Wunderkiste

 

Bei den Dingen, die die Kunst des Lebens ausmachen, ist es wie mit den Wörtern. Für sich genommen kann man sie leicht nach Wortarten unterscheiden. Harmonie, gesund sein, Freude, essen, Liebe, genug haben, Sicherheit, sich frei fühlen usw. Doch je nach ihrer Stellung und Aufgabe in jenem großen Satzzusammenhang, der Leben heißt, können sie zu etwas ganz Verschiedenem werden. Das Hauptwort wird zu Subjekt oder Objekt, das Tätigkeitswort zum Satzgegenstand, das Eigenschaftswort zur Satzaussage, und einige von ihnen finden sich auch mal als Satzergänzung oder Objekt wieder. Aber das ist nur Grammatik!
Nun kommen wir, die Menschen, und erlegen den Worten auf, was wir ausdrücken wollen: Rot, eigentlich ein Adjektiv, wie gemacht für die Stellung als Satzaussage, kann zum Subjekt oder Satzgegenstand werden, wenn wir sagen: »Rot ist meine absolute Lieblingsfarbe.« Nun wendet der Grammatiker ein: Das ist doch bloß eine Täuschung, nur ein raffiniert verdrehter Satz, der in richtiger Reihenfolge heißen muss: »Meine absolute Lieblingsfarbe ist rot.« Aber wer so kleinkrämerisch herumgrammatisiert, der verkennt den Menschen. Manchmal ist ihm das, was er fühlt, wünscht, glaubt, so wichtig, dass er durch die Satzstellung andeutet, dass Rot für ihn zur Hauptsache wird, also zum Satzgegenstand, dem etwas zustößt, und was ihm zustößt, das ist eben: »meine Lieblingsfarbe sein«!
Verstandesmenschen erkennen ganz richtig, dass hier die Gefühle eines Menschen die Sache umkehren und das Prädikat zum Subjekt, das Subjekt zum Prädikat machen. Muss das wirklich sein? Manchmal ja, jedenfalls für Lehrlinge in der Lebenskünstlerei: Die wollen ja nicht bloß eine Aussage über sich machen, sondern den Grad ihrer Begeisterung mit-teilen, ihr Verhältnis, ihr Hingezogensein zur Farbe ausdrücken, also eine Bewegung. Man pfeift ja auch nicht das Rot zu sich hin, als wäre es ein dressierter Hund, oder legt es sich mit einer herrischen Greifbewegung in den Einkaufswagen oder bestellt es mit einem Anruf beim Lieferservice: »Bitte einmal das Röteste, was sie auf der Karte haben«, sondern man selbst eilt emotional zum Roten hin.
So lernen wir als Erstes: Kaum kommt der Mensch mit seinen Wünschen, Neigungen und Begierden ins Spiel, reicht das sachlich Richtige oft einfach nicht, es sagt nicht die ganze Wahrheit. Es sagt vielleicht etwas, aber es drückt nichts aus. Der ganze menschliche Faktor besteht aber genau darin: Wir können nicht einfach nur etwas feststellen, wir drücken dabei immer etwas aus. Auch wenn wir ganz kalt und nüchtern auftreten und nur sachliche Feststellungen treffen, so sagen wir damit eben nicht bloß etwas aus, wie Technokraten gern glauben, sondern wir drücken dabei, ob uns das bewusst ist oder nicht, immer auch aus: Ich bin ein Technokrat, nur dass du Bescheid weißt.

 

 

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Wunderkiste, Fundstücke aus meiner Lebenskünstlerei, von Thomas Frahm. Chora-Verlag 2017

Kunst des Lebens heißt nicht Rückzug aufs Angenehme, in die Wohlfühlzonen, die Idylle, um, einmal drinnen, die Tür zu verriegeln und die bunte Welt nur über Bildschirm zu erfahren. Man muss schon auch selbst ein bunter Vogel sein oder werden, sich schon öffnen, etwas riskieren, sich am Leben messen, auch wenn das weh tut oder gar Entbehrungen mit sich bringt. Also: offen bleiben, ohne die Freude am Leben unter schwerem Problembewusstsein zu begraben. Der Band enthält daher neben heiteren, ernsten und bissigen Spruchweisheiten für das kleine Lachen zwischendurch, neben Geschichten und Gedichten vor allem auch eigens für dies Buch verfasste Essays und philosophische Betrachtungen, die die alten Topoi vom „guten Leben“, von der „Natur des Menschen“ und dem alten Gegensatz von Körper und Geist erörtern.

In dieser Neuausgabe wurde dem Band ein Erfahrungstext hinzugefügt, der die Erfahrungen schildert, die man auf der Straße mit Menschen machen kann, wenn man keinen erkennbaren sozialen Rang mehr hat: als Flaschensammler.