Pfaueninsel und Glienicke

 

Der Sommer rückte mich an die Hohenzollern heran. In Potsdam waren es das Neue Palais und Sanssouci, Wildpark und Charlottenhof, in Babelsberg das Schloß und seine Gärten, die unseren Sommerwohnungen benachbart waren. Die Nähe dieser dynastischen Anlagen störte mich beim Spielen nie, indem ich mir die Gegend, die im Schatten der königlichen Bauten lag, zu eigen machte. Man hätte die Geschichte meiner Herrschaft schreiben können, die von meiner Investitur durch einen Sommertag bis zu dem Rückfall meines Reiches an den Spätherbst sich erstreckte. Auch ging mein Dasein ganz in Kämpfen um dieses Reich dahin. Sie hatten es mit keinem Gegenkaiser sondern mit dieser Erde selbst und mit den Geistern, welche sie gegen mich entbot, zu tun.

Es war an einem Nachmittage auf der Pfaueninsel, daß ich mir meine schwerste Niederlage holte. Man hatte mir gesagt, ich müsse dort im Grase mich nach Pfauenfedern umsehen. Wieviel verlockender erschien mir nun die Insel als Fundort so bezaubernder Trophäen. Doch als ich dann die Rasenplätze kreuz und quer vergeblich nach dem Versprochenen durchstöbert hatte, beschlich mich, mehr als Groll gegen die Tiere, die mit ihrem unversehrten Federschmuck vor den Volieren hin und her spazierten, Trauer. Funde sind Kindern, was Erwachsenen Siege. Ich hatte etwas gesucht, was mir die Insel ganz zu eigen gegeben, sie ausschließlich mir eröffnet hätte. Mit einer einzigen Feder hätte ich sie in Besitz genommen – nicht nur die Insel, auch den Nachmittag, die Überfahrt von Sakrow mit der Fähre, all dieses wäre erst mit meiner Feder mir ganz und unbestreitbar zugefallen. Die Insel war verloren und mit ihr ein zweites Vaterland: die Pfauenerde. Und nun erst las ich in den blanken Fenstern des Schloßhofs vorm Nachhausegehen die Schilder, welche der Glast der Sonne in sie schob: ich solle heute nicht ins Innere treten.

Wie damals mein Schmerz kein so untröstlicher gewesen wäre, hätte ich nicht mit einer Feder, welche mir entging, ein angestammtes Land verloren, wäre ein andermal die Seligkeit, radeln gelernt zu haben, nicht so groß gewesen, wenn ich nicht damit neue Territorien mir erobert hätte. Das war in einer jener asphaltierten Hallen, wo in der Modezeit des Radfahrsports die Kunst, die heut ein Kind vom andern lernt, so umständlich wie Autofahren unterrichtet wurde. Die Halle lag auf dem Land bei Glienicke; sie stammt aus einer Zeit, der Sport und Freiluft noch nicht unzertrennlich gewesen waren. Auch hatten sich die verschiedenen Arten des Trainings damals noch nicht gefunden. Eifersüchtig war jede einzelne darauf bedacht, durch eigene Räume und ein drastisches Kostüm sich von den übrigen zu unterscheiden. Weiterhin war es dieser Frühzeit eigen, daß im Sport – zumal in dem, der hier getrieben wurde – die Exzentrizitäten tonangebend waren. Daher bewegten sich in dieser Halle neben den Herren-, Damen-, Kinderrädern modernere Gestelle, deren Vorderrad vier-, fünfmal größer als das hintere und deren luftiger Hochsitz das Gestühl von Akrobaten war, die ihre Nummer übten.

Badeanstalten weisen oft getrennte Bassins für Nichtschwimmer und Schwimmer auf; so konnte auch hier von einer Scheidung die Rede sein. Und zwar verlief sie zwischen denen, die auf dem Asphalt sich üben mußten, und den andern, die die Halle verlassen und im Garten radeln durften. Es dauerte eine Weile, bis ich in diese zweite Gruppe rückte. An einem schönen Sommertage aber entließ man mich ins Freie. Ich war betäubt. Der Weg ging über Kies; die Steinchen knirschten; zum ersten Male gab es keinen Schutz vor einer Sonne, die mich blendete. Der Asphalt war schattig, weglos und bequem gewesen. Hier aber lauerten Gefahren in jeder Kurve. Das Rad, obwohl es keinen Freilauf hatte und der Weg noch eben war, ging wie von selbst. Mir aber war, als hätte ich noch nie auf ihm gesessen. Ein eigener Wille begann in seiner Lenkstange sich anzumelden. Jeder Buckel war im Begriffe, mir mein Gleichgewicht zu rauben. Ich hatte längst verlernt zu fallen, aber nun geschah es, daß die Schwerkraft einen Anspruch, auf den sie jahrelang verzichtet hatte, geltend machte. Mit einmal sank, nach einer kleinen Steigung, der Weg unversehens ab, die Bodenwelle, die mich von ihrem Kamme gleiten ließ, zerstob vor meinem Gummireif zu einer Wolke von Staub und Kieseln, Zweige sausten mir im Vorübereilen ins Gesicht, und als ich alle Hoffnung, mich zu halten, schon fahren lassen wollte, winkte plötzlich die sanfte Schwelle vor der Einfahrt mir. Herzklopfend, aber mit dem ganzen Schwunge, den der eben zurückgelassene Abhang mir noch mitgegeben hatte, tauchte ich auf dem Rade in dem Schatten der Halle ein. Als ich absprang, war es mit der Gewißheit, daß für diesen Sommer Kohlhasenbrück mit seiner Bahnstation, der Griebnitzsee mit den gewölbten Lauben, die zu den Landungsstegen niedergleiten, Schloß Babelsberg mit seinen ernsten Zinnen und die duftenden Bauerngärten von Glienicke durch die Vermählung mit der Hügelwelle so mühelos in meinen Schoß gefallen seien wie Herzogtümer oder Königreiche durch Heirat an die kaiserliche Hausmacht.

 

 

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Berliner Kindheit um neunzehnhundert ist eine Sammlung autobiografischer Skizzen. Die einzelnen Texte verbinden sich nicht zu einer zusammenhängenden Erzählung, sondern geben eher einzelne Bilder und Erinnerungs-Bruchstücke wieder, etwa das Schlittschuhlaufen auf einem zugefrorenen Teich oder den Nähkasten seiner Mutter. Dabei versucht Walter Benjamin, sich in die noch unwissende, staunende Haltung des Kindes zurückzuversetzen und dessen Weltsicht in kunstvollen sprachlichen Bildern und Vergleichen wiederzugeben.