die aura als punctum

 

den text »F. ist sehr visuell veranlagt« ihres buchs »Das Pünktchen trägt Strümpfe«, dessen prosaminiaturen aus träumen entstanden, kann man auf joanna lisiak selbst beziehen: »F. ist sehr visuell veranlagt. Wie eine Spinne fasst sie die Dinge in ihr Augennetz, nimmt sie unter die Lupe, benennt vor ihr sich klar abzeichnende Gefüge, findet passende Adjektive. Wenn es etwas zu sehen gibt, sie sieht es, fokussiert läßt sie den Blick darauf ruhen, zoomt heran, dreht es in ihren Gedanken und Händen, hält es in günstige Lichtverhältnisse, will mehr erfahren, möchte tasten, wissen.« sie ist eine literarische wahrnehmungskünstlerin.

träume sind kreative gaben. wer träumt, zapft unbewußtes an. in der sprache der träume werden zeichen, deren lebensrealen sinn wir aus der außenwelt kennen, zu symbolen des seelenlebens, wie in der lyrik. die unterschiedlichsten motive und gegenstände entfernter lebensbereiche können innerhalb eines traums nebeneinander stehen oder nacheinander folgen oder sich, vielfach mit rasanter handlungsdynamik, miteinander verbinden und vermischen, weil ihre logik, die einem assoziativen prinzip folgt, auf etwas verweist, das nicht durch die gesetze der äußeren realität bestimmt ist und worin die allgemeinen regeln von raum und zeit nicht gelten, so daß sich der träumende gegenüber realen orten, zeiten, verhältnissen und personen emanzipieren kann.

träume scheinen, indem sie geläufige kausalitäten durch paradoxien umformen und umkehren, zu sagen, sie seien nicht normal. man findet in ihnen überraschende abweichungen vom gemeinhin erwarteten, die manches anders sehen lassen. »Jede Verkehrung scheint auf dem Weg zu einer Epiphanie.«, meinte michel foucault. novalis schrieb: »Der Traum ist eine Schutzwehr gegen die Regelmäßigkeit und Gewöhnlichkeit des Lebens, eine freie Erholung der gebundenen Phantasie, wo sie alle Bilder des Lebens durcheinander wirft und die beständige Ernsthaftigkeit des erwachsenen Menschen durch ein fröhliches Kinderspiel unterbricht; ohne die Träume würden wir gewiß früher alt, und so kann man den Traum, wenn auch nicht unmittelbar von oben gegeben, doch als eine köstliche Aufgabe, als einen freundlichen Begleiter auf der Wallfahrt zum Grabe betrachten.« auch hierin gleicht der traum der kunst.

psychoanalytiker, zuerst sigmund freud, die latente trauminhalte freilegen, nannten originelle metaphern in träumen, die durch verschiebung, verfremdung, verdichtung und andeutung zugleich verdrängen und offenbaren, teils verschleiert, maskiert, entstellt und absurd. dabei enthalten sie das eigentlich schöpferische am traum. im manifesten traum werden tiefen des seelenlebens zur oberfläche. dichter und künstler wollen träume weniger analysieren und vielmehr unvergeistigt unbefangen kreativ nutzen, was unbewußt selbsttherapeutisch wirken kann. denn träume haben, wie künstlerische arbeit, selbstheilende kräfte, die den träumer verjüngen und sein leben verlängern können. vielleicht sind wir allein beim träumen frei, das utopische partikel wie funken freisetzt, und jede andere freiheit bleibt zwangsläufig illusion. außerdem entspannen träume verhärtete seelische und psychische strukturen, wie massagen die muskeln. experimente haben ergeben, daß jeder mensch durchschnittlich zwei stunden pro nacht träumt. womöglich träumen manche hunde, die bei gewitter heulen und sich verkriechen, therapeutisch von blitz und donner. georg christoph lichtenberg notierte: »Vielleicht hat ein Hund kurz vor dem Einschlafen, oder ein betrunkener Elefant Ideen, die eines Magisters der Philosophie nicht unwürdig wären.«

träume leben von ihrer bildsprache, die besonders lyriker, maler, grafiker und filmregisseure anregt, die das wirkliche verwandeln und gegenwelten schaffen. der kreative mensch erfindet traumhaft. bildwelten der träume sind mit denen von mythen, religionen, mystik, alchemie, märchen und sagen verwandt, die wie sie ihre motive auf pfaden, die uns meist dunkel bleiben, aus geheimnisvollen sphären holen. wer ein gespür für formen und gefüge hat, die sich wandeln, sieht nicht nur, was er kennt, sondern ebenso das ungeahnte.  

auch c.g. jungs archetypen, oder urbilder, des kollektiven unbewußten, deren ursprünge mindestens bis in die jungsteinzeit zurückreichen, sind hier als unbewußt wirkendes autonomes kulturelles erbe mitzudenken. manche träume haben, wie märchen, etwas rituelles, also beschwörendes. zahlreiche rituale, die oft auf instinkte zurückgehn, stellen archetypen dar. jung schrieb: »Der Traum ist eine kleine verborgene Tür, die in die Urgründe der kosmischen Nacht führt.«, »Wer nach außen schaut, träumt, wer nach innen schaut, erwacht.«, »In allem Chaos ist Kosmos und in aller Unordnung geheime Ordnung.«, »Bedeutung hat nur das Unverständliche.«, »Gerade das zunächst Unerwartete, das beängstigend Chaotische enthüllt tiefen Sinn.« und »Fürchte nicht das Chaos, denn im Chaos wird das Neue geboren.«

am anfang des buches stehen notizen zu bruchstückhaften träumen, die zeigen, wie schwer träume zu fassen sind und wie verwirrend sie sein können. »Kein außergewöhnlicher Traum eigentlich. Aber zum ersten Mal habe ich heute nebst meinen visuellen, haptischen, akustischen Träumen nun auch gustatorisch geträumt.«, also geschmacklich. wer häufiger akustisch träumt, was allgemein seltener geschieht, hat allfällig eine tiefe beziehung zur musik und nimmt geräusche intensiver wahr. in träumen wird wenig gesprochen. jean paul erklärte, der innere mensch habe mehr augen als ohren. einige der aus träumen entstandenen texte enthalten szenen, die lebensreal geschehen sein könnten, zugleich aber unwirklich oder überwirklich wirken. außerdem hat joanna lisiak klarträume, wo der träumer weiß, daß er träumt, oder es ihm im traum bewußt wird. ich hatte träume, bei denen ich, typisch kopfmensch, schon im traum das traumgeschehen zu deuten begann oder mehrere ausgänge eines traums träumte.

manche texte von joanna lisiak ähneln einer episode, die ich kürzlich erlebte. ich lief auf dem bürgersteig hinter einem mann, der seinen jungen hund, höchstens einige wochen alt, ausführte. plötzlich blieb der hund stehen, setzte sich und verweigerte das weitergehen. vor ihm stand ein handwagen mit gartengeräten, aus dem eine hacke herausragte. der hund sah das und erkannte: »Das Hacketier ist gefährlich.« erst nach mehrfachem zureden und in großem bogen um den handwagen herum ging er weiter.

träume können auch unangenehmes und bedrohliches enthalten. manche menschen erzählen daher ihre träume nicht. andere berichten vom geträumten und ahnen nicht, daß sie ihre innersten wünsche und ängste offenbaren. »Es gibt viel mehr Menschen, die Angst vor dem Unbewußten haben, als man erwarten würde.«, bemerkte jung. joanna lisiak will ihre träume aus literarischen gründen nicht durch deutung zerlegen. »Wir neigen wahrscheinlich in viel zu hohem Maße zur Überschätzung des bewußten Charakters auch der intellektuellen und künstlerischen Produktion.«, ermahnte selbst sigmund freud. bei erich fromm heißt es: »Viele Träume haben die Qualität eines Mythos oder einer Kurzgeschichte.« heiner müller wußte: »Im Traum ist jeder ein Genie, und dem jagt man nach.«, »Die ganze Anstrengung des Schreibens ist, die Qualität der eigenen Träume zu erreichen, auch die Unabhängigkeit von Interpretation.« und: »Wenn ich weiß, wer ich bin, habe ich keinen Grund mehr, zu existieren, weiterzumachen, zu schreiben oder sonst was zu tun.« ich als rezensent neige mehr zur traumdeutung und kulturgeschichtlichen einordnung der träume als die autorin in ihren traumtexten.

viele träume und traumszenen sind in ihren handlungen bewegungsintensiv. »im treppenhaus« rasen tüten mit rädern und motoren durch ein theaterstück. in »Eilig läuft sie« lesen wir: »Eilig läuft sie die Treppe hinunter, doch zu spät. Der Zug ist soeben abgefahren. Auf einer der letzten Stufen stehend, schaut sie dem fahrenden Ungetüm nach. Wie einem Liebhaber blickt sie dem Zug hinterher. Ihr Blick ist offen. Sie sieht hübsch aus. So wunderhübsch sieht sie aus. Hübsch in der besonderen Art, wie sie nur einem davonfahrenden Zug hinterherschauen kann.«

bahnfahrt, flug, film und traum sind aufgrund ihrer beschleunigungen vergleichbar. träume, womit ich hier erneut die manifesten trauminhalte meine, hatten lange vor den industriellen jahrhunderten, und ehe es eisenbahnen, autos, flugzeuge und raumschiffe gab, ein modernes tempo. indem sie bildsprache und geschwindigkeit verbinden, gingen sie filmen voraus. sie überwinden in sekundenschnelle große zeiten und räume. oder sie brechen ab wie filmszenen. und sie waren bereits vor dem farbfilm farbig. zum buch gehört das cover-bild »Im Regenbogen« von mariola lisiak mit violetten farben. violett ist symbolisch ambivalent, eine farbe zwischen lebensenergien und todesnähe, individualität und einsamkeit, kreativität und melancholie.

franz kafka war vom, insbesondere expressionistischen, film beeinflußt. in seinen erzählungen und romanen gibt es rasante bildfolgen und perspektivwechsel, schnelle und kurze schnitte, sequenzstrukturen, gestische und mimische sprache und nuancierte bewegungswahrnehmungen. indem der filmschnitt und die filmische bewegung lebenswelten und figuren im film fragmentieren und zersplittern, entspricht der film moderner lebensformen. ich entdecke in filmen überdies ähnlichkeiten mit der dynamik und verknappten sprache bei heinrich von kleist, der 100 jahre später geboren wahrscheinlich der erste der expressionistischen dichter geworden wäre.

von empathie lebendigem gegenüber spricht »Als er beginnt«. »Als er beginnt mit dem Vogel, einer Blaumeise, zu sprechen, der sich im Netz verheddert hat, wird er ganz ruhig. Zunächst beruhigt sich nur der Vogel, aber allmählich sieht man deutlich; auch er wird sanft. Die Bewegungen werden zen-artig, der Puls geht langsamer. Seelenruhe tritt ein. Er nimmt einen tiefen Atemzug und spürt den Beginn einer neuen Ära auf sich zukommen.«, für die er initiiert wird, damit der moment immer wieder neu auflebt.

ich denke hier an die anekdote »Der Star von Segringen« bei johann peter hebel. dort bringt ein barbier, also friseur, seinem zahmen star allerlei sprüche bei, so »Ich bin der Barbier von Segringen.«, »par Compagnie.« (»in Gesellschaft mit andern.«), »wie Gott will.«, »So, so, la, la« oder »du Tolpatsch!«. eines tages entfliegt der star durchs offene fenster und folgt einer schar vögel, die einem vogelfänger ins garn geraten. »Als der Vogelsteller kommt, und sieht, was er für einen großen Fang getan hat, nimmt er einen Vogel nach dem andern behutsam heraus, dreht ihm den Hals um und wirft ihn auf den Boden. Als er aber die mörderischen Finger wieder nach einem Gefangenen ausstreckte, und denkt an nichts, schrie der Gefangene: „Ich bin der Barbier von Segringen.“ Als wenn er wüßte, was ihn retten muß. Der Vogelsteller erschrak anfänglich, als wenn es hier nicht mit rechten Dingen zuginge, nachher aber, als er sich erholt hatte, konnte er kaum vor Lachen zu Atem kommen; und als er sagte: „Ei Hansel, hier hätt ich dich nicht gesucht, wie kommst du in meine Schlinge?“ da antwortet der Hansel: „par Compagnie.“ Also brachte der Vogelsteller den Star seinem Herrn wieder, und bekam ein gutes Fanggeld.« ich beobachtete einmal auf einem laubengang, daß eine junge blaumeise einen an der wand angebrachten farbenfrohen künstlichen papagei umflog und ihm zusang, wie wenn sie kontakt aufnehmen wollte.

sigurd hört im »Fafnirlied« der »Älteren Edda« sieben weissagende meisen, deren gespräche er versteht, miteinander sprechen, die vergangenheit, gegenwart und zukunft kennen und ihm lebensrat geben und den weg weisen. im mittelalter sagte man, wer eine meise töte, falle bei gott mit leib und seele in ungnade. in deutschland, österreich und der schweiz hat sich die vorstellung, das töten einer meise, etwa von blaumeisen, für das teils die todesstrafe angedroht wurde, sei ein großer frevel, lange erhalten. zahlreiche rechtsvorschriften stellten meisen unter schutz, so, nachdem man die religiösen gründe dafür vergessen hatte, mit der begründung, daß sie ungeziefer vertilgen. auch das heutige füttern der meisen kann noch eine nachfolgeform des religiös motivierten respekts vor der meisen sein.

fliegen und schweben gehören zu den traumtätigkeiten. der magische flug ist ein seelenflug. joanna lisiak schreibt: »Ich kann neuerdings mit einem Besen herumfliegen. Irgendwann hatte ich den Dreh raus und man kann mir dieses Talent nun nicht mehr absprechen. Einen Besen brauche ich für mein Fliegen nicht. Mein Besen kann alles sein, was ich zum Besen erküre: ein Buch, ein Teller, ein großer Mantel.« das erinnert an den hexenflug. die vermeintlichen hexen sollen auch auf ofenrohren, ofengabeln, ofenbesen, backtrögen, backschaufeln, heugabeln, zauberstühlen, spinnrädern, butterfässern, kochlöffeln, stöcken, strohhalmen, ziegenböcken, füchsen, pferden, katzen, kröten und geflügelten schlangen geflogen sein.

flugvisionen wurden durch flugsalben, teufelssalben oder hexensalben genannt, hervorgerufen. oft hat man solche salben, so der glaube, auf geheiß des teufels hergestellt oder der teufel selbst gab sie den hexen. damit bestrichen sie sich dann, wie schon im altertum, so bei lukian von samosata, berichtet, entweder den gesamten körper oder nur einzelne stellen, besonders gesicht, schläfen und hände, oder die fluggeräte. ohne rauschmittel nimmt traumhaft wahr, wer über ein gespür dafür verfügt.

tiermotive findet man vielfach bei joanna lisiak. tiere sind die prägnantesten verkörperungen der menschen. »Eine Katze verfolgt uns« erzählt: »Manche von uns werden selbst zu Katern. Wenn der darstellende Kater einem von uns die Nase anstupst, wissen alle, dass der angestupste Kater entweder ein Mensch ist oder der angestupste Mensch eigentlich ein Kater ist.«, in »U. kauft sich eine Kuh« heißt es: »Die Kuh ist sehr schön und grün. Sie ist bewachsen mit einem saftigen Feldsalat. Man könnte die Kuh scheren und daraus unzählige Salate bekommen«. lichtenberg notierte: »Die menschliche Haut ist ein Boden, worauf Haare wachsen; mich wunderts, daß man noch kein Mittel ausfindig gemacht hat, ihn mit Wolle zu besähen, um die Leute zu scheren.« wer paradox denken kann, hat manchmal ähnliche einfälle. »P. ist in den Ferien.« mahnt: »Im Fluss kann man Schmuck fischen. Man muß aber acht geben, keine Schlangen zu erwischen, die aussehen wie Perlenketten.« assoziationen, die ähnlichkeiten erkennen lassen, können auch vor gefahren warnen.

im text »Eine Party« sitzt die traumfigur mit einem hirschkäfer, der die symbolsprache kennt, in einer umkleidekabine: »Er macht eine schöne Grätsche, um mir zu gefallen. Ich kommuniziere mit dem Tier mithilfe eines Grashalms. Ich forme den Grashalm und das Hirschtier versteht, was ich meine. Einmal allerdings forme ich aus dem Grashalm ein etwas zerzaustes Gebilde und das Hirschlein erschrickt. Sein kleines Herz pocht laut, sodass ich es hören kann. Ich habe ein schlechtes Gewissen und meine Mutter tadelt mich deswegen.« die nonverbale kommunikation läßt ebenso an kindheit denken wie der tadel der mutter. vielleicht war die träumerin als kind selbst jelonek, das hirschlein, wie der hirschkäfer polnisch heißt.

auf die göttlichkeit des hirschkäfers verweisen deutsche namen wie herrgottenochs und himmelochs. in deutschland, wo er selten geworden ist, galt er als fruchtbarkeitssymbol. der hirsch ist wegen des abwerfens und nachwachsens seines geweihs symbol für den lebenszyklus, also kreislauf der natur, und das wiederaufleben der vegetation im frühjahr. der hirschkäfer, der größte europäische käfer, heißt deutsch auch kneifhirsch, bock, maihengst, österreichisch klemmhirsch, hirschochs, maikuh, französisch, spanisch, portugiesisch und griechisch jeweils fliegender hirsch, lombardisch geweih und rumänisch hirschkopf, tschechisch das hirschkäferweibchen großmutter.

der leser entdeckt auch hier, wie in anderen büchern joanna lisiaks, verkleinerungsformen. jean paul schrieb: »In allen Sprachen verkleinert die Liebe ihr Geliebtes, um es zu verjüngen und zum Kinde zu machen, das ja der Amor selber ist.« und »Manche Völker reden die ganze Natur mit diesen Liebewörtern an und ziehen sie, wie mit Zauberformeln, sich näher an die Brust ‒ aber in solchen Ländern wohnet gern der Dichter.«, c.g. jung: »Neues entsteht nicht durch den Intellekt, sondern durch den Spielinstinkt, der aus innerer Notwendigkeit agiert. Der kreative Geist spielt mit den Objekten, die er liebt.« »Nichts fördert das Kreative so wie die Liebe, vorausgesetzt sie ist echt.«, ergänzte erich fromm. beispiele für verkleinerungen bei jean paul sind »Verkleinerung-chen«, »Wesenchen«, »Werkchen«, »Büchelchen«, »Elefantchen«, »Walfischchen«, »Tyrannchen« und »Reichsfürstchen«.

in »Ich bin mit der Familie« heißt es: »Ich entdecke ein Eichhörnchen. Es ist sehr niedlich und ich bin entzückt. Das Tier sieht mich zornig an. Es nimmt etwas Erde, formt daraus einen Klumpen und wirft diesen nach mir. Es erwischt mich und ich denke, dass das eine Botschaft sein muß. Eine alte Frau rupft ihr Huhn. Zwei Katzen gehen an mir vorbei. Eine kenne ich, die andere heißt Knoblauch. Statt eines Schwanzes hat sie eine Knoblauchwurst.« der teufel erschien als gewandtes eichhörnchen, speziell im süddeutschen raum. in frankreich wars ein schlechtes zeichen, einer gerupften henne zu begegnen. teufel, hexen und geister nahmen die gestalt schwarzer hühner an. eine schwarze katze, die einem über den weg lief, konnte sprichwörtlich unglück bringen. katzen sind hexensymbole, insbesondere nachts. mit knoblauch vertrieb man teufel, dämonen, hexen und vampire. laut volksglauben sollte der hausvater einer katze ein kleines stück vom schwanz abschneiden. dann konnte sie nicht mehr zu hexenversammlungen reiten, also fliegen.

in »Wenn Brot alle ist« lesen wir: »Im Aquarium werden Eier auf neuartige Weise gegart. Man legt die Eier auf den Aquarium-Boden und gart, während sich die Goldfische rings um die Eier anordnen und dem Garprozess beiwohnen.« man sollte allerdings behutsam garen, damit wasser, eier und fische nicht verdampfen. »Es ist jetzt Mode« beschreibt, wie gurkenwürfelchen geschnitten werden, die radieren können. »Ich bin erstaunt, wie viele Radiergummigurkenwürfelchen man aus einer einzigen Gurke machen kann.« ich zerschneide radiergummis, weil die innenseiten besser radieren und es vorteilhaft ist, mehrere radiergummistücke zu haben, wenn man eines verlegt hat.

»R. denkt an all die Dinge, die just in diesem Moment auf der ganzen Welt zu Boden fallen. Krüge, Besteck, Zigaretten, Papierknäuel, geschnittener Lavendel. Er steht in der Wiese, am Strand und hebt auf. Hebt auf. Am Straßenrand. Hebt auf, hebt auf: Bierdeckel, Pappbecher, Krümel, Brösel, die verlorenen Mantelknöpfe, Blumenstängel. Er sieht sich, wie er all diese Dinge aufhebt, aufhebt, während neue fallen, fallen, fallen.« das kann man als, auch ökologisch relevante, kritik des wegwerfens deuten. ich sah jüngst, wie zwei junge männer auf einem bahnsteig ihre gerade ausgetrunkenen kaffeebecher ins gleisbett warfen, obwohl fünf meter hinter ihnen ein abfallbehälter stand. manche können eben keine fünf meter weit denken. zugleich dachte ich an samuel becketts »Alle, die da fallen«, wo fallen todesahnung und sterben bedeutet. das aufheben wäre dann der versuch einer rettung der dinge und menschen. kulturgeschichtlich macht es hoffnung, daß immer wieder etwas aufgehoben wird, das verfemt und vergessen wurde. man denke an die gnosis. walter benjamin erklärte: »für den wahren Sammler ist die Erwerbung eines alten Buches dessen Wiedergeburt.«

das buch endet mit: »D. ist mal so, mal anders. Was zählt, ist das Präsens vom Sein in der ersten Person.« im traum ist alles gegenwart. zugleich spielt der traum vielfach in einer zeitlosen zeit und an einem ortlosen ort, also in einer wirklichkeitsenthobenen welt. ähnlich zeitentrückt erleben kinder dachböden, wo verborgene dinge der welt von gestern lagern. auf dem boden meiner großeltern fand ich als kind zeitungen aus zeiten, in denen ich noch nicht geboren war. wie fotografien eine vergangene wirklichkeit mit ihren traditionen und erfahrungen zeigen, übersteigt der traum profane realität.

»Das Pünktchen trägt Strümpfe«. welche? natürlich bunte, nämlich pink, gelb und grün. punkt und pünktchen werden der gleichen wortwurzel zugeordnet wie bunt, pünktlich und punktieren sowie niederländisch bont = vielfarbig, bunt, scheckig. benjamin meinte, die kinder lernten am bunten. symbolsprache findet sich bereits im frühesten kindesalter. im  traum, der erlebnisse und personen ganz verschiedener lebensphasen vernetzt und verschmilzt sowie zeiten und orte vertauscht, erscheinen ereignisse der kindheit, die auf weiter wirkende grunderfahrungen hindeuten. oftmals handeln kindheitsträume von hoffnungen und sehnsüchten der kinderzeit, zumal unerfüllten.

»H. erkennt gut« beschreibt körpersprache. »H. erkennt gut, dass die meisten Leute ein wenig zittern, wenn sie reden. Es ist ein leichtes, subtiles Zittern, das nicht in den Fingern, sondern aus den Fingerspitzen heraus entsteht. Manchmal zittert es um den Nacken herum wie ein heller Strom, oder die Haare am Kopf bewegen sich bloß ganz leicht. Sie formen ein Kräuseln, das zu einem unsichtbaren Windhauch wird. Wie Seegras, das sich in den Wirbeln des Meerwasser bewegt. Das Kräuseln, der Wind, sie sind kaum erkennbar mit dem bloßen Auge. Man muß es spüren. H. schaut genau hin. Er fühlt das Zittern der Leute durch seinen eigenen Körper wandern wie eine leise Botschaft. Er fragt nicht, warum die Leute zittern. Er fragt sich: Warum zittere ich nicht?« durch sensibles beobachten, das innere kräfte wahrnimmt, werden natürliche energiefelder des menschen sichtbar.

joanna lisiak spürt, auch in anderen büchern, die aura der menschen und dinge auf. die bekannteste passage bei benjamin dürfte sein: »Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.« er erklärte, die erfahrung der aura beruhe »auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur des Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, seinen Blick aufzuschlagen.« und: »Wo der Mensch, das Tier oder ein Unbeseeltes, vom Dichter so belehnt, seinen Blick aufschlägt, zieht es diesen in die Ferne; der Blick der dergestalt erweckten Natur träumt und zieht den Dichtenden seinem Traume nach.«, franz hessel: »Nur was uns anschaut, sehen wir.«, karl kraus: »Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.« rainer maria rilke: »Wie mir das Fernste manchmal hilft: in mir.«

ich verstehe die aura, die ursprünglich aus dem kultischen kommt, benjamin nannte sie »Einzigkeit«, als das überwirkliche, magische, imaginierte, sakrale, substantielle, besondere, das durch details, auch bruchstücke und splitter, in und an natur, menschen, kunst und dingen etwas tiefes, ganzes, ursprüngliches, authentisches aufscheinen läßt, und zwar meist unerwartet, plötzlich, blitzhaft, sofern wir es wahrnehmen können. marleen stoessel vermerkte zu benjamin: »Die Aura des erzählten Traums ist, was von ihm als Schatten übrig bleibt. Poesie ist der erzählte Traum. An ihr haftet als Aura der wirkliche Traum. Aura ist ihr wesentlich. Verfällt die Aura, der Schatten des Traums, so verfällt auch die Sprache der Dichtung.«

walter benjamin und roland barthes korrespondieren miteinander, motivisch und in ihren phänomenologischen methoden. das sehen verbindet benjamins aura und das punctum bei barthes. beide entstehen im sehenden durch das wahrnehmen eines, zunächst unbewußten und unbestimmten, oder unbestimmbaren, gegenstands zwischen betrachter und bild. das punctum, der stichpunkt des erkennens, das sich dem betrachter nähert und ihm aus ihm selbst entgegentritt, erscheint in einem augenblick, der überrascht und staunen läßt und auch subversiv wirken kann. barthes erklärte: »punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt ‒ und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht, (mich aber auch verwundet, trifft).« und »Das punctum ist mithin eine Art von subtilem Abseits, als führe das Bild das Verlangen über das hinaus, was es erkennen läßt.«

benjamin konstatierte: »Mit der Säkularisierung der Kunst tritt die Authentizität an die Stelle des Kultwerts.« und »was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura.«, vor allem wenn es nur noch etwas kopiertes und käufliches bietet und nichts in die tiefen anderer welten reichendes. benjamin und barthes hatten einen fotografischen blick, der gegenstände, auch des profanen alltags, ihr innenundeigenleben und so ihr wesen und ihren charakter offenbaren läßt. blicke können funken sein. bei ansgar martins heißt es zu theodor w. adorno: »Wo immer das Kleinste der Geschlossenheit des Weltlaufs widerspricht, leuchtet es demnach dem Subjekt als Funke, der in einer anders eingerichteten Welt frei würde.«

 

 

***

Das Pünktchen trägt Strümpfe von Joanna Lisiak, 2019, 220 Seiten, isbn 978-3-73922-803-7 Softcover ca. CHF 25.-

Umschlag: «Im Regenbogen», 2012, von Mariola Lisiak

 

Weiterführend →

Lesen Sie auch das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. Holger Benkel denkt in einem Rezensionsessay über den sinn der wendungen nach. KUNO verleiht der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay.