Von der Physiognomie

Vorbemerkung der Redaktion: In seinem Essai „Von der Physiognomie“ schildert Michel de Montaigne seine Erfahrungen mit der Pest. Gemeinsam mit KUNO hat er den doppelten Blick auf die Seuche: den medizinischen und den sowohl moralistischen wie moralischen.

Fast alle unsere Meinungen haben wir auf Autorität und guten Glauben angenommen. Dabei ist kein Übel. In unserm schwachen Jahrhunderte können wir keine schlechtere Wahl treffen, als wenn wir solche durch uns selbst bestimmen. Den Abdruck der Reden des Sokrates, welchen uns seine Freunde hinterlassen haben, billigen wir bloß aus Ehrfurcht gegen den allgemeinen Beifall. Wir wissen nur darum, aber wir bedienen uns derselben nicht. Wenn etwas dieser Art heutzutage ans Licht käme, so würden sich wenige Menschen finden, die solches mit ihrem Beifall beehrten. Wir achten nichts für Anmut, was nicht künstlich zugespitzt, aufgeschwollen und aufgedunsen ist. Was unter natürlicher Einfalt und Schönheit dahinschlüpft, entwischt zu leicht einem so groben Gesicht wie das unsrige. Die Grazien haben eine zarte, verborgene Schönheit; es bedarf eines reinen, hellen Gesichtes, um ihren geheimen Strahl zu entdecken. Ihre natürliche Unbefangenheit gilt unsern Begriffen für eine Schwester der Plumpheit, für eine tadelnswürdige Eigenschaft. Sokrates bewegt seine Seele nach einer natürlichen, ungekünstelten Bewegung. Wie er, würde ein Bauer sprechen, ein Weib. Er führt nichts im Munde als Kutscher, Tischler, Schuhflicker und Maurer. Es sind Erfahrungssätze, Gleichnisse, die er aus ganz gemeinen und bekannten Handlungen der Menschen abzieht. Jedermann versteht sie. Wir hätten niemals unter so alltäglicher Gestalt die Erhabenheit und den Glanz seiner bewunderungswürdigen Begriffe gelegt; da wir alles für platt und gemein halten, was die Gelehrsamkeit nicht erhebt, da wir nichts für erhaben annehmen, was nicht in prächtiger Gestalt erscheint. Unsere Welt ist nur für das Aufgeschaut! gemacht. Unsere Menschen sind nur vom Winde angefüllt und werden nur wie Windbälle durch Stöße in die Höhe getrieben. Sokrates hält sich nicht bei eiteln Träumereien auf. Sein Zweck war, uns Lehren und Vorschriften zu geben, welche dem Leben wesentlich und im Zusammenhange Dienste leisten.

Servare modum, finemque tenere,

Naturamque sequi.1

Auch war er beständig ein und derselbe Mann und stimmte sich nicht sprungweise zum höchsten Punkt der Kraft, sondern war so von Hause aus; oder um besser zu sagen, stimmte sich nie in die Höhe, sondern zog alles auf seine ursprüngliche und natürliche Stimmung herab und unterwarf sich jeder Schwierigkeit und jeder Höhe. Beim Cato hingegen sieht man klar, daß es ein über alle gewöhnliche Weise angespannter Gang ist. Bei den wackern Taten seines Lebens und bei seinem Tode erblickt man ihn immer auf dem großen Pferd. Sokrates aber bleibt immer an der Erde. Mit gleichem sanften und gewöhnlichen Schritt behandelt er die wichtigsten Gegenstände der Philosophie und beträgt sich im Tode und in den stärksten Widerwärtigen des Lebens mit gleicher Fassung.

Es ist mit Recht geschehen, daß der Mann, welcher am würdigsten war, bekannt zu sein und der Welt zum Beispiel dargestellt zu werden, derjenige ist, von welchem wir die zuverlässigste Nachricht haben. Er ward von den hellsehendsten Menschen, die jemals waren, beleuchtet. Die Zeugnisse, welche wir von ihm haben, sind vortrefflich, sowohl in Ansehung der Treue als der Eigentümlichkeit. Es ist eine eigene Sache, daß er der Einbildung eines Kindes diese Wendung hat geben können, daß solche, ohne sie zu verrücken oder zu spannen, zu den herrlichsten Wirkungen der Seele hinleiten. Er stellt solche weder erhaben noch von außerordentlichen Kräften dar; er läßt solche nicht anders sehen als gesund, aber freilich von einer kräftigen und ungeschwächten Gesundheit. Durch solche gemeinen und natürlichen Triebfedern wußte er, ohne große Anstrengung und sichtbare Bemühungen, nicht nur die natürlichsten, sondern selbst die erhabensten und richtigsten Begriffe hervorzulocken und die reinsten und vortrefflichsten Handlungen und Sitten, welche man jemals gekannt hat, hervorzuziehen. Er war es, welcher die menschliche Weisheit, welche im Himmel nichts zu tun hatte, wieder auf die Erde zurückführte und den Menschen wiedergab, bei welchen ihr wahrstes und mühsamstes Streben seinen Platz hat. Man sehe nur, wie Sokrates sich vor seinen Richtern verteidigt, sehe, durch welche Gründe er seinen Mut gegen die Wagnisse des Krieges ermuntert; mit was für Gründen er seine Geduld gegen Verleumdung, Tyrannei, Tod und selbst gegen seine zänkische Xantippe zu stärken weiß. Nichts ist dabei von der Kunst oder Gelehrsamkeit entlehnt. Die einfältigsten Menschen erkennen darin ihre Mittel und ihre Kräfte. Es ist nicht möglich, daß man weiter zurückgehen oder tiefer heruntersteigen könne. Er hat der menschlichen Natur dadurch viel Ehre erwiesen, daß er gezeigt, zu wie vielem sie durch sich allein fähig sei.

Wir sind alle viel weniger, als wir glauben; aber man gewöhnt uns, von Borg und Betteln zu leben; man verwöhnt uns, uns mehr durch andere helfen zu lassen, als selbst zu helfen. Fast kein Mensch versteht, beim nahen Ziel seiner Bedürfnisse stillezustehn. Bei Wollust, Reichtum und Macht sackt er immer mehr auf, als er mit seinen Kräften tragen kann. Seine Gierigkeit ist keiner Mäßigung fähig. Bei der Wißbegierde finde ich es ebenso. Man setzt sich weit mehr Arbeit vor, als man auszurichten vermag und nötig hätte, indem man den Genuß des Wissens so weit ausdehnt, als dessen Stoff reicht: Ut omnium rerum, sic litterarum quoque, intemperantia laboramus.2 Und Tacitus hat recht, die Mutter des Agricola darüber zu preisen, daß sie die zu heftige Wißbegierde ihres Sohnes gezügelt habe.

Wenn man das Wissen mit geradem Blick betrachtet, so ist es ein Vorzug, welcher, wie alle Vorzüge der Menschen, viel Eitelkeit und viel natürliche und eigentümliche Schwachheit bei sich führt und teuer zu stehen kommt. Sein Einkauf ist viel gewagter als der Einkauf jeder andern Speise oder jedes andern Getränks. Denn wenn wir anderwärts etwas eingekauft haben, so bringen wir es in irgendeinem Gefäß nach Hause, und da haben wir das Recht, seinen Wert zu untersuchen, wieviel und zu welcher Stunde wir davon Gebrauch machen wollen. Aber vom Wissen können wir von Stund an nichts in ein ander Gefäß legen als in unsere Seele; wir verschlingen es in dem Augenblick, wo wir es kaufen; und gehen entweder genährt oder vergiftet nach Hause. Es gibt darunter einiges, welches nichts weiter tut, als uns den Magen zu überladen, anstatt uns gesunde Nahrung zu geben, und anderes, welches anstatt Heilmittel zu sein, uns vergiftet. Ich habe meine Lust daran gehabt, an einigen Orten Menschen zu sehen, welche aus Andacht an gewissen Orten das Gelübde der Unwissenheit taten, wie man das Gelübde der Keuschheit, Armut und Buße ablegte. Es ist auch gewissermaßen ein Art, unsere unordentlichen Begierden zu kastrieren, wenn man uns dieses Gieren, das uns zum Lesen der Bücher anspornt, legt, und der Seele dieses behagliche Gelüsten benimmt, welches sie wegen ihrer hohen Meinung von den Wissenschaften kitzelt; und es heißt, das Gelübde der Armut aufs kräftigste erfüllen, wenn man auch die Armut des Geistes darunter versteht. Wir brauchen wenig Gelehrsamkeit, um ganz gemächlich zu leben. Und Sokrates lehrt uns solche in uns selbst aufsuchen und uns derselben bedienen. All unser Wissen, welches über die Natur hinausgeht, ist ziemlichermaßen unnütz und überflüssig, und es ist schon viel, wenn es uns nicht verwirrt und mehr lästig ist, als es dient. Paucis opus est litteris ad mentem bonam.3 Es sind Fieberanwallungen unseres Geistes und nichtstaugende Pfuschwerkzeuge. Faßt euch nur recht, ihr werdet in euch selbst die natürlichen Trostgründe gegen den Tod finden, welche wahr und am geeignetsten sind, euch ihrer zu bedienen, sobald die Not eintritt. Es sind ebendie Gründe, welche einen Landmann, ja ganze Völker ebenso standhaft sterben lassen als einen Philosophen. Wäre ich weniger gelassen gestorben, bevor ich die tuskulanischen Unterredungen des Cicero gelesen hätte? Ich meine, nein! Und, wenn ich ein wenig in mich zurückgehe, so finde ich, daß meine Sprache reicher geworden ist, aber mein Herz nicht stärker. Dies ist noch ebenso, wie mir es die Natur gegeben hat. Es möchte sich in diesem Kampf gern mit einem sichern Schild decken und findet doch keinen bessern, als den jedermann besitzt. Die Bücher haben mir nicht sowohl zur Belehrung als zur Übung gedient. Wie, wenn die Wissenschaft, indem sie uns mit neuen Schutzwaffen gegen die natürlichen Widerwärtigkeiten zu schirmen sucht, dadurch ihre Bilder größer und fürchterlicher machte als die Gründe und Spitzfindigkeiten, welche sie denselben entgegensetzt? Es sind wahrhaftig Spitzfindigkeiten, wodurch sie uns zuweilen ganz unnützerweise aufschreckt. Die weisesten und behutsamsten Schriftsteller lassen hier und da einen wahren Grund zur Tröstung und Stärkung fallen; aber mit vollen Händen säen sie eine Menge anderer aus, welche sehr leicht und, in der Nähe besehen, völlig taub sind. Es sind Silbenstechereien, die uns hintergehen. Aber weil sie doch einigen Nutzen haben können, so will ich sie hier nicht weiter aufdecken. Es gibt hienieden der Dinge von dieser Beschaffenheit genug, und an manchem Orte entweder erborgte oder nachgeahmte. Dennoch muß man ein wenig auf seiner Hut sein, daß man nicht stark nenne, was bloß Gewandtheit, nicht dicht, was nur zugespitzt, oder gut, was bloß schön ist: Quae magis gustata, quam potata, delectant.4 Nicht alles ist nahrhaft, was wohlschmeckt: Ubi non ingenii, sed animi negotium agitur.5

Wenn ich die Mühe betrachte, welche Seneca sich gibt, um sich auf den Tod vorzubereiten, seinen sauern Schweiß um sich zu steifen und sich so lange an dieser schmalen Stange festzuklammern und sich zu wehren, so hätte ich seinen Ruhm angegriffen, wenn er es im Sterben nicht wacker ausgefochten hätte. Seine flammende, so oft wiederkehrende Unruhe zeigt, daß er selbst hitzig und heftig war. Magnus animus remissius loquitur, et securius … Non est alius ingenio, alius animo color.6

Sein Sieg kostet ihm und zeigt einigermaßen, daß ihm sein Gegner viel zu schaffen machte. Die Art und Weise des Plutarch ist nach meiner Meinung männlicher und überzeugender, weil sie gelassener und ruhiger ist. Ich möchte fast dafür halten, daß seine Seele eine festere und gesetztere Art sich zu bewegen gehabt habe. Der erste ist schärfer, stachelt und weckt uns plötzlich aus dem Schlaf und wirkt mehr auf den Geist. Der andere ist gesetzter, belehrt, befestigt und stärkt uns ohne Unterlaß und wirkt mehr auf den Verstand. Jener entreißt unsern Beifall, dieser erwirbt sich solchen. Ebenso habe ich auch andere Schriften gesehen, die in noch höherer Achtung stehen, welche in der Schilderung, die sie uns von dem Kampf geben, den sie gegen den Pfahl im Fleisch führen, solchen so heftig, stark und unüberwindlich darstellen, daß wir, die wir nur zum Haufen des Volks gehören, ebensoviel an der unbekannten Heftigkeit ihrer Versuchungen zu bewundern haben als an ihrem Widerstand.

Was wollen wir denn damit, daß wir Hilfe und Beistand in den Kräften der Wissenschaften suchen. Laßt uns unsern Blick auf die Erde werfen. Auf die armen Menschen, welche wir darauf vorbereitet sehen, den Kopf niedergesenkt nach ihrem Bedürfnis, welche weder etwas vom Aristoteles noch Cato, weder von Beispielen noch von Vorschriften wissen. Aus diesen zieht die Natur täglich Wirkungen der Beständigkeit und der Geduld, welche reiner sind und kräftiger als diejenigen, welche wir so emsig in den Schulen der Philosophen studieren. Wie viele sehe ich gewöhnlich unter ihnen, welche die Armut verkennen? Wie viele, welche sich den Tod wünschen oder solchen ohne Schrecken und Traurigkeit hinnehmen? Der Mann, welcher meinen Garten umgräbt, hat diesen Morgen seinen Vater oder seinen Sohn begraben. Die Namen selbst, womit sie die Krankheiten belegen, mildern und mindern ihre Bitterkeit. Die Lungensucht heißt bei ihnen Husten, die Ruhr Durchfall, das Seitenstechen Erkältung; und so sanft der Name ist, womit sie solche benennen, so sanftmütig erdulden sie solche. Ihre Krankheiten müssen sehr schwer sein, wenn sie ihre gewöhnlichen Arbeiten unterbrechen sollen. Sie werden nicht eher bettlägerig, als um zu sterben: Simplex illa et aperta virtus in obscuram et solertem scientiam versa est.7

Ich schrieb dieses um die Zeit, als eine schwere Last unserer Unruhen mir verschiedene Monate lang senkrecht auf dem Halse lag. Von der einen Seite hatte ich die Feinde vor meiner Tür, von der andern Seite eine Menge Troßbuben, welches die ärgsten Feinde sind: Non armis, sed vitiis certatur8, und hatte demnach alle Arten von Kriegslasten zu tragen:

Hostis adest dextra laevaque a parte timendus,

Vicinoque malo terret utrumque latus.9

O des ungeheuren Krieges! Andere Kriege wirken auswärts, dieser gegen sich selbst, zerfleischt und zerstört sich durch sein eigenes Gift. Er ist von einer so bösartigen, verheerenden Natur, daß er sich selbst mit allen übrigen aufreibt und durch seine Wut zerfleischt. Wir sehen ihn öfter durch sich selbst zerstört als durch den Mangel an irgendeinem notwendigen Bedürfnis oder durch die Stärke des Feindes. Alle Mannszucht ist daraus verbannt. Er soll den Aufruhr dämpfen und ist selbst voller Aufruhr; will den Ungehorsam strafen und gibt davon das Beispiel; wird zur Verteidigung der Gesetze geführt und ist offenbare Rebellion gegen seine eigenen. Wohin ist es mit uns gekommen? Unsere Arznei befördert die Ansteckung.

Bösartiger nur wird der Schaden,

den wir mit Öl und Balsam baden.

Exsuperat magis, aegrescitque medendo.10

Omnia fanda, nefanda, malo permixta furore,

Justificam nobis mentem avertere deorum.11

Bei Volksseuchen kann man anfänglich noch die Gesunden von den Kranken unterscheiden. Wenn solche aber erst langwierig werden wie die unsrige, so greifen sie den ganzen Staatskörper an, sowohl das Haupt als die Fersen. Kein Teil bleibt befreit; von der Fäulnis. Denn keine Luft haucht sich so mit vollen Zügen ein, verbreitet sich so schnell und allgemein als die Zügellosigkeit. Unsere Heere hängen nur noch durch fremden Kitt zusammen. Aus Franzosen kann man kein beständiges, regelmäßiges Heer zusammenbringen. Welche Schande! Man sieht keine andere Mannszucht vorwalten als die, welche uns die erborgten Truppen zeigen. Die unsrigen betragen sich nach Willkür und gehorchen keinem Oberhaupt, sondern jeder tut, was ihm gut deucht. Wir haben mehr innere Feinde zu bekämpfen als auswärtige. Der Befehlshaber muß folgen, schmeicheln und nachgeben. An ihm allein ist die Reihe zu gehorchen; alles übrige ist frei und ungebunden. Es ist mir nicht unlieb zu sehen, wieviel Niederträchtigkeit und Schwäche mit dem Ehrgeiz verbunden ist, durch wieviel Erniedrigungen und Sklaverei er zu seinem Ziel gelangen muß. Aber das tut mir sehr leid, wenn ich sehe, daß solche Menschen, die der Billigkeit und Gerechtigkeit fähig sind, sich von Tag zu Tag verschlechtern, indem sie diesen Greuel der Verwüstung verwalten und anführen. Langes Leiden erzeugt Gewohnheit, Gewohnheit Beifall und Nachahmung. Wir hatten der schlechten Seelen von Haus aus schon genug, ohne noch die guten und großmütigen zu verderben. Wenn das noch lange so fortgeht, so wird schwerlich jemand übrigbleiben, dem man die Gesundheit des Staates anvertrauen könnte, im Fall, das Glück uns solche wiedergeschenkt:

Hunc saltem everso juvenem succurrere seclo

Ne prohibete.12

Was ist aus der alten Lehre geworden, daß die Soldaten mehr ihren Befehlshaber als den Feind zu fürchten haben? Aus dem bewundernswürdigen Beispiel, nach welchem sich im Umfang eines römischen Lagers ein Apfelbaum eingeschlossen befand, und des folgenden Tages, als das Heer wieder aufbrach, der Eigentümer die Äpfel auf seinem Baum, so reif und wohlschmeckend sie auch waren, alle wohlgezählt wiederfand. Ich möchte wohl, daß unsere Jugend, anstatt daß sie ihre Zeit auf minder nützliche Reisen verwendet und weniger ehrenvolle Lehrjahre zubringt, die Hälfte derselben dazu gebrauchte, einen Seekrieg unter einem guten Kommandeur der Rhodeserritter mitzumachen, und die andere Hälfte, die Mannszucht unter dem türkischen Heer zu erlernen. Denn diese hat viel Eigenes und manchen Vorzug vor der unsrigen. Folgendes gehört dazu:

Unsere Soldaten werden im Kriege viel zügelloser, dort vorsichtiger und behutsamer. Denn die kleinen Diebstähle und Neckereien, die an dem geringen Mann begangen und zu Friedenszeiten mit Stockschlägen bestraft werden, gelten für Hauptverbrechen zu Kriegszeiten. Für ein Ei, das ohne Bezahlung genommen worden, ist die festgesetzte Strafe fünfzig Prügel. Für jeden andern Diebstahl, wäre das Entwendete auch noch so gering, sobald es nicht zur Nahrung nötig ist, wird der Verbrecher auf einen Pfahl gespießt oder enthauptet, und zwar auf der Stelle. Ich erstaunte, in der Geschichte Selims, des grausamsten Eroberers, der jemals gelebt hatte, zu finden, daß, als er sich Ägypten unterwarf, die schönen Gärten um die Stadt Damaskus, welche ganz offen und in einem eroberten Lande und noch dazu auf dem nämlichen Fleck standen, woselbst sein Heer das Lager aufgeschlagen hatte, völlig wohlbehalten blieben, weil den Soldaten kein Zeichen zum Plündern gegeben worden war.

Aber gibt es irgendein Übel in einer Staatseinrichtung, welches mit einer so tödlichen Arznei bekämpft zu werden verdient? Nein, antwortete Favonius, nicht einmal die gewalträuberische Besitznehmung der Obermacht in einem Freistaat. Plato gleichfalls will nicht zugeben, daß man der Ruhe seines Landes Gewalt antue, um es zu heilen, und verwirft jede Verbesserung, die alles verwirrt und aufs Spiel setzt und das Blut und den Untergang der Bürger kostet, indem er die Pflicht eines redlichen Mannes in diesem Falle darin sieht, alles seinen Weg gehen zu lassen und bloß Gott zu bitten, daß er auf eine außerordentliche Weise zu Hilfe kommen möge. – Auch scheint er es seinem großen Freund Dion keinen Dank zu wissen, daß er ein wenig anders zu Werke gegangen sei. Ich war von dieser Seite schon ein Platoniker, bevor ich noch wußte, daß ein Plato in der Welt gewesen. Soll aber dieser Mann so ganz reinweg aus unserer Gemeinschaft ausgeschlossen bleiben; er, dem wegen der Aufrichtigkeit seines Gewissens die göttliche Gnade widerfuhr, durch die herrschende Finsternis über die Welt seiner Zeit solche tiefe Blicke in das christliche Licht zu tun, so denke ich doch nicht, daß es uns wohl kleide, uns von einem Heiden belehren zu lassen, wie gottlos es sei, von Gott gar keine eigene Hilfe zu erwarten, ohne daß wir unsere Hände dabei mit im Spiele hätten. Ich vermute oft, daß unter so vielen Leuten, die sich in ein solches Geschäft mischen, sich mancher von so blödem Verstand befinden mag, den man in allem Ernst überredete, er arbeite an der Wiederherstellung durch die allerscheußlichste Entstellung; er bewirke seine Seligkeit durch die ausgemachtesten Schritte zu sicherer Verdammnis, und wenn er alle gute Polizei, Obrigkeit und Gesetze übern Haufen werfe, unter deren Vormundschaft ihn Gott gesetzt hat, wenn er mit menschenfeindlichem Haß Brüderherzen anfällt und Teufel und Furien zu Hilfe ruft, so unterstütze er dadurch die allerheiligste Liebe und Gerechtigkeit des göttlichen Gesetzes. Die Ehrsucht, der Geldgeiz, die Grausamkeit, die Rachsucht haben an ihrer eigenen und natürlichen Heftigkeit noch nicht genug; laßt uns solche noch aufreizen und in Flammen setzen unter dem herrlichen Namen Gerechtigkeit und Frömmigkeit. Man kann sich keinen schlimmeren Zustand der Sache denken als da, wo Büberei zu Recht wird und mit obrigkeitlicher Bewilligung den Mantel der Tugend trägt: Nihil in speciem fallacius, quam prava religio, ubi deorum numen praetenditur sceleribus.13 Die höchste Art von Ungerechtigkeit besteht nach dem Plato darin, wenn das, was Unrecht ist, für Recht gehalten wird.

Das Volk litt damals schon sehr schwer, nicht bloß von gegenwärtigen Übeln,

Undique totis

Usque adeo turbatur agris14,

sondern auch von zukünftigen. Die Lebenden hatten ihre Leiden, auch diejenigen, welche noch nicht geboren waren. Man stahl ihm, und folglich auch mir, alles bis auf die Hoffnung, indem man uns alles das nahm, wovon wir auf lange Jahre leben wollten:

Quae nequeunt secum ferre aut abducere, perdunt;

Et cremat insontes turba scelesta casas.15

Muris nulla fides, squalent populatibus agri.16

Außer diesem Stoß erlitt ich noch andre. Ich geriet in die Fährlichkeiten, welche in solchen Krankheiten die Mäßigung herbeizuführen pflegt Ich ward von allen Händen gezwickt. Den Gibellinen war ich ein Welf und den Welfen war ich ein Gibellin. Einer von meinen Dichtern drückt das sehr gut aus, ich weiß nur die Stelle nicht aufzufinden. Die Lage meines Hauses und die Bekanntschaft mit den Männern aus meiner Nachbarschaft stellten mich dar mit einem Gesicht; mein Leben und meine Handlungen mit einem andern. Förmliche Anklagen kamen nicht vor; denn man fand nichts, worauf man hätte fußen können. Ich setze nie die Gesetze aus den Augen, und wer mich belangte, hätte seinen Mann an mir gefunden. Es waren heimliche Bezichtigungen, welche so unter der Hand herumliefen, denen es in einem solchen Wirrwarr niemals am Schein fehlt, sowenig wie an einfältigen oder neidischen Menschen. Ich pflege solchem leidigen Argwohn, welchen man gegen mich ausstreut, immer ein wenig zu Hilfe zu kommen, durch die Weise, die ich von Jugend auf an mir habe, mich niemals zu rechtfertigen, zu entschuldigen oder zu verteidigen; weil ich dafürhalte, ich träte meinem Gewissen zu nahe, wenn ich es vor Gericht verteidigte: Perpicuitas enim argumentatione elevatur.17 Und gleichsam als ob ein jeder mich ebenso hell durchschaute als ich selbst, trete ich der Anschuldigung näher, anstatt sie von mir zu entfernen, und treibe sie fast noch höher durch ein ironisches, spöttelndes Bekenntnis. Es sei denn, daß ich kurz und gut schwiege als über eine Sache, die keiner Beantwortung wert ist. Aber diejenigen, welche das für ein zu stolzes Vertrauen erklären, wollen mir deswegen nicht weniger übel als diejenigen, welche es für die Schwachheit einer kranken Sache halten. Vorzüglich die Großen, bei welchen das Vergehen gegen die Untertänigkeit das ärgste Vergehen ist. Hart sind sie gegen alles, was anerkanntermaßen gerecht ist, sich fühlt und nicht kriechend, demütig und flehend erscheint. An diesem Pfeiler habe ich mir oft den Kopf zerstoßen. Soviel ist gewiß, daß sich ein Ehrgeiziger über Dinge, die mir begegnet sind, gehängt hätte, und ein Geldgeiziger ebensowohl. Ich verwende nicht die geringste Sorge aufs Reichwerden:

Sit mihi, quod nunc est, etiam minus; et mihi vivam

Quod superest aevi, si quid superesse volunt di.18

Aller Schaden und Verlust, welche mir durch die Bosheit anderer zugefügt werden, sei es Dieberei oder andere Gewalttätigkeit, tun mir weh wie einem Mann, der von der Krankheit des Geizes geplagt wird. Die Beleidigung tut mir ungleich weher als der Verlust. Tausend verschiedene Arten von Übeln fallen auf mich wie ein dicker Traufregen; ich hätte sie lieber als Schlagregen ertragen.

Ich dachte schon darauf, wem unter meinen Freunden ich mein dürftiges, verlassenes Alter anvertrauen könnte. Nachdem ich die Augen nach allen Seiten herumgerichtet hatte, sah ich mich im Kamisole ohne Ärmel. Um sich so aus der Höhe wie ein Stein herabzustürzen, muß man von starken, kräftigen und begüterten Armen aufgefangen werden. Aber wenn’s auch dergleichen Arme gibt, so sind sie wenigstens selten. Kurz, ich lernte einsehen, das Sicherste wäre, mich auf mich selbst und auf meine eigenen dürftigen Kräfte zu verlassen; und wenn es mir begegnen sollte, daß mir das Glück eine kalte, schiefe Miene machte, müßte ich mich am dringendsten mir selbst empfehlen, mich an mich selbst heften, um mit eigenen Augen für mich zu sehen. Bei allen Gelegenheiten klammern sich die Menschen an fremde Stäbe, um ihre eigenen zu sparen, die doch allein gewiß sind und allein stark, wenn man sich ihrer nur zu bedienen weiß. Jedermann läuft aus seinem Hause fort und in die Zukunft hinein, weil hoch niemand daheim bei sich eingewohnt ist. Und ich überzeugte mich, daß es heilsame Widerwärtigkeiten gäbe: erstlich, weil man die Schüler mit dem Haselmeier aufmerksam machen muß, wenn bloße Vernunftgründe nicht hinreichen wollen, wie wir durch Feuer und Keile das krumme Holz geradebeugen. Ich predige mir schon seit langer Zeit, daß ich nur von mir abhänge und mich von fremden Dingen absondern müsse; und bei alledem schiele ich noch immer seitwärts. Das Wohlwollen, das günstige Wort eines Großen, eine freundliche Miene führen mich in Versuchung. Gott weiß, ob dergleichen in unsern Zeiten teure Ware ist und was für ein Sinn dahintersteckt! Ich höre noch, ohne daß ich deswegen die Stirn runzele, die glatten Worte, womit man mich bestechen will, um mich um Börsenpreis zu haben; und ich weigere mich so jungfräulich, daß es scheint, als ob ich nur ein bißchen genötigt sein wollte. Aber einen so ungelehrigen Geist muß man unter der Gerte halten, und ein Gefäß, das so zerlechzt ist, muß man mit Reifen umlegen und mit wackern Böttcherhämmern zusammentreiben, damit es nicht ferner riesele und spille. Zweitens dienen solche Zufälle mir als Übung, um mich auf etwas Ärgeres vorzubereiten, wenn ich etwa, da ich durch mein gutes Geschick und durch den Gehalt meiner Sitten einer der letzten zu sein hoffte, einer der ersten wäre, den das Schicksal an der Krause faßte. Darum muß ich beizeiten lernen, mein Leben zusammenzunehmen und es auf einen neuen Zustand bereitzuhalten. Die wahre Freiheit besteht darin, daß man alles über sich selbst vermag: Potentissimus est, qui se habet in potestate.19

In Alltags- und Schlendrianszeiten bereitet man sich auf mäßige und gemeine Zufälle. In diesem Wirrwarr aber, worin wir uns seit dreißig Jahren befinden, sieht sich ein jeder Franke, sei es für seine eigene Person oder sei es im Ganzen genommen, zu jeder Stunde und Minute auf dem Punkt, wo sein ganzes Glück über den Haufen fällt. Deshalb muß man darauf bedacht sein, seinem Herzen stärkere Stützen als Rohrstäbe in die Hände zu geben. Laß es uns dem Schicksal Dank wissen, daß es uns in eine Zeit versetzt hat, welche nichts weniger ist als weichlich, schmachtend oder untätig. Dabei wird es Menschen geben, die nur durch ihr Unglück berühmt werden und es sonst auf keine Art geworden wären. So wie ich selten in der Geschichte dergleichen Gewühle von andern Städten lese, ohne zu bedauern, daß ich’s nicht in der Nähe habe ansehen können, ebenso macht meine Neugier, daß ich mich gewissermaßen damit brüste, das sonderbare Schauspiel unseres Staatstodes, seine Anzeichen und seine Form als Zuschauer zu erleben. Da ich solchen doch nun einmal nicht hindern kann, so ist mir’s lieb, dazu ausersehen zu sein, daß ich’s mit ansehen und mich daran erbauen soll. So wie wir ganz erweislich suchen, selbst aus dem Schatten und der Fabel der Schaubühne ein Bild der tragischen Begebenheiten des menschlichen Schicksals zu beobachten. Wir sind nicht ohne Mitleid bei dem, was wir sehen und hören. Aber es macht uns doch angenehme Empfindungen, unser Mitleid durch die sonderbare Katastrophe aufgeregt und ins Spiel gesetzt zu sehen. Nichts kitzelt, was nicht die Haut kratzt. Die guten Historiker fliehen wie ein totes Meer und wie ein faules Wasser die ruhigen, schläfrigen Erzählungen, um wieder auf Aufruhr, Krieg und Pest zu kommen, wovon sie wissen, daß wir sie gern hören. Ich zweifle, ob ich mit Anstand gestehen darf, wie wenig Ruhe und Gemächlichkeit meines Lebens mir es kostet, mehr als die Hälfte desselben im Jammer und Elend meines Vaterlandes hingebracht zu haben. Meine Geduld ist fast ein wenig zu wohlfeil erkauft, in Ansehung der Zufälle, die mich selbst betreffen. Ehe ich mich selbst beklage, sehe ich nicht so sehr auf das, was man mir nimmt, als auf das, was man mir von innen und außen übrigläßt. Es ist eine Art von Trost dabei, bald das eine Übel, bald das andere, so wie sie uns überkommen, zu bestehen und zu sehen, wie sie sich über andere verbreiten. Ebenso geht’s in dem, was das Allgemeine betrifft. In ebendem Maße, wie meine Teilnehmung mehr verbreitet wird, wird sie schwächer. Dazu kommt die halbe Wahrheit: tantum ex publicis malis sentimus, quantum ad privatas res pertinet20, und die Gesundheit, von der wir ausgingen, war von der Beschaffenheit, daß sie selbst das Bedauern mildert, welches wir über sie empfinden sollten. Es war Gesundheit, aber nur in Vergleichung mit der Krankheit, welche darauf erfolgte. Wir sind aus keiner großen Höhe herabgestürzt. Das Verderben und die Räuberei, welche in Amt und Würden stehen, scheinen mir das Unerträglichste zu sein. Man bestiehlt uns weniger kränkend in einem Wald als an einem sicheren Ort. Es war eine allgemeine Zusammensetzung von Gliedern, wovon eins noch krebsartiger war als das andere, und so verdorben, anbrüchig und voller alten Geschwüre, daß sie keine Genesung mehr hoffen konnten[291] noch wünschten. Dieser Einsturz also belebte mich mehr, als er mich niederschlug. Mein Gewissen befand sich nicht nur friedlich und ruhig, sondern sogar stolz dabei, und ich empfand nichts, worüber ich mich selbst anzuklagen gehabt hätte. Also, wie Gott dem Menschen niemals mehr Übel zuschickt als reines Gutes, so habe ich mich in meiner Gesundheit zu jener Zeit mehr als gewöhnlich wohlbefunden; und wie ich ohne dieselbe nur wenig vermag, so gibt es wenig Dinge, die ich mit ihr nicht vermögen sollte. Sie gab mir Kräfte, alle meine Fähigkeiten zusammenzuraffen und die Hand an die Wunde zu legen, die sonst leicht größer hätte werden können, und ich erfuhr, daß ich in meiner Geduld etwas hätte, wodurch ich den Schlägen des Glückes widerstehen könnte, und daß eine große Kraft dazu gehörte, um mich aus dem Sattel zu werfen. Ich sage es nicht deswegen, um das Glück aufzureizen, seine Lanze mit mehr Nachdruck gegen mich anzulegen. Ich bin vielmehr sein gehorsamer Diener und biete ihm freundschaftlich die Hand. Laß es sich in Gottes Namen damit befriedigen, daß ich seine Stöße fühle! Laß es damit gut sein! So wie diejenigen, die sich von Traurigkeit übermannt fühlen, sich gleichwohl von Zeit zu Zeit durch ein kleines Vergnügen beschleichen und ein kleines Lächeln abgewinnen lassen, so vermag ich es auch über mich, meinen gewöhnlichen Zustand friedlich, ruhig und von kummervollen Gedan ken frei zu machen. Bei alledem aber überrasche ich doch zuweilen bei mir die Bisse solcher unangenehmen Gedanken, die mich derweile überstürmen, daß ich mich bewaffne, sie zu bekämpfen und zu verjagen.

Aber nun fügte sich noch ein anderes, bedeutenderes Übel als Zugabe zu den übrigen, und außer und in meinem Hause ward ich von einer Pest angegriffen, die im Vergleich mit allen übrigen sehr heftig war. Denn wie gesunde Körper den schwersten Krankheiten unterworfen sind, weil sie nur von diesen niedergeworfen werden können, so war auch die Luft meiner Gegend sehr gesund, und solange man denken konnte, hatte keine ansteckende Seuche, so nahe sie auch kam, Fuß fassen können. Da aber die Luft einmal angesteckt worden, tat sie ganz sonderbare Wirkungen.

Mixta senum et iuvenum densentur funera; nullum

Saeva caput Proserpina fugit.21

Ich mußte die niederdrückende Lage erdulden, daß mir die Ansicht meines Hauses zum Scheusal wurde. Alles, was darin enthalten war, befand sich ohne alle Aufsicht und stand jedem zu Gebot, der dazu Lust hatte. Bei aller meiner Gastfreundschaft wurde es mir sehr schwer, einen Zufluchtsort zu finden für eine zerstreute Familie, die ihren Freunden und sich selbst Furcht und Schrecken einjagte, wo sie unterzukommen suchte und alsobald ihren Aufenthalt verändern mußte, wie nur einer von dem Haufen begann zu klagen, daß ihm eine Fingerspitze weh täte. Alle Krankheiten werden in solchen Zeiten für Pest gehalten, und man gibt sich nicht die Mühe, sie zu untersuchen. Das Hübsche dabei ist noch, daß man nach den Regeln der Kunst bei jeder Gefahr, der man sich nähert, vierzig Tage in Angst vor der Seuche leben muß, während welcher Zeit die Einbildung uns nach ihrer Weise behandelt und die Gesundheit selbst zum Fieber macht. Doch alles dieses hätte mir nicht so viel getan, hätte ich mich nicht um den Zustand und das Elend anderer zu bekümmern gehabt und hätte ich nicht sechs Monate lang jämmerlicherweise der Führer dieser Karawane sein müssen. Denn für mich habe ich mein Vorbeugungsmittel immer zur Hand. Es sind Mut, Entschlossenheit und Geduld. Ängstliche Erwartung, welche bei diesem Übel am schädlichsten gehalten wird, ist eben mein Fehler nicht. Hätte es mich allein betroffen, so würde ich es wie eine schnelle, weittragende Flucht betrachtet haben. Diese Todesart scheint mir keine der schlimmsten zu sein. Sie ist gewöhnlich kurz, betäubend, schmerzlos und hat den Trost, daß es ein allgemein eingerissenes Übel ist; sie verfährt ohne[293] Zeremonien, ohne Trauer, ohne viel Umstehende. In Rücksicht aber auf die Nachbarn kann sich der hundertste Teil der Seelen kaum davor retten:

Videas desertaque regna

Pastorum, et longe saltus lateque vacantes.22

Mein bestes Einkommen besteht auf diesem Gut in Land und Feldbau, und die Arbeit von hundert Menschen ruht auf lange Zeit.

Aber was sahen wir damals für Beispiele von Entschlossenheit unter der Herzenseinfalt des ganzen Volkes! Durchgängig entsagte alles der Sorge für das Leben. Die Trauben blieben am Weinstock hängen, obgleich der Weinbau die hauptsächlichste Nahrung des Landes ist, alle durcheinander bereiteten sich auf den Tod, den sie heute abend oder morgen früh erwarteten, mit einer so wenig erschrockenen Miene und Stimme, daß es schien, als wären sie mit dieser Notwendigkeit völlig einverstanden und hielten solche für ein allgemeines, unvermeidliches Schicksal. Das ist der Tod nun freilich allemal. Aber an wie schwachen Fäden hängt der Entschluß zu sterben? Die Entfernung und der Abstand einiger Stunden, die bloße Betrachtung der Gesellschaft stellt uns den Tod unter verschiedenen Gestalten dar. Die Leute hier, weil sie innerhalb eines Monats Kinder, Jünglinge und Greise sterben sehen, stutzen nicht mehr, beweinen sich nicht mehr. Ich sah einige, welche sich fürchteten, zurückzubleiben, wie in einer fürchterlichen Einöde, und gewöhnlich hatte ich nichts anderes zu tun, als fürs Begraben zu sorgen. Es tat ihnen weh, die Leichen auf dem Felde herum zerstreut liegen zu sehen als eine Beute wilder Tiere, welche sich zusehends vermehrten. Wie sich doch die Phantasien der Menschen durchkreuzen! Die Neoriten, eine Nation, welche Alexander besiegte, werfen die Leichen ihrer Verstorbenen in den ersten besten Wald, um daselbst gefressen zu werden; und dieses hielten sie für die einzige glückliche Art des Begrabens. In unserer Gegend grub sich einer schon sein Grab, wenn er noch frisch und gesund war. Andere legten sich noch bei Leibesleben hinein, und einer von meinen Tagelöhnern kratzte mit Händen und Füßen im Sterben begriffen die Erde auf sich. Heißt das nicht die Bettvorhänge zuziehen, um desto ruhiger zu schlafen? Hat es nicht an Größe etwas Ähnliches mit der Tat der römischen Soldaten, die man nach der Schlacht bei Cannä fand, welche Löcher in die Erde gegraben, ihre Köpfe hineingesteckt und mit ihren Händen ausgegrabene Erde über sich geschüttet hatten, um darin zu ersticken? Kurz, eine ganze Nation ward innerhalb kurzer Zeit durch Gewohnheit zu einem Benehmen gebracht, welches an Festigkeit keiner kühnen Entschlossenheit etwas nachgibt, die mit aller möglichen Überlegung gefaßt werden könnte.

Die meisten Anweisungen der Gelehrsamkeit, um uns Herz zu machen, haben mehr Schein als Kraft und mehr Zierde als Nutzen. Wir haben die Natur verlassen und wollen sie nun ihre Lektion lehren. Die Natur, die uns so glücklich und sicher leitete. Unterdessen finden sich noch die Spuren ihrer Anweisung, und das wenige, welches durch die wohltätige Unwissenheit von ihrem Bilde übrig ist, drückt sich ab in dem Leben dieses bäurischen Haufens ungesitteter Menschen. Die Gelehrsamkeit ist genötigt, täglich davon zu borgen, um ihren Schülern Muster der Standhaftigkeit, der Unschuld und Beruhigung vorzulegen. Es ist ein schöner Anblick, zu sehen, wie diese hier, angefüllt mit so vielen schönen Kenntnissen, zur Nachahmung der dummen Einfalt ihre Zuflucht nehmen müssen, und zwar zur Nachahmung in der ersten Ausübung der Tugend. Unsere Weisheit muß sogar von den Tieren die nützlichsten Unterweisungen in den größten und notwendigsten Vorfallenheiten unsers Lebens erlernen: wie wir leben müssen und sterben, unser Vergnügen benutzen, unsere Kinder lieben und auferziehen und gegeneinander gerecht sein. Ein ganz sonderbarer Beweis von der menschlichen Schwachheit, wie auch davon, daß die Vernunft, welche wir unsererseits anwenden und welche beständig etwas anderes und Neues auffindet, bei uns keine sichtbare Spur der Natur übrigläßt. Die Menschen haben es damit gemacht wie die Verfertiger wohlriechender Öle; sie haben solche mit so vielen fremden Dingen versetzt und mit so vielen von außen entlehnten Gedanken, daß sie dadurch für einen jeden verändert und zu etwas ganz Eigenem geworden ist und ihre ursprüngliche, beständige und allgemeine Gestalt verloren hat. Wir müssen daher das Zeugnis der Tiere suchen, die keinem Vorurteil, keinem Verderben, keiner Verschiedenheit der Meinungen unterworfen sind. Denn es ist zwar wahr, daß selbst die Tiere nicht immer genau auf dem Wege der Natur wandeln, das wenige aber, was sie davon abweichen, ist so gering, daß man noch immer das Geleis wahrnehmen kann. Geradeso, wie die Pferde, welche man an der Hand führt, wohl Sprünge machen und seitwärts gehen, aber doch nicht weiter als die Leine reicht, und immer wenigstens dem Schritte desjenigen folgen, der sie führt; oder wie ein Falke seine Flucht nimmt, aber nie weiter kann, als ihm die Schnur gefeiert wird. Exsilia, tormenta, bella, morbos, naufragia meditare, … ut nullo sis malo tiro.23 Wozu dient uns die Emsigkeit, alle widerwärtigen Zufälle der menschlichen Natur im voraus zu studieren und uns mit so vieler Mühe selbst auf diejenigen vorzubereiten, die uns vielleicht nie begegnen werden? Parem passis tristitiam facit, pati posse.24 Nicht nur vor der Kugel, sondern vor dem Winde und vor dem Dunst erschrecken wir. Oder wie der Fieberkranke; denn gewiß ist’s ein Fieber, sich gleich die Stäupe geben zu lassen, weil es möglich, daß uns das Schicksal eines Tages solche fühlen läßt. Oder wie einer, der um Johanni die Wildschur umnehmen wollte, weil er solche um Weihnachten nötig haben würde! Macht Erfahrungen von allen Übeln, die euch begegnen können, besonders von den ärgsten, versucht euch darin, sagen andere, gewinnt darin Standhaftigkeit! Umgekehrt sage ich. Das leichteste und natürlichste wäre, sich solche sogar aus den Gedanken zu schlagen. Sie werden nicht sobald eintreten; ihr wahres Wesen dauert für uns nicht lange genug, wir müssen sie in unsern Gedanken ausdehnen und verlängern, schon vorderhand uns einverleiben und uns damit unterhalten. Gleichsam als ob sie unsern Sinnen nicht ohnehin schon beschwerlich genug wären. Sie werden genug drücken, wenn sie eintreten, sagt einer der Philosophen, nicht etwa von einer zarten Sekte, sondern von der härtesten. Bis dahin schmeichle dir! Glaube, was du am liebsten wünschest. Was hilft dir’s, über künftigen Übeln zu brüten, über der Furcht des Zukünftigen das Gegenwärtige zu verlieren und gleich von Stund an elend zu sein, weil du es mit der Zeit werden sollst? So sind seine Worte. Die Wissenschaft leistet uns, traun, einen guten Dienst; daß sie uns genau von der Länge und Breite der Übel unterrichtet:

… Curis acuens mortalia corda.25

 

 

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Anmerkung der Redaktion: Würde Michel de Montaigne im 21. Jahrhundert leben, so er wäre wahrscheinlich der beliebteste Blogger. Nicht nur in Frankreich. Wir kommen ihm näher, indem wir seine Essais lesen. Und zwar Wort für Wort. Oder wir nehmen einen charmanten Umweg und lesen Sarah Bakewells Wie soll ich leben?. Dies ist nicht nur der Titel ihrer ungewöhnlichen Biographie, sondern zeigt zugleicht die Methode an, mit der sich die Autorin dem Denken Montaignes nähert.

Weiterführend → Lesen Sie auch einen KUNO-Beitrag zu  Gattung des Essays.

 

 

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Fußnoten

1 Lucan II, 381: Ziel und Maße halten und folgen der Natur.

2 Seneca, Epist. 106: Wie in allen Stücken, so sind wir auch unmäßig im Studieren.

3 Seneca, Epist. 106: Ein gesunder Verstand braucht wenig Gelehrsamkeit.

4 Cicero, Tusc. disp. V, 5: Die mehr ergötzen, wenn man davon kostet, als wenn man sie genießt.

5 Seneca, Epist. 25: Wo es nicht auf Kopf, sondern auf Herz ankommt.

6 Seneca, Epist. 115, 114: Eine große Seele redet gelassen und zuversichtlich. Kopf und Herz sind aus einem Stück.

7 Seneca, Epist. 95: Jene schlichte, offene Biederkeit ist in dunkles, gekünsteltes Wissen verwandelt.

8 Seneca, Epist. 35: Man streitet nicht mit Waffen, sondern mit Lastern.

9 Ovid, De Ponto, I, 3, 57: Da steht der Feind zur Rechten und zur Linken und droht mit Unglück dir, wohin du auch dich wendest.

10 Vergil, Aen. XII, 46: Geschwollner und schmerzlicher wird er durch Heilmittel.

11 Catull, De nuptiis Pelei. V, 405: Recht in Unrecht verkehrt, und diese unselige Mordwut hat gewendet von uns der Götter gerechte Gedanken.

12 Vergil, Georg. I, 500: Wenigstens, Götter, vergönnt, daß dieser Jüngling ein Retter werde dem bösen Jahrhundert. – Es ist wohl Heinrich von Navarra, als König von Frankreich, Heinrich IV., gemeint.

13 Livius XXXIX, 16: Nichts ist so voll Trug und Falsch als mißbrauchte Religion, wo die Gottheit als Schanddeckel der Bosheit dienen soll.

14 Vergil, Eclog. I, 11: Überall wird es aus allen Gefilden verscheucht.

15 Ovid, Trist. III, 10, 65: Was sie nicht mit sich tragen und schleppen können, vernichten die Frevler und stecken schuldlose Hütten in Brand.

16 Claudian, In Eutrop. I, 244: Mauern sichern nicht mehr, ein Greuel der Verwüstung sind Fluren.

17 Cicero, De nat. deor. III, 4: Die Deutlichkeit wird durch syllogistischen Vortrag erhöht.

18 Horaz, Epist. I, 18, 107: Bleibt mir, was ich habe, auch minder, doch leb‘ ich mir selber, was ich noch habe zu leben, wenn solches die Götter mir fristen.

19 Seneca, Epist. 90: Der Großmächtigste ist, war sich selber in seiner Macht hat.

20 Livius XXX, 44: Unfälle des Gemeinwesens fühlen wir nur insofern, als sie unsre Privatinteressen betreffen.

21 Horaz, Od. I, 28, 19: Dichtgehäuft liegt Jüngling und Greis im Grabe, und Proserpina kennt kein Erbarmen.

22 Vergil, Georg. III, 476: Die Gefilde von Hirten verlassen siehst du, und ringsum den Wald verödet.

23 Seneca, Epist. 91, 107: Denke dich als Verbannten, auf der Folterbank, im Kriege, auf dem Krankenbett, als Schiffbrüchigen, damit du in keinem Unglück Lehrling seist.

24 Seneca, Epist. 74: Leiden können ist ebenso schmerzlich, als gelitten haben.

25 Vergil, Georg. I, 123: Durch Kummer schärfet sie des Menschen Herz.