Lyrische Novelle 2

 

Am schmerzlichsten ist es mir, dass ich weggefahren bin, ohne von meinem Freund Magnus Abschied genommen zu haben. Er ist krank, jetzt liegt er schon seit drei Wochen, und ich habe ihn sehr vernachlässigt. Ich sah ihn vor einigen Tagen, da ging es ihm ziemlich schlecht. Er lag im Hinterraum seines Ateliers, der Arzt war gerade bei ihm und schüttelte mir die Hand. Er untersuchte ihn schweigend, betrachtete die Fieberkurve und gab dem kleinen Portierssohn Anweisungen. Der Portierssohn ist ein blasser und magerer Bursche von etwa achtzehn Jahren, er kocht für Magnus und hat jetzt schon die ganze Pflege übernommen. Wenn Besuch kommt, führt er ihn selbst in das Atelier und verschwindet dann in der Küche. Dort bleibt er, bis Magnus ihn ruft. Er ist ihm sehr ergeben . . . Der Arzt gab ihm ein Rezept und schickte ihn in die Apotheke. »Ein braver Junge«, sagte er zu mir. Und Magnus lächelte, und meine Zugehörigkeit wurde einfach übersehen. Der Arzt ging fort, und ich wartete, bis der Junge aus der Apotheke zurück war.

»Hast du noch Geld?« fragte ich Magnus.

»Haben wir noch Geld?« fragte Magnus den Jungen. Der antwortete: »Du hast mir gestern zehn Mark gegeben, damit reichen wir vorläufig.«

Sie sagten sich du.

Ich ging dann weg, und ein paar Tage später schickte mir Magnus eine Einladung zum englischen Botschafter, die er für mich bekommen hatte, und schrieb mir einen Brief dazu. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.

 

 

***

Lyrische Novelle, von Annemarie Schwarzenbach, Erstdruck: Berlin, Rowohlt 1933

Annemarie Schwarzenbach: Selbstporträt mit ihrer zweiäugigen Rolleiflex Standard 621-Kamera (entstanden in den 1930er Jahren)

Die im Frühling 1933 erstmals erschienene Lyrische Novelle stand im Schatten von Hitlers kurz zuvor erfolgter Machtergreifung. Die Aufnahme und Verbreitung des Buches wurde dadurch stark erschwert. Aber schon damals rühmte die Kritik die Musikalität und moderne Sachlichkeit der Sprache. Noch stärker als in jener Zeit zieht der Text heute eine besondere Aufmerksamkeit auf sich: als eine frühe literarische Darstellung von lesbischer Liebe. Das Buch erzählt zwar von der unglücklichen Liebe eines Mannes zu einer Frau. Doch die Autorin bekannte nach der Veröffentlichung: Zum besseren Verständnis der Geschichte „hätte man eingestehen müssen“, dass der Held „kein Jüngling, sondern ein Mädchen“ sei.

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In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück.