Bahnwärter Thiel

 

Die Novelle Bahnwärter Thiel zählt zu den bedeutendsten Werken des Naturalismus. Hauptmann arbeitet mit seiner Hauptfigur Thiel „die Hilflosigkeit gegenüber der sozialen Ständegesellschaft heraus und die Bedrohung durch die Industrialisierung“. Der Stoff geht auf einen Unglücksfall an der Bahnstrecke von Erkner nach Fürstenwalde zurück und beruht auf Erfahrungen des Dichters während seines Lebens am Rande von Berlin.

Zentrales Dingsymbol in „Bahnwärter Thiel“ ist die Eisenbahn. Im 19. Jahrhundert war sie ein weithin sichtbares Zeichen des anbrechenden Maschinenzeitalters, das mitunter als bedrohlich empfunden wurde, auch hinsichtlich der sozialen Probleme, die die Industrialisierung vor allem im Milieu der Arbeiterschaft erzeugte. Physische und soziale Bedrohung durch die „Macht der Maschinen“, denen die Menschen in ihrem Lebensrhythmus unterworfen sind, kommen in der Eisenbahn-Symbolik der Novelle deutlich zum Ausdruck:

Die zerstörerische Kraft der Eisenbahn erlebt Thiel mehrfach: Die stille Andacht an Minna wird durch „vorbeitobende Bahnzüge unterbrochen“ er selbst wird durch eine aus einem Zug geworfene Flasche verletzt, ein Rehbock wird gerammt und schließlich führt der Zugunfall am Ende nicht nur zum Tod von Tobias, sondern kostet in der Folge auch Lene und Thiels zweiten Sohn das Leben.

Wie ein Zug, der seine Gleise nicht verlassen kann, so ist auch Thiels Leben durch seine psycho-soziale Determiniertheit „auf Schienen“ gestellt. Da er seine Abhängigkeit von Lene und seinen sozialen Stand nicht durchbrechen kann, es auch nicht versucht, ist er fremdbestimmt und sein Leben wird auf fester Bahn gesteuert. Wie ein Zug „rast“ auch die Handlung dem Abgrund zu, da Thiel angesichts der bedenklichen Entwicklungen (Misshandlung des Sohnes, zunehmende Abhängigkeit von Lene, gesteigerte Flucht in die Traumwelt) nur passiv reagiert.

Die in der Novelle dargestellten Züge werden nicht als vom Menschen geschaffene und von ihm kontrollierte Kraft, sondern als Fortsetzung der dämonischen Macht der Natur dargestellt: „Zwei rote, runde Lichter durchdrangen die Dunkelheit. Ein blutiger Schein ging vor ihnen her, der die Regentropfen in seinem Bereich in Blutstropfen verwandelte. Es war, als fiele ein Blutregen vom Himmel. Thiel fühlte ein Grauen und, je näher der Zug kam, eine umso größere Angst.“

Unterstützt wird die Eisenbahnsymbolik durch thematisch an sie angelehnte sprachliche Bilder: „Thiel konnte sich erheben und seinen Dienst tun. Zwar waren seine Füße bleischwer, zwar kreiste um ihn die Strecke wie die Speiche eines ungeheuren Rades, dessen Achse sein Kopf war; aber er gewann doch wenigstens Kraft, sich für einige Zeit aufrecht zu halten.“

Schließlich wird die Eisenbahnsymbolik auch auf Lene übertragen: Lene, von der für Thiel eine „unbezwingbare, unentrinnbare“ Macht ausgeht, die um ihn ein „Netz von Eisen“ legt, arbeitet auch mit der „Ausdauer einer Maschine. In bestimmten Zwischenräumen richtete sie sich auf und holte in tiefen Zügen Luft […] mit keuchender, schweißtropfender Brust.“ Wie die regelmäßigen Züge, die „milchweiße Dampfstrahlen“ hervorschießen, dringt nun auch Lene in Thiels stillen Andachtsort am Bahnwärterhäuschen ein und am Ende bringen der Zug und Lenes Unachtsamkeit Tobias den Tod.

Dass Thiel auf dem Weg zu seiner Arbeit täglich die Spree überqueren muss, steht für die Abgeschiedenheit, in der die Familie Thiel lebt. So wird deutlich, dass er seine Familien- und Arbeitswelt strikt voneinander getrennt hält. Sobald Thiel den Acker am Bahnwärter-Häuschen vom Bahnmeister überlassen bekommt und Lene ihn bewirtschaften will, findet ein Bruch statt, der Thiel nervös macht.

Hauptmann zeigt an der Figur Thiel seine Sicht des determinierten Menschen, getrieben von den Mächten der Psyche und der Sinnlichkeit.

Inhalt, mit Spoiler

Ort der Handlung ist die Umgebung von Schönschornstein, Siedlungsgebiet der Gerhart-Hauptmann-Stadt Erkner. Bereits im ersten Satz wird die Kirche von Neu Zittau erwähnt.

Bahnwärter Thiel ist ein frommer und gewissenhafter Mann, der seit zehn Jahren zuverlässig seinen Dienst erfüllt und jeden Sonntag die Kirche besucht. Ein Jahr nach dem Tod seiner ersten Frau Minna im Wochenbett heiratet er eine stämmige Magd namens Lene, damit er jemanden hat, der sein Kind während seiner Arbeitszeit betreut. Zusammen bekommen sie ein zweites Kind, dessentwegen Lene Thiels ersten Sohn Tobias vernachlässigt und misshandelt. Thiel, den eine tiefe Verehrung an seine verstorbene Frau Minna bindet, wird mehr und mehr von seiner zweiten Frau, die das neue Oberhaupt der Familie ist, vereinnahmt. Dass Lene Tobias misshandelt, wird zwar von Thiel entdeckt, er unternimmt jedoch nichts, um seinen Sohn vor seiner zweiten Frau, von der er inzwischen total abhängig ist, zu schützen. Dennoch versucht er Tobias ein guter, fürsorglicher Vater zu sein, indem er viel Zeit mit seinem Sohn verbringt und sich liebevoll um ihn kümmert.

Die angespannte Situation verändert Thiel jedoch und macht aus ihm einen verstörten Mann, der sich immer häufiger in Visionen flüchtet, in denen seine verstorbene Frau die Hauptrolle spielt. Gequält wird Thiel zudem von Gewissensbissen, da er es trotz des seiner Frau Minna gegebenen Versprechens, alles für Tobias zu tun, zulässt, dass das Kind von Lene misshandelt wird.

In seinem einsamen Wärterhäuschen im Wald an der Bahnstrecke Berlin-Frankfurt (Oder) verliert er sich zunehmend in nächtliche Anbetungen an seine Minna, was allmählich krankhafte Züge annimmt. In einer dieser Visionen erscheint ihm ein Bild seiner toten Frau, die sich über den Bahndamm wandelnd von ihm abwendet und etwas in Tücher Gewickeltes mit sich trägt. Seine Seele ist voller Scham über die erniedrigende Duldung seines jetzigen Lebens. Nach Dienstende kann er es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, und scheinbar sind die quälenden Bilder beim Anblick seines rotwangigen Sohnes wieder verschwunden.

Beim Bahnwärterhäuschen wird Thiel ein Stück Acker überlassen. Lene beschließt, den Acker beim nächsten Tagdienst Thiels umzugraben und dort Kartoffeln zu pflanzen. Das Eindringen seiner zweiten Frau in einen Bereich, der mit seinem Beruf zu tun hat, und ihm bisher allein gehörte, ist Thiel gar nicht recht. Da sich sein Sohn Tobias jedoch über den bevorstehenden Ausflug zum Arbeitsplatz des Vaters freut, erhebt Thiel keinen Einspruch gegenüber den Plänen seiner Frau. Dies führt schließlich zur Umsetzung ihres Willens. Zusammen zieht die Familie los. Zunächst tritt Thiel einen Spaziergang mit seinem Sohn an, obwohl Lene dagegen ist, da jemand auf das zweite Kind aufpassen muss. Tobias kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus und ist verblüfft über die Arbeit seines Vaters. In ihm erwachen Träume, später Bahnmeister zu werden. Am Nachmittag tritt Thiel seinen Dienst an, während Lene die Kartoffeln setzt. Auf seine Mahnung, Tobias zu beaufsichtigen, reagiert sie nur mit einem Schulterzucken.

Ein Schnellzug ist gemeldet, braust heran, gibt aber plötzlich Notsignale und bremst. Thiel ist bestürzt und rennt zur Unglücksstelle. Tobias wurde vom Zug erfasst. Zwar noch atmend, aber mit gebrochenen Gliedern wird der Junge auf eine Trage gelegt und zur nächsten Station gebracht. Wie betäubt geht Thiel zurück an seine Arbeit. Er hat wieder Visionen, stolpert die Gleise entlang und redet mit seiner unsichtbaren Frau, verspricht ihr, sich zu rächen. Schreiend meldet sich der zurückgebliebene Säugling. Thiel beginnt ihn in rasender Wut zu würgen, aber die Signalglocke reißt ihn aus seinem Wahnsinn. Ein Zug, der Arbeiter transportiert, bringt den toten Tobias zurück, ihm folgt die verweinte Lene. Thiel bricht bewusstlos zusammen, wird von zwei Arbeitern nach Hause getragen und in sein Bett gelegt. Lene sorgt sich aufopferungsvoll um ihren Gatten. Beunruhigt, aber erschöpft, schläft auch sie ein. Einige Stunden später bringen die Arbeiter Tobias’ Leichnam von der Unfallstelle nach Hause. Sie entdecken die Frau erschlagen und den Säugling mit durchschnittener Kehle. Thiel hat beide ermordet. Der Bahnwärter wird später an der Stelle auf den Gleisen sitzend aufgefunden, wo sein Sohn überfahren worden ist. In den Händen hält er dessen Mütze. Nach vergeblichem Zureden müssen mehrere Männer Thiel, der die ganze Zeit über die Mütze seines verstorbenen Sohnes streichelt, gewaltsam von den Gleisen entfernen. Er wird zunächst in ein Untersuchungsgefängnis nach Berlin und noch am selben Tag schließlich in die Irrenabteilung der Charité eingeliefert. Bei sich trägt er die Mütze seines verstorbenen Sohnes, die dieser am Unfallort verloren hatte, und hütet sie wie seinen Augapfel.

 

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Bahnwärter Thiel ist eine novellistische Studie von Gerhart Hauptmann. Die im Jahr 1887 entstandene Erzählung erschien im Jahr 1888.

Weiterführend

Regelmäßig wird im Zusammenhang mit der Novelle die von Paul Heyse formulierte „Falkentheorie“ angeführt, die die Kategorien der Silhouette (Konzentration auf das Grundmotiv im Handlungsverlauf) und des Falken (Dingsymbol für das jeweilige Problem der Novelle) als novellentypisch benennt. Photo: Ph. Oelwein

In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Dieser Ausschnitt verzichtet bewußt auf die Breite des Epischen, es genügten dem Novellisten ein Modell, eine Miniatur oder eine Vignette. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, daß sie in einem Zug zu lesen sei. Und schon kommen wir ins Schwimmen. Als Gattung läßt sie sich nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. KUNO postuliert, daß viele dieser Nebenarbeiten bedeutende Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur sind, wir belegen diese mit dem Rückgriff auf die Klassiker dieses Genres und stellen in diesem Jahr alte und neue Texte vor um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.