Fehler machen, leicht gemacht

 

Man, das ist ärgerlich, denkt Herr Nipp. Das ist es wirklich. Richtig ärgerlich, aber ganz ehrlich mal, da konntest du doch wirklich nichts dafür, würde ein tröstender Freund jetzt wahrscheinlich sagen, doch der ist gerade beileibe nicht zur Hand. Um jedoch zu verstehen, warum er sich so ärgert, sollte kurz erläutert werden, worum es eigentlich geht. Herr Nipp nennt ja ganz stolz ein Auto sein eigen, in dem man zu Notzwecken oder in Notzeiten leidlich bequem schlafen kann, egal ob alleine, zu zweit oder gar zu dritt. Manchmal fährt er damit durch das Land, das er liebt, egal ob in die nördlichen Städte, ja einmal war er sogar überredeter Weise am Meer, oder in dem südlichen Teil der Republik. Dann stellt er den Wagen an einer stillen Ecke oder auf einem öffentlichen Campingplatz ab und übernachtet dort. Wenn er was sehen oder erleben will, fährt er weiter, parkt irgendwo wie jeder andere Autofahrer auch und macht seine Spaziergänge oder Wanderungen. Das ist sehr praktisch, weil er sich so ohne viel Aufhebens vom Alltag verabschieden kann. Wohnmobile sind ihm dafür erstens zu umständlich und zweitens viel zu teuer. Außerdem kann man die meist nicht einfach irgendwo parken. Sie werden dann doch eher misstrauisch beäugt. Ein Handwerkerauto interessiert dagegen niemanden, es sei denn, er fährt in seiner Heimatstadt nachts um halb drei herum, da kann es dann schon einmal passieren, dass ihn junge Polizisten anhalten, die dieses Auto noch nicht kennen. Dieses Mal also hat er sich in die Berge abgesetzt. Auf einem winzigen Waldparkplatz, durch Bäume verdeckt, steht es sich sogar recht idyllisch. Am Abend vorher hatte er eine Einladung ins Restaurant nicht ausschlagen können, schon alleine, weil er dran war zu bezahlen. Ein gutes Essen. Blattsalat, welches in dieser Stube als Unkraut tituliert wurde, mit Kernen, Nüsschen und einer unglaublich gelungenen Essigsauce. Er hatte ein dazu passendes Bier getrunken, auch das gut. Und als das Gegenüber Apfelstrudel mit Eis bestellte, gönnte sich unser Herr Nipp einen „Capuccino“, der es in sich hatte. Die beiden Blutsverwandten unterhielten sich noch lange und trennten sich irgendwann um 0 Uhr herum. Herr Nipp putzte sich unter der Heckklappe die Zähne, schlüpfte aus den Sachen und kuschelte sich in die warme Oberdecke, die sonst zu Hause auch gerne im Bett liegt. Alles gut soweit, ok, der Wagen stand etwas schief, sodass er sich diagonal auf der Schlaffläche platzieren musste. Das jedoch ist vertretbar, wenn niemand weiteres dort liegt. Verwerflich wäre es nur, wenn weitere Personen in dieser Situation versuchten, irgendwie auf schiefer Ebene in den Schlaf zu kommen. Man stelle sich nur einmal vor, was dann passiert, von Prellungen, Beschwerden und Geschrei bis zu schwerwiegenden Wutausbrüchen ist da alles denkbar. Das muss ja wirklich nicht sein. Dann gibt es den nächsten Tag sicher auch noch Stress und monatelang Vorwürfe wegen etwaiger blauer Flecken am Oberschenkel oder im Rücken. Als er die beste denkbare Lagerung erreicht hatte, drehte er sich ganz gemütlich auf die rechte Seite und erwartete den heraufziehenden Schlaf. Nichts. Kein heraufziehender Schlaf. Nicht einmal eine Ahnung davon. Plötzlich und erwartbar nach dem Kaffeegetränk ist die angestaute Müdigkeit verschwunden, als sei sie für Körper und Geist nur ein neumodisches und damit unverständliches Fremdwort. So. Er lag also da, es begann zu regnen. Wer schon einmal unter Bäumen geparkt hat, der weiß, wie laut die riesigen Tropfen auf dem Blech aufschlagen. Es klingt wie Gewehrschüsse über einem Wiesental. Lawinengerumpel. Koffein und Regen also. Verheerende Kombination, wenn der Schlaf im Auto gesucht wird. Herr Nipp konnte es nicht, zwar lag er da mit geschlossenen Augen, aber das hatte nichts zu sagen. Immer wieder schien es Gebiete auf den Bäumen zu geben, wo sich größere Wassermengen sammelten, nur um mit vereinter Kraft laute Aufschläge auf dem Blech herbeizuführen. Und man bedenke hier, nicht im regelmäßigen Rhythmus, das kann man ja gerade noch aushalten. Fast schon etwas boshaft. Ähnliche unrhythmisch wie einige der Frühwerke der Einstürzenden Neubauten. Herr Nipp musste an diverse Folgen von Doctor Who denken, in denen solche ungewöhnlichen Ereignisse durchaus verheerende Folgen zeitigen konnten, angefangen von der Ankunft oder dem Angriff der gefürchteten Daleks bis hin zu seltsamen Echsenwesen oder gar zu den weinenden Engeln. So etwas sollte sich wirklich niemand ausmalen, der gerade in einem alten Gemäuer schläft oder nur durch eine hauchdünne Blechwand von der Wildnis getrennt ist. Nachts. Bei einem stürmischen Gewitter auch noch. Was da so alles passieren kann, man hat ja einiges gehört. So dachte er sich in seinem Kampf mit dem Kopfkissen allerhand andere Geschichten aus, die sich mehr und mehr zu einem veritablen Roman oder einer Fernsehserie verdichteten. Ablenkung pur. Eine durchaus vermarktbare Story, wie der moderne Mensch so schön sagt. Potentiale steckten in diesen potemkinschen Dörfern, die er sich dahindämmernd ausmalte. Eine eigene Welt mit eigenen Gesetzen. Distelmeyer würde sagen, eine eigene Geschichte mit eigener Moral. So verbrachte er gefühlt Stunden. Minute um Minuten. Jede Sekunde erleiden. Nur wer solches selber schon mitgemacht hat, weiß darum, wie es ist, dann doch die Gnade des Schlafes zu finden. Zwar nur leichten Schlafes natürlich, durchsetzt mit fieberhaften Träumen natürlich, immer durchbrochen von kurzem Aufschrecken natürlich. Ganze Staffeln neuer Fernsehserien hatte er sich diese Nacht erträumt, eine krude Mischung aus Thriller, Geschichtsepos und Fantasy mit Anklängen von Science Fiction und Splatter, Horror natürlich, auch die Liebe und Anflüge von Erotik fehlten dabei nicht. Sicher kam auch ein Arzt dabei vor, vielleicht ein Anwalt und auf jeden Fall ein gebrochener Superheld. Irgendjemand musste mit einem Rollstuhl durch die Szene rollen und sicher kamen auch alle anderen Erscheinungen und Spezifiken irgendwie und irgendwann vor. Probleme gesellschaftlicher, persönlicher Natur durchsetzt von einer unglaublich spannenden Geschichte, der er immer weiter folgen wollte. Das Ganze durchsetzt von wissenschaftlichen Erklärungsversuchen äußerst seriöser Experten. Wer so langweilig ist, wie Herr Nipp nun einmal bewiesenermaßen, der gebiert im Schlaf der Vernunft Monster. Jetzt liegt er da auf seinem Lager, ist gerade richtig aufgewacht, gerädert und ärgert sich, dass er den Plot nicht zumindest aufgeschrieben hat.

 

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Guppy im Gin, weitere Geschichten von Herrn Nipp. Edition Das Labor 2020

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421