden Spiele böhmischer Musikanten stürzte er in die Wolfsschlucht davon, aus der er mit Leitern und Seilen herausgezogen wurde.

Krankhaft wirkt auch sein Wunsch von 1868, »um jeden Preis gern« die Leiche Maximilians von Mexiko zu sehen. Weinwurm sollte beim Oberhofmeisteramte anfragen, »ob der Leichnam Maximilians zu sehen sein wird, also offen im Sarge oder durch Glas, oder ob nur der geschlossene Sarg zu sehen sein wird. Laß es mir dann gütigst telegraphisch anzeigen, damit ich nicht zu spät komme. Ich bitte dringendst um das.«

Es riß ihn auch sonst wahnhaft zum Weltend. Grundsteine und Turmspitzen bannten ihn an die Grenzen, wo die Vernunft aufhört. Er wollte genau wissen, wie ein Turmhelm endige, ob der Knauf, ob eine Wetterfahne oder ein Blitzableiter über oder unter dem Kreuz sitze. Im Festspielhause in Bayreuth drängte er sich nach einer Parsifal-Aufführung hastig auf die Bühne, verschwand über eine kleine Holztreppe im Dunkel der Versenkung und wurde von seinem Begleiter Göllerich gefunden, wie er in der Erde wühlte. Er füllte ihm und sich selbst die Taschen mit Steinen, als gälte es, den Grundstein der Kunst selbst aufzudecken, nicht bloß den eines Theaters. Bei einem neuen Besuch in Bayreuth wurde er von Stradal leichtsinnig gefragt, wie es mit dem Funde dieses Grundsteins stände. Sofort prasselte die Wahnvorstellung neuerlich in ihm auf.

Unheimliche Krallen streckten sich nach ihm auch aus, als 1881 im Wiener Ringtheater die Feuersbrunst entstand. Er war doppelt gefährdet gewesen, leiblich, wenn er, wie er vorhatte, in die Vorstellung gegangen wäre, geistig, wenn seine Noten verbrannt wären, denn er wohnte vom Brandherd nur durch eine Gasse getrennt. Die Simse seiner Fenster waren beschädigt, er hatte seine Habe zusammengepackt. »Der namenlose Schrecken und das unaussprechliche Elend so vieler geht bis ins innerste Mark.« Als er die Weihnacht in St. Florian verbrachte, fürchtete er sich, in seine Behausung zurückzukehren, da er nachts an den Fenstern die Geister der Verbrannten als kleine Lichter hatte hüpfen sehen. Dem Verscheuchten, der so gern an der Welt Anteil gehabt hätte, war das Unheimliche immer nahe.

Wie ein Nekromant fühlte er sich von Zeichen und Reliquien des Todes angezogen. Nicht allein, daß er den Schädel seines Hörschinger Lehrers Baptist Weiß an sich zu bringen begehrte, worein die Behörde nicht willigte, er nahm auch an der Ausgrabung Schuberts teil und hielt seinen Schädel in Händen. Ebenso ruhte er nicht, als Beethovens Überreste vom Währinger Friedhof auf den Zentralfriedhof überführt wurden, bis er seine Finger an die Stirn des Meisters gelegt hatte, vor dem er sich wie ein ganz kleines Hündchen fühlte. Er hatte sich mit Freunden lange vor der Zeit eingestellt und drang gegen das Verbot der Ärztekommission in die Totenkammer vor. Er soll beide Hände an das Haupt Beethovens gelegt und im Selbstgespräche gesagt haben: »Nicht wahr, lieber Beethoven, wenn du noch lebtest, würdest du mir erlauben, dich anzugreifen, und die fremden Herren wollen es mir verbieten.«

Es war eine zärtliche Begegnung fern der Erde. Begegnungen gleichsam im Fegefeuer lockten ihn ebenso. Er wohnte Schwurgerichtsverhandlungen gegen Mörder bei und suchte sich Einlaß zur Hinrichtung zu verschaffen. Es wird erzählt, einmal hätte Bruckner die ganze Nacht gewacht und für den Mörder gebetet. Beim Aufenthalt im ganz Extremen wich seine Melancholie.

Vor Ablauf seiner Zeit kaufte er mehrere winzige Damentaschenuhren, darunter eine schwarze, den kleinen dickschädligen Mohren, vor dem Ziel seiner Wege viele Schuhe. Im Nachlaß wurden an die dreißig Paar gefunden.

Unter dem allen war der vielberufene Cäsarenkopf des Meisters verschwunden. Eigentlich ist er auf allen Lichtbildern der Wiener Zeit nicht zu finden. Die Augen wollen es nicht. Sie trauern mehr und mehr in ihrem Fragen und Staunen. Sie und der Mund, von dessen Oberlippe nun die Behaarung weicht, scheinen näher aneinanderzurücken, die Nase scheint sich zu vergrößern. Der Rundschädel scheint zwar auch mächtiger zu werden, aber er wird auch mehr Schädel, der unmerklich das ganze Haupt über dem abmagernden Halse und dem einfallenden Munde vornüberneigt. Noch trauert die Rose im Knopfloch, der Orden am Galarock und die Handschuhe in den verlegen an den Fingerspitzen gefalteten Händen mit, dann bliebe nur ein Greislein übrig, hinderten nicht immer wieder die urwissenden, fernwehguten Augen den Eindruck.

Den Cäsar hatte man wohl nur an der Orgel gesehen. In ihrem Bereich schoß der Herrschertrotz in die demütige Gestalt, in ihrem Bereiche tat Bruckner die stolzen und selbstbewußten Aussprüche. In London wollte ihn eine Lady nach seinem Konzertieren heiraten, er wies sie ab. Eine andere wollte sich mit ihm aussprechen, aber er konnte nicht englisch und dekretierte, wer sich mit ihm zu unterhalten Lust habe, der solle Deutsch lernen! In St. Florian begehrte einmal ein Graf sein Spiel; er antwortete, für einen Grafen spiele er nicht, aber wenn es der Prälat anordne, spiele er sofort. Ein andermal lehnte er die Bewunderer seines Orgelspiels so ab: Was meine Finger spielen, vergeht, was sie aber schreiben, wird bestehen. Seine Geschicklichkeit war unbegrenzt. Er mußte den Schülern zeigen, wie er seine Ungetüme von Pedaltrillern bändigte. Eines Tages blieb ihm eine Taste stecken: er erfand ein Nachspiel zu dem falsch fortschrillenden Tone, das zu gelöstem Wohlklang führte. Er hatte auch seine Eigenheiten, so das unorgelmäßige Vibrato der linken Hand.

Zuletzt verließ ihn aber die Sicherheit an der Orgel. Seine angeschwollenen Füße traten fehl auf den Pedaltasten, und sein abwesendes Ohr bemerkte beim allerletzten Spiele nicht, daß er mit einer grausamen Disharmonie aufgehört hatte. Es war beim Hochamte in Klosterneuburg gewesen.

Letzte Freuden erhoben ihn aus der Masse. Seinen Franz-Josefs-Orden hegte er so zärtlich, weil er den Namenszug seines Kaisers trug. Die damit verbundenen dreihundert Gulden Personalzulage halfen drei von den vier faustischen Grauen Weibern verscheuchen, den Mangel, die Sorge, die Not. Göllerich vertrieb sie noch weiter, als sich auf seinen Aufruf 1889 Wohlhabende zu einer jährlichen Ehrengabe an Bruckner zusammenschlossen. Die Privatstunden fielen. Jahrs darauf bildeten sich gleich drei Konsortien zu seiner Unterstützung. Am 15. Januar 1891 durfte er, nachdem er sich ein Jahr lang ohne Entschädigung hatte beurlauben lassen, mit 440 Gulden Pension in den Ruhestand treten und bald nach der Erlangung des Ehrendoktortitels die fünf letzten Jahre seine Würden geruhig untereinandermalen. Sogar zwei Reisen zu Aufführungen in Berlin konnte er noch machen, 1891 und 1894, und außer dem Huldigungsgepränge wäre ihm dort beinahe die Betreuerin seines Alters geworden: das Zimmermädchen Ida Buhz im Hotel Kaiserhof hing ihm in aufrichtiger Liebe an, sie wäre ihm als Frau gefolgt, hätte er nicht den Übertritt des Mädchens zum Katholizismus gefordert.

Die weiteren Lebenserleichterungen trafen schon einen todkranken Menschen. 1894 kamen ehrenhalber 150 Gulden, 1895 kamen 600 Gulden, und im gleichen Jahre ließ ihm der Kaiser Räume im Schlosse Belvedere anweisen. Von einem Nebenbau, dem Kustodenstöckl, hatte der Leidende einen ebenerdigen Ausgang in den Park. Vor dem Umzug verbrannte er viele Arbeiten, die er nicht mehr billigte. Das sonstige Testament war schon geraume Zeit vorher gemacht, mit einigen Legaten an die Pflegerin, an Verwandte und Überweisungen der unvergänglichen Handschriften, die gebunden wurden, an die Hofbibliothek. An die Stelle der Not war die Gestalt getreten, die auf das harte Reimwort hört.

Vor dem Tode empfand er kein Grauen, aber viel bittersüße Wehmut. Das Sterben dauerte Jahre. Zu den alten Leiden stellte sich die Wassersucht ein. Sie brachte Atemnot und Bettlägrigkeit. Das Wasser mußte abgezapft werden. Danach ging es besser, so daß er versuchen konnte, seine liebste Beschäftigung, die Universitätsvorlesungen, aufzunehmen. Er scherzte den Gaudeamus zu: besser Wasser im Bauch als im Kopf!, wie er schon früher gescherzt hatte: » post molestam senectutem etc.« Er mußte die Vorträge bald abbrechen. Um seinen siebzigsten Geburtstag erkrankte er an einer Rippenfellentzündung. Er lag einsam in Steyr. Die Welt wurde wieder einmal ohne ihn fertig. Auch in Wien schon hatten die Freunde ihn nicht besucht. »Mein Wasser ist von der Brust abgegangen; die Füße schwellen noch an! Niemand will kommen, oder doch höchst selten.« Göllerich, der diese Klage in Nürnberg empfangen hatte, eilte daraufhin nach Wien und ging mit seiner Braut zu Bruckner. »Beim Abschied ließ er sich’s nicht nehmen, uns die hohen fünf Stockwerke des Hauses hinabzubegleiten, obwohl er sich nur mehr schwer bewegte. Am ersten machte er traurig halt, winkte lange mit der müden Rechten und rief uns immer wieder nach: Adje! Adje!« 1895 schrieb er nach Steyr: »Bin seit 11. Nov. v. J. bis Pfingstsonntag nicht aus der Wohnung gekommen.« Das Abschiedsweh befiel ihn heftig, als der neue Leiter der Gesellschaftskonzerte, Richard von Perger, ihn, von Brahms aus bösem Gewissen gedrängt, aufsuchte. Bei der Eröffnung von Pergers, er werde eine der Messen im nächsten Jahre singen lassen, klagte er, da lebe er ja nimmermehr; das Herz und die scharfen Zeitungen täten ihm weh. Seine greisen Augen wurden naß. Ehrfurcht hatte den Gast schon vorher in ihren Bann gezogen, aber nun »tat es einen Fall in meinem Innern, und im stillen bereute ich tief jedes voreilige und abfällige Wort, das ich wohl zu früheren Zeiten über seine Werke geäußert haben mochte«.

Eine weiche Herzenshöflichkeit blieb bei dem Kranken. Mochte sein Harmonium, das er dem behandelnden Arzte zugedacht hatte und das dieser aus Scheu und im Gefühle, der Auszeichnung unwert zu sein, ausgeschlagen hatte, von dessen Vorgesetztem hingenommen werden. Brieflich dankte er gern für »alles und alles«. Als sein jüngerer Freund Kitzler ihn wenige Monate vor seinem Tode besuchte, duldete es ihn nicht im Bette. Den Lehrer empfing man stehend. Die Fieber einer Lungenentzündung schüttelten ihn, er wurde aufgegeben und erholte sich nochmals ein wenig. Händezitternd spielte er dem Arzte Tänze. Hugo Wolf sah ihn in klingende Sphären entrückt. Allerdings, Verhandlungen über einen Opernplan waren aufgegeben. Aber das Finale der Neunten spielte ihn aus der Welt. Ihm wandelte er in den leidlich erträglichen August-, September- und Oktobertagen 1896 durch die Gänge des Belvedereparks nach. Ihm betete er immer wirrer und krauser eine Bahn. Weil ihm schon im Juli ein Kirchenbesuch verweigert worden war, hatte er den Arzt gezwungen, ihm einen Revers zu schreiben, er solle nicht eingesperrt werden, sondern seine Freiheit und sein Leben »voll und voll genießen«. An seinem letzten Tage, dem 11. Oktober, saß er wieder über dem Finale am Klavier. Es war ein Sonntag. Um die dritte Stunde wurde ihm kalt. Er verlangte Tee, trank, ließ sich im Bette auf die Herzseite wenden, atmete tief ein und atmete aus für immer.

Drei Tage danach, wieder um die dritte Stunde, fand die Leichenfeier der Stadt Wien statt. Vor der Karlskirche, wohin der Sarg nach der Einsegnung gebracht war, staute sich das Volk, und auch Johannes Brahms war nun Volk. Aber vor Erschütterung trat er nicht durch das Portal. Ihm waren nicht mehr sieben Monate des Überlebens beschieden. Hugo Wolf wurde nicht eingelassen; er durfte Schuberts »Litanei« und das Adagio der siebenten Symphonie Bruckners in der Kirche nicht hören, denn er war nicht Mitglied des Singvereins.

In der Krankheitszeit war Bruckner zuweilen von seinem Bruder Ignaz gepflegt worden.

An ihn nach St. Florian hatte Bruckner seinen letzten Brief gerichtet. Bruder Ignaz könnte man, nach seiner Gemütslage zwischen Schwermut, Aufbrausen, Schelmerei und sanfter Güte, ein rührendes Gespenst Bruckners nennen. Er trug die von Anton kommenden weiten Kleider und hatte mit ihm die große Familienähnlichkeit, nur war ihm in der Kindheit bei einem Unfall das Nasenbein verletzt worden, und ein Augenleiden quälte ihn. Er hatte dem großen Bruder von Zeit zu Zeit Selchfleisch geliefert und von diesem kleine Draufgaben auf den Preis und auch sonst Unterstützungen erhalten. Ursprünglich Gärtnergehilfe, konnte er nur in klösterlicher Hut leben und wurde Diener und Balgentreter in St. Florian. Glücklich in seinem Kämmerchen, froh in der frommen Gemeinschaft, machte er Ersparnisse, die er dazu benützte, die Schwester Anna nach der Einziehung des Währinger Friedhofs überführen zu lassen, eine Stiftung für das Grabgitter der Mutter zu errichten und der Marienkapelle in St. Florian eine kleine Orgel zu schenken. Er hatte mit Anton gescherzt, er sei doch mehr als der berühmte Organist, denn wenn er die Bälge nicht mit Luft versehe, könne Anton gar nichts, wogegen die Sängerknaben witzelten, sein Nasenschaden rühre daher, daß ihn Anton beim Spiel mit entfesselten Registern hoch in die Luft geprellt habe. Mit heiterer Eulenspiegelei sonnte er sich im Ruhme des anderen, wenn er sich auch gesträubt hatte, eine seiner Symphonien anzuhören, weil er nichts davon verstünde. Aber der Abschiedsbrief an ihn, der nur ein dreimaliges Lebewohl mit taumelnden Buchstaben und taumelnden Silben enthält, ist der ergreifendste Brief, den Bruckner geschrieben hat. Die Fluten der Vergängnis und das Wissen um ihren Einbruch haben ihn überspült.

Zu Bruder Ignaz kehrte Anton Bruckner nach dem Tode aus der kalten Hauptstadt ein. Ursprünglich hatte er sich die letzte Ruhstatt in Steyr ersehnt, dann aber im letzten Willen verfügt: »Ich wünsche, daß meine irdischen Überreste in einem Metallsarge beigesetzt werden, welcher in der Gruft unter der Kirche des regulierten lateranischen Chorherrenstiftes St. Florian, und zwar unter der großen Orgel frei hineingestellt werden soll, ohne versenkt zu werden, und habe ich mir hierzu die Zustimmung schon bei Lebzeiten seitens des hochwürdigsten Prälaten genannten Stiftes eingeholt. Mein Leichnam ist daher zu injizieren, zu welchem Liebesdienste Herr Professor Paltauf sich bereit erklärt hat.«

So geschah es.

 

 

 

Oskar Loerke gehört zu den bedeutendsten Vertretern der deutschen Lyrik des 20. Jahrhunderts. Seine Gedichte werden in Anthologien unter den Stichworten Expressionismus, Naturdichtung oder Innere Emigration abgedruckt. Doch wird diese Reduktion der thematischen Vielfalt und dem Formenreichtum seiner Dichtung nicht gerecht, die weite geschichtliche, mythologische und geographische Räume umgreift. Ihr grundsätzliches Einverständnis mit der Welt erfährt in der NS-Zeit einen tiefen Riss, der auch durch offen eingestandene Wut und Verzweiflung am Weltzustand nicht mehr zu heilen ist.

Für Paul Celan war Loerkes ‚Pansmusik‚ das schönste Gedicht in deutscher Sprache

Weiterführend → Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.

 

Notiz über die benutzte Literatur

Für das Biographische dieser Darstellung wurde neben den beiden Sammlungen der Briefe Bruckners (die erste herausgegeben von Franz Gräflinger, die zweite von Max Auer bei Gustav Bosse, Regensburg) vor allem das bewunderungswert reichhaltige neunbändige Grundwerk von August Göllerich und Max Auer »Anton Bruckner« (ebenfalls bei Gustav Bosse, Regensburg) als Quelle benutzt. Alle irgend erreichbaren Nebenquellen, wie die Erinnerungen Kitzlers, die Schilderung Herbecks durch seinen Sohn, Aufzeichnungen von Schülern, Tischgenossen, geistlichen Freunden, Ärzten, Verehrern und Feinden des Meisters, mündliche Auskünfte, sind darin in ausführlichen Zitaten aufgegangen oder vollständig abgedruckt. Ferner enthält es zwei Bände mit unbekannten Kompositionen Bruckners, viele Skizzen, zahlreiche Bilder, Faksimilia, Dokumentwiedergaben und die Merk- und Tagebuchkalender Bruckners. Ernst Schwanzara tat aus umfangreichen Studien genealogische Ergänzungen hinzu. Keine Lebensnacherzählung, die das Erforschte nicht noch einmal erforschen will, kann dieses Werk entbehren. Max Auer hat nach Göllerichs Tode den weitaus größten Teil ausgeführt.

In einem starken Bande »Anton Bruckner, sein Leben und Werk« (Musikwissenschaftlicher Verlag, Wien) faßte Auerdie Ergebnisse seiner Arbeiten, auch philologisch-analytischer Art, zusammen.

Der Musikwissenschaftliche Verlag, Wien, bringt die Werke Anton Bruckners in einer kritischen Gesamtausgabe: auch der musikalische Laie wird an den bisher vorliegenden Studienpartituren viel Freude haben.

Die Kunst Bruckners erläuterten mir außer den schon genannten die hochrangigen Werke von Robert Haas, »Anton Bruckner« (Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, Potsdam), August Halm, »Die Symphonie Anton Bruckners« (Georg Müller, München), Ernst Kurth, »Bruckner«, 2 Bände (Max Hesse, Berlin), Alfred Orel, »Anton Bruckner, das Werk, der Künstler, die Zeit« (A. Hartlebens Verlag, Wien und Leipzig).

Sonst benutzte ich noch die Bücher von Ernst Decsey, »Bruckner, Versuch eines Lebens« (Schuster und Löffler, Berlin), Franz Gräflinger, »Anton Bruckner, sein Leben und seine Werke« (Gustav Bosse, Regensburg), Friedrich Klose, »Meine Lehrjahre bei Bruckner« (Gustav Bosse, Regensburg), Alfred Orel, »Anton Bruckner, sein Leben in Bildern« (Bibliographisches Institut, Leipzig). Erich Schwebsch, »Anton Bruckner, ein Beitrag zur Erkenntnis von Entwicklungen in der Musik« (Bärenreiter-Verlag, Augsburg). Hans Teßmer, »Anton Bruckner, eine Monographie« (Gustav Bosse, Regensburg), Richard Wetz, »Anton Bruckner, sein Leben und Schaffen« (Philipp Reclam, Leipzig), Richard Wickenhauser, »Anton Bruckners Symphonien, ihr Werden und Wesen« (Philipp Reclam, Leipzig), ferner eine Reihe von Aufsätzen.

Endlich war mir wichtig das Nachschlagen in Thomas von Aquino, in Meister Eckhart und anderen Mystikern, in Novalis, Adalbert Stifter. Erleichterungen und Bestätigungen boten die Schriften »Deutsche Mystiker« von Wilhelm von Scholz, »Tragik und Größe der deutschen Romantik« von Rudolf Bach, »Adalbert Stifter, Geschichte seines Lebens« von Urban Roedl, einige Bände von Hermann Bahr.