Ein Brief meiner Base Schalôme

 

Im Hafen von Konstantinopel liegen goldene Boote – Sterne …. Ich bin im Palaste meines Großoheims; wir Basen aus Bagdad duften nach altem Gemäuer, wir Prinzessinnen vom Tigris tanzen mit stummen Gliedern. Und ich verstehe die Sprache der Frauen des Harems nicht. Weiß nicht, was sie veranlaßt, sich zu freuen oder sich gegenseitig zu überwerfen. Sie sprechen nicht ihre Sultanssprache: »Wir sprechen parisisch«, erklärt mir die Kleinste; ihre Haare sind rot, »chik«. Manchmal summt sie hüpfende Lieder. Ich hungere, schwebe über die bunten Mosaikbilder der Böden; ich fürchte mich vor den bösen Speisen und Getränken, die heimlich in die Frauengemächer geschafft werden. Verbotene Fleische essen sie und rote und gelbe murmelnde Getränke trinken wir, unsere Köpfe schaukeln immerzu. Auch schäme ich mich vor dem Eunuchen, seine Augen stehen vornüber, kranke Greise. Wenn ich an unsern Eunuchen denke – runde Mannakuchen sind seine Backen und seine Stimme dudelt lustig wie Gauklerflöten. Ich wollte, ich wäre wieder in Bagdad. Hier sitzt auf dem schönsten Kissen der Eunuche. Meine Tante und ihre Töchter knieen um ihn, ein Kranz von bunten Farben, sie tragen alle weite Hosen und meine alte Tante eine weite weite aus geblümtem Brokat. Mich langweilt ihr Lachen und ihre entblößten Gebärden, ich möchte ins Bad steigen, aber ich schäme mich, vor der kriechenden Stimme des Eunuchen, meinen Schleier vom Antlitz zu heben. Meine besessene Tante in der überweiten Brokathose beginnt sich zu entkleiden; neugierig folgen die anderen Frauen den Belehrungen des Eunuchen. Ein großes Buch mit grausamen Bildern breitet er auf dem Teppich hin. Seine Stimme schlängelt sich ein lüsterner Bach um die fiebernden Sinne der Frauen. Hinter dem Vorhang unter der Taube des Mohammeds, die sanfte Behüterin des Harems, stehen scharfe und zackige Gestelle, Peitschen und Pechfackeln. Meine Tanten und Basen haben mich heute Abend ganz vergessen; ich weiß nur, daß sie so spitz wie Dolchstiche durch meine Träume schreien wie Mütter, deren tote Kinder ihre Leiber zerfleischen. Ich bebe, der Eunuche ergreift eine der vielfältigen Peitschen; in Bleikugeln endet jeder Riemen; er wetzt sie einige Male wagerecht in der Luft, läßt sie dann langsam herab auf den weiten überweiten allerwertesten Vollmond meiner fiebernden Tante prallen, die ihn, ich schwöre es bei Allah, nach allen Seiten hin ihm zuwendet, mörderisch aufschreiend, kokett die Zähne zeigend. Auf dem Divan sitzen ihre Töchter; neidisch entblößen sie ihre Brüste, die blühen in gesprenkelten Goldnelken. Der Eunuche entnimmt dem Vorhang kleine spitze Nadeln. Ich schleiche auf Vieren über den Teppich aus dem Frauengemach und stehe hinter dem Fenster des Vorraums. Ich möchte in eins der kleinen Sternbote steigen, auf dem Bosporus – der Himmel ist ein einziger großer Stern.

 

 

 

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Der Prinz von Theben, ein Geschichtenbuch von Else Lasker-Schüler. Paul Cassirer, Berlin 1920

Ab 1910 wendet sich Else Lasker-Schüler allmählich von der weiblichen Erzählposition ab und lässt Jussuf – der in etwa als biblischer Joseph genommen werden kann – zu Wort kommen.Im vorliegenden ziemlich archaischen Geschichtenbuch tritt Jussuf, der titelgebende Prinz von Theben, allerdings nur in der Geschichte Abigail der Dritte auf und stirbt am Ende dieser überschaubaren Episode. Folgerichtig ist in den nachstehenden letzten drei Geschichten des Buches höchstens von dem toten Prinzen die Rede.

Die erste Geschichte – Der Scheik – und die letzte – Der Kreuzfahrer – sprechen unter anderen jeweils die Sühne zwischen den Religionen an und machen somit das restliche, zumeist schaurig-schreckliche Geschehen ein klein wenig erträglicher.

„Die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte“, sagte Gottfried Benn über Else Lasker-Schüler. Sie bewegte sich wie eine Märchenfigur durch Berlin und fiel mit ihrer exzentrischen Erscheinung auf.
Else Lasker-Schüler, geboren am 11. Februar 1869 in Elberfeld.

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Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den wichtigsten identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.