Gedichte-schreiben nach Auschwitz

Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.

Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft 1951

Es geht um den Satz des deutschen Philosophen Adorno: „Nach Auschwitz kann (darf) man keine Gedichte mehr machen“ und um meinen Widerspruch dagegen; um meine von mir begründete Ablehnung dieses Standpunktes. Denn dann dürfte man auch nicht mehr komponieren, malen, tanzen, lieben, leben, etc. Daß ich diesen Standpunkt einnehme, in und mit meinen Gedichten stets und immer wieder Gerechtigkeit einfordere und mich so engagiere, wird anhand meiner Gedichte und meines Lebens schlüssig nachgewiesen.

Kein Gedicht nach Auschwitz (Adorno): was wird hier als Vorstellung von ,Gedicht` unterstellt? Der Dünkel dessen, der sich untersteht hypothetisch-spekulativerweise Auschwitz aus der Nachtigallen- oder Singdrossel-Perspektive zu betrachten oder zu berichten.

Paul Celan

Es geht also, ganz knapp zusammengefaßt, hier um zwei Komponenten, um zwei miteinander im Grunde unvereinbare Standpunkte: um etwas „Absurdes“ im Sinne des „Mythos des Sisyphos“ von Albert Camus und um das Postulat „Prinzip Hoffnung“ des Philosophen Ernst Bloch. Beide haben mich in meiner Haltung mitbegründet und darin bestärkt. Ich meine: Selbstverständlich bleibt uns angesichts von Auschwitz, das sich in seiner sozusagen realen Metaphernhaftigkeit immer wieder ereignet (Hiroshima, Srebrenica, Kambodscha u.a.), eigentlich nur das Verstummen, der Verzicht auf das (literarische) Wort; was aber nicht dasselbe ist wie Sprachlosigkeit. Ich zitierte aus einem Auschwitz-Gedicht von mir (1975):

„Aber was nützt / diese Absage ans Leben / den Ausgelöschten / den Toten…“

Es geht also um eine moralische Frage, um einen moralischen Standpunkt. Es geht um die Gerechtigkeit, für die wir uns (nicht nur intellektuell) engagieren müssen, sondern die auch in unserem individuellen und kollektiven Handeln (Politik) ihren Niederschlag finden und sich darin ausdrücken, es prägen muß. Es geht darum, daß wir zwar wissen, daß eine allumfassende Gerechtigkeit niemals herstellbar war, ist und sein wird, daß wir aber trotzdem diesen Anspruch als den wichtigsten ethischen Grundwert nie aufgeben dürfen, auch wenn wir wissen, daß wir letztlich mit unserem Anspruch an der Realität scheitern (Sisyphos). Trotzdem müssen wir beides zusammenführen zu einer Haltung, die so absurd sein mag, wie sie es eben ist. Aber in anderem Fall münden wir in der absoluten Sinnlosigkeit unseres Lebens und in totaler Resignation. Doch: „Resignation ist indiskutabel“ (PPW).

Seit es Menschen gibt, können sie sich Wörter und Wortkombinationen merken. Nichts kann einen Holocaust überleben außer Gedichten und Liedern. Keiner kann sich einen ganzen Roman merken. Niemand kann einen Film, eine Skulptur, ein Gemälde beschreiben. Aber solange es Menschen gibt, können Lieder und Gedichte weiterleben.

Jim Morrison

Also müssen wir so denken und handeln, als sei Gerechtigkeit herstellbar. Also eine Art Fiktion wird zu etwas Fundamentalem. Und mein Literatur-Machen, meine Gedichte sind nichts anderes, als immer wieder auf diesen Geleisen, auf der sich dieser mein (unser) Zug bewegt, dahinzufahren und diesen Standpunkt zu transportieren; hin zu einem Ziel, das es vielleicht gar nicht gibt, oder das in der Unendlichkeit liegt. Letztlich verbleibt der Mensch in der Antwortlosigkeit. Das ist Leben, das ist der Mensch. Das ist meine (unsere) Wahrheit.

Aus einem Vortrag an der Universität LUSPIO in Rom

Rom, 18.10.2010 – Wien, 22.10.2010

 

 

Weiterführend →

Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus wurde am 3. Januar 1996 durch Proklamation des Bundespräsidenten Roman Herzog eingeführt und auf den 27. Januar festgelegt. Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee die Überlebenden des KZ Auschwitz-Birkenau, des größten Vernichtungslagers des NS-Regimes. In seiner Proklamation führte Herzog aus: „Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.“