Die Angst vor dem Tod ist das Schlimmste

 

Der Tod griff mich erst an, als ich Jahre später Grandmère Louise verlor. Sie glaubte an die Sprache in den Psalmen und Faust, aber nicht an Gott. Der ließ sie fallen, als sie beim Überqueren der Allee in der Abenddämmerung zwischen den starken Stämmen der Platanen auf die Straße in die Scheinwerfer lief.

Die Wahrheit ist das Schrecklichste.

Jedenfalls war mir mit einem Schlage klar, in welcher Lage ich mich befand. Ich gab in Paris das Abfindungsgeld aus, das ich beim Abschied von der Bundeswehr erhalten hatte. Ich, Hauptgefreiter Janus Rippe, diente zwei Jahre freiwillig in der Luftwaffe. Die Adresse des Fliegerhorsts in Leipheim bei Ulm wies ironisch in die Zukunft: Schöne Aussicht 22. Als ich Ende Juni entlassen wurde, ging ich zu Grandmère Louise in Bonn, die brachte mich bei der Gräfin, einer alten Freundin unserer Familie, in Bad Godesberg unter. Das Haus Westfalia stand in der Hochkreuzallee neben dem Rübenacher Bauernhof, der zum Wohnhaus umgebaut war. Am Haus rankte soviel wilder Wein, dass man meinen konnte, Dornröschen lebe hier.

Weder glaubte ich an Gott noch hielt ich mich selbst für einen Gott, auch wenn meine Selbstüberschätzung maßlos war. Vor meiner Abreise nach Paris sagte Erikson, der im Parterre wohnte, wir diskutierten über Wirtschaftspolitik, ich sprach von Kasinokapitalismus: „Machen Sie erst einmal Abitur, bevor Sie hier so schlau über Politik reden!“

Die beiden stummen Frauen meines Traums, Grandmère Louise und die Gräfin, erschienen alterslos. Sie sagten nichts, denn sie konnten mir nicht helfen, weil ich selbst nicht wusste, wie ich mich retten sollte. Das steinerne Tischtuch sagte mir, du musst deinen Tisch selber decken. Aus der dunklen Kammer ging ich wie durch meine Nabelschnur. Die Jungen, die auf mich einredeten, verstand ich nicht, ich gehörte nicht mehr zu ihnen, ich hatte mein Elternhaus verlassen, in dem der Steintisch mit den leeren Stühlen stand, ich war herausgefallen aus meiner Kindheit, die ich immer noch mit mir trug wie in der Zeit des Militärdienstes, wo mein Tisch gedeckt war, mein sicheres Bett stand, eine feste Struktur mich zusammenhielt … Ich versuchte mir die apokalyptische Färbung des Himmels zu erklären, die sich über mir wölbte, als ich den Palast verließ und ins Freie trat. Da waren Straßen, Häuser und Felder, da war kein Labyrinth, in das ich nun geriet, als ich das Haus verließ und meinen Weg suchte.

 

 

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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.