Wie der tote Hase mir das Leben erklärt

 

Ein Hase liegt quer über dem Weg, der zwei Felder voneinander trennt. Am Hals hat er eine klaffende Wunde, vielleicht hineingebissen von einem Fuchs. Das Rot vom frischen Blut erscheint in dieser Umgebung übertrieben und viel zu grell. Wie lässt sich die Schreckreaktion bei seinem Anblick beschreiben? Dieses Wesen ist plötzlich von allen Möglichkeiten des Lebens beraubt! Er liegt da, wie eine um 90 Grad gekippte Fotografie, ein Schnappschuss von seinem rasanten Sprint durch den Weizen, eingefroren zu einem Standbild. Eben noch voller geheimnisvoller Eindrücke, Gerüche, Geräusche, mit pochendem Herzen, voller Lust auf mehr. Ob er gekämpft hat? Die Stellung seiner Pfoten ist so anmutig und graziös wie die Armhaltung der Mona Lisa.

Ich gehe vorüber, weil ich es kann.

Am nächsten Tag verharrt er noch an gleicher Stelle, allerdings fehlt sein Kopf. Auch gibt es verschiedene Stellen an seinem Körper, die aufgerissen sind und Inneres preisgeben. Einer seiner langen Hinterläufe liegt einen Meter von ihm entfernt. Die elegante Haltung seiner Vorderpfoten ist geblieben. Ihm haftet noch immer eine Menge Leben an. Der Schrecken bei seinem Anblick ist weiterhin sehr groß.

Wohl über Nacht haben sich die Maden seiner bemächtigt. Es wimmelt eifrig und gefräßig in seinem schlanken Körper. Ganz sicher ist es nicht sein freier Wille, der jenen Gästen eine temporäre Heimstatt bietet. Der üble Geruch scheint von Natur aus dazu angetan, zu neugierige Flaneure zu vertreiben. Dem gebe ich gern nach, will das Gesehene am liebsten ungesehen machen. Ob es den Tieren hier rundum ebenfalls so geht?

Jetzt, nach ungefähr einer Woche, ist etwas Eigenartiges geschehen: Der Hasenleichnam erinnert in keiner Weise noch an sein lebendiges Spiegelbild! Der Schrecken ist fort. Was dort liegt, ist nurmehr Material. Verschiedene Baustoffe, die einmal ein funktionierendes Ganzes ergaben. Oder nun einfach bloß noch Fressen sind. Der Unterkörper mit dem einen verbliebenen Hinterlauf ist verschwunden. Die Pfoten sind entfaltet und liegen hoch erhoben parallel zueinander. Es ist die Geste der Kapitulation, das endgültige Aufgeben des Lebendigen. Der Tod ist von nun an des Hasens neuer Wegbereiter, der die Details des endlich unbestrittenen Vertrags bestimmt.

 

 

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Photo: Martin Schneider

Weiterführend → Mehr über die Hungertuchpreisträgerin Katja Butt.

Die Dokumentation des Hungertuchpreises ist in der erweiterten Taschenbuchausgabe erschienen:  Twitteratur, Genese einer Literaturgattung. Herausgegeben von Matthias Hagedorn, Edition Das Labor 2019.

ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur. Und ein Recap des Hungertuchpreises.