Ein Ausflug aufs Land

 

Es hatte den Reisenden in eines dieser Dörfer am Horizont getrieben; er hatte von den lärmenden Städten übergenug; über Stoppelkrume lief er, durch haushohen Ampfer.
Riesiges gelbbraun gesprenkeltes Blätterwerk schwankte an armstarken Stielen, Getier kroch ihm durchs Haar; nach der Sonne richtete er sich stolpernd, ihrem Untergang, und mit dem völligen Versinken des Sterns hatte er den nun schon in abendlicher Stille liegenden Anger erreicht, der den Dorfteich umbog, einen Tümpel eher, an dem die Kröten quarrten und auf dem Enten in Erwartung der anbrechenden Nacht schwammen, die Köpfe schon halb im Gefieder, müde vom Gründeln und Rudern.
Er ging an verriegelten Höfen vorbei, aus denen noch Hundegebell drang, Kinderschluchzen zuweilen, ein Abendgebet. Vereinzelt brummte ein Rind oder blökte ein Schaf.
Er suchte die Wirtschaft und kam bald an ein Haus, das sich verriet durch lebhaftes Licht in den Fenstern.
Und er hörte das Gemurmel der Bauern, das regelmäßige Aneinanderklacken der Seidel; trat ein, und das Gemurmel erstarb, doch schien ihn der Wirt zu erkennen und wies ihm einen Platz zu, stumm, mit einer müden Kopfbewegung.
Der Wirt zapfte ein schauderliches Bier in dieser Schenke. Aber das Gebräu beruhigte den Reisenden bald; und es war ihm angenehm, den Gesprächen der Bauern zu lauschen, nachdem er sich an ihren Dialekt gewöhnt hatte, der nur für Eingeweihte gemacht schien.
Es war gut, den Blick durch die verrauchte, aus roh gehauenem Holz gezimmerte Stube streifen zu lassen, allmählich den Sinn der Gespräche erfassen zu glauben. Der Reisende bestaunte das riesige Kummet, das, einer Tafel zufolge, dem stärksten Ochsen im Dorf gehört hatte und der in einer Zeit der Not geschlachtet und gemeinsam aufgegessen wurde, wofür dem Besitzer (und Vorsteher des Ortes) ewiger Dank gebühre.
Die Biere, die der Reisende in sich kippte, verwandelten alles, den Schankraum, die murmelnden und streitenden Bauern in buntes Gekreisel, verkleckerten Malzschaum, lebhaftes Ochsengedröhne … und bald, bevor er über seinen Tisch gebeugt einschlief, sah sich der Reisende als einen der lautesten und vorgeblich klügsten Zänker um das heurige Grummt der verschiedenen Wiesen und Höfe.
Als der Reisende erwachte, lag er an seinem Tisch, zwischen zerbrochenen Seideln, von fettigem, klebrigem Staub bedeckt, in der Wirtschaft. Die wenigen tief verhärmten und gealterten Leute vor dem Schenkengebäude musterten ihn wie einen Fremden, nicht aber wie den, als er hergekommen war. Die Fenster der Wirtschaft waren vernagelt, ein verblichenes Schild kündete immer noch der Schließung der Schenke. Angst beschlich den Reisenden und die Ahnung, sich schnell entfernen zu müssen; nur weg!, dachte er und der möglicherweise zwanzig oder fünfzig Jahre, die er geschlafen haben musste. Und er stahl sich davon, ohne, wen auch hätte er ansprechen können, nach seiner Zechschuld zu fragen, die er mit seinem verfallenen Geld womöglich nicht hätte begleichen können. Aber seine Flucht kam zu spät, denn als er in plötzlicher Panik zu laufen begann, durch das Spalier der Alten, an zerfallenen Häusern vorbei, dem ausgetrockneten Teich; als er zu laufen begann, übertrat er den in golden schreiender Helle liegenden Horizont und fiel gegen die Sonne in eine unbeschreibliche, unstillbare Weite; aus dem Gesichtfeld der staunenden, befremdeten Greise immer hinfort.

 

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André Schinkel, porträtiert von Jürgen Bauer

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