Hommage a Kuwitter

 

Wer zu diesem voluminösen Roman über eine außergewöhnliche Künstlerpersönlichkeit greift, der sollte im vorab veröffentlichten Leseexemplar das Interview mit der Autorin über die Art und Weise lesen, wie sie das Leben von Kurt Schwitters (1888 bis 1948) unter den Bedingungen von Flucht und Jahren des Exils in Norwegen und England beschreibt. Von einem Roman ist da die Rede, in dem Ulrike Dreasner die zwölf Exil-Jahre von Kurt Schwitters – zwischen 1936 und 1948 – unter spezifischen Blickwinkeln literarisch verarbeitet, von einer Biografie, „die mit der Gattung der Biografie spielt“. Mehr noch: von Life Writing, das von dem „Verlust von Heimat, Ehepartner, Werk und Publikum“ berichtet und von der Kraft des Ausnahmekünstlers Schwitters, „dem allen zu widerstehen“. Nicht minder kompliziert war die umfangreiche Recherche der Autorin, die im Oktober 2015 als Writer in Residence in Oxford die Bekanntschaft einer Mittelalterforscherin (!) machte. Sie weihte Ulrike Dreasner in die wesentlichsten Daten der englischen Jahre Schwitters zwischen 1940 und 1948 mit einer solchen fulminanten Hingabe ein, dass die so „hingerissene“ Schriftstellerin mit dem intuitiven Bekenntnis „Das ist mein Mann“ sich sofort ans Werk machte.

Von welch immensen Schwierigkeiten die Recherche in den folgenden vier Jahren begleitet waren, zeigt bereits die lockere Auflistung der Institutionen und Personen, mit denen es die Autorin bei der Aufarbeitung der biografischen und werkspezifischen Fakten zutun hatte. Kurt-und-Ernst-Schwitters-Stiftung in Hannover, Tate Gallery in London, die Lebens- und Schaffensorte von Schwitters im englischen Lake District, der Kontakt zu Bengt Schwitters, „dem einzigen Angehörigen meines Sub-Ob-jektes Ku-Kurt-Schwitters“, um nur einige zu nennen. Und die folgende freimütig genannte Warnung: Biografien stellen „ein turbulentes, wachsendes und so ein- wie niederträchtiges Genre dar, in dem die Autorin / der Verfasser bestenfalls als eine Art Auftischservice gelten kann.“ Diese Warnung, dem Leser gleichsam post festum präsentiert, enthält eine Reihe von ironisch verklausulierten Bekenntnissen, die nach der aufmerksamen Lektüre von rund 450 Seiten manch dunkle Felder aufhellen. Sie schließen nicht aus, dass diese Nicht-Biografie eines verkannten Genies in einigen Passagen den Zugang zu kunstspezifischen Räumen erlaubt, die in den werkspezifischen Monografien zu Schwitters bislang nur am Rande aufgearbeitet wurden. Eine vorläufige Einsicht, die ebenso wie das Bekenntnis der Autorin, „Schwitters ist kein Künstlerroman, auch ein Scheinkünsterroman wäre eine noch allzu hoffnungsvolle Konstruktion,“ die wesentliche Gestaltungsprinzipien dieses merkwürdigen Romans erläutert und zugleich verwischt, wie die Autorin bekennt: „Schwitters wurde auf Englisch geschrieben, ins Deutsche übersetzt. So der Plan. Er scheiterte. Schwitters auf Deutsch erwies sich als ausgesprochen bockig. Er wollte um ein deutsches Leben anwachsen und früher aufhören als der englische Text. … Das Ergebnis ist ein deutscher Kurt, der unter einem englischen Kurt schwimmt und ein „witternder Schwitters“, der „Süßigkeiten witterte … von weitem, er nahm zu – in England allerdings auch wieder ab.“

An dieser Stelle bekennt der Rezensent, dass die Autorin „ihren“ Schwitters in ein vielschichtiges, oft verwirrendes metaphorisches Wahrnehmungsfeld eingebettet hat, auf dem die Konturen einer dreifachen Exil-Welt eingebrannt sind. Im Roman sind sie als das deutsche und das englische Leben (Kapitel 1 und 2) markiert, wobei das Zwischenexil in Norwegen zwischen 1937 und 1940 in das Kapitel 1 integriert ist. Kapitel 3, das Nachleben, beschäftigt sich aus einer multiperspektivischen Sicht mit dem künstlerischen Erbe Schwitters, vornehmlich aus dem Blickwinkel von Ernst, dem Sohn von Kurt Schwitters, und dessen englischer Geliebte Wantee aus den Jahren 1942 bis 1948.

Den Ausgangspunkt der Romanhandlung bildet eine Alltagssituation am Wohnort der Schwitters in der Walhausenstraße 5, in Hannover am 12. Oktober 1936. Helma und Kurt Schwitters werden Zeuge, wie das Haus ihres Nachbarn Albert Tossioni, jüdischer Abstammung, dessen Vorfahren seit vielen Jahren in Deutschland ansässig waren, von der Gestapo zwangsgeräumt wird. Der Terror ist Bestandteil des Alltags in Reichsdeutschland, der Rassenwahn nimmt Konturen an, das dem deutschen Wesen „fremde“ Gedankengut wird ausgemerzt und ihre Träger auf deren physische Vernichtung vorbereitet. So wie auch die „entartete“ Kunst von Kurt Schwitters, dessen Haus regelmäßig von Gestapobeamten heimgesucht wird, wobei trotz aller Rettungsversuche seiner rührigen Ehefrau Helma manches „bizarre“ Teilelement aus dem Gesamtkunstwerk MERZ von der Nazi-Staatsmacht beschlagnahmt wird und in irgendwelchen „Giftbunkern“ verschwindet.

In diesen Monaten des Jahres 1936 verdichten sich die Fluchtpläne der Schwitters. Sohn Ernst, Jg. 1918, lebt bereits in der Nähe von Oslo, Kurt hat ihn mehrmals dort besucht, wie auch Helma. Nun gilt es für die Familie die Frage zu lösen, wer soll Kurts künstlerisches Werk in Hannover vor den Nazis schützen wie auch die Immobilien der Schwitters verwalten? Dabei geht es vor allem um das seit 17 Jahren im dreistöckigen Vaterhaus, neben der Wohnung seiner Eltern, entstehende Gesamtkunstwerk MERZ. In der einfühlsamen und zugleich berührend-visionären Beschreibung öffnet die Autorin ihren Lesern/innen einen gleichsam vierdimensionalen Leseraum, in dem zwei Wahrnehmungsstrategien aufeinander treffen. Es sind Kurt Schwitters Gestaltungsvisionen und Ulrike Dreasners phantasiegeladene Wahrnehmungsbilder, die sich zu einem Simultanerlebnis bündeln (vgl. S. 47f.).

Helma entschließt sich in Hannover zu bleiben, sich gleichsam für Kurts Meisterwerk zu opfern. Doch das Werk kann sie nicht retten, es wurde 1943 von einer englischen Brandbombe zerstört. Zu diesem Zeitpunkt hatte Schwitters bereits zwei weitere MERZ-Bauten unvergleichbar kleinerer Dimension an zwei Orten in Norwegen gestaltet, ein vierter schließlich, ein englischer MERZbarn, entsteht im Lake District. Zwischen diesen vier Schaffensorten bildet sich ein narrativ-intensiver Plot heraus, in dem vier zentrale Personen aus der Perspektive einer flexiblen auktorialen Erzählerin ihre Empfindungen und Positionen in einer Handlung zum Ausdruck bringen, die zwischen ablaufender Handlung und kommentierten inneren Monologen pendelt. Auf diese Weise wird selbst Kurt Schwitters als Leitfigur nur ebenso viel Reflexions- und Handlungsraum wie Helma, Ernst oder Wantee gewährt. Diese narrative Strategie erfordert allerdings ein hohes Maß an Reflexion von Seiten des Lesers, der stets auf der Hut sein muss bei der Bewertung der jeweiligen Aussage. Sie erweisen sich oft als ironische Kommentare (wie Verspottung der Nazi-Schergen, Kurts holpriges Englisch im Umgang mit mittelenglischen Dorfbewohnern, norwegische Beamte auf der Suche nach deutschen Spionen unter politischen Exilanten kurz vor der militärischen Invasion von Norwegen durch die Nazis), oder sind nüchterne Beobachtungen und Beschreibungen deutscher wie auch englischer Untertanen-Mentalität. Sie erfordern nicht selten eine rückversichernde Lektüre, die sich in der Summe als eigenwilliger, sensibler Dialog zwischen den Personen im Roman erweist. Und darüber hinaus auch deutliche Hinweise auf das umfangreiche frühe literarische Werk von Schwitters enthalten. Es sind die markanten Spuren dadaistischer Verse, die frechen, bewusst gebrochenen Rhythmen, in denen auch Schwitters berühmtes Poem „Anna Blume, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne“ aus dem Jahr 1919 wieder zum Leben erweckt werden.

Angesichts solch lustvoller Textspielereien wirkt da der besorgte abschließende rechtliche Hinweis der Autorin (vgl. S. 474), hier handele es sich um einen Roman, der „die Freiheit der Kunst preist“ und „erzählt, was nicht gesagt wurde, nicht gesagt werden konnte, […] er bewohnt das privilegierte Reich der Fiktion“, wie eine überflüssige Schutzbehauptung. Dieser erste umfangreiche Roman über tragische und zugleich ungewöhnlich schaffensreiche Jahre im Leben eines Jahrhundert-Künstlers bereichert nicht nur die hochspezialisierte kunstwissenschaftliche Schwitters-Rezeption der 1960er bis 1990er Jahre, er führt seine Leser/innen vor allem in das glückliche, stets bedrohte und oft scheiternde Leben eines Ausnahme-Künstlers ein, der mit seinen materialisierten Visionen einen phantasiegeladenen Blick in das 21. Jahrhundert wirft. Ein Roman also, der Leben und Schaffen von Kurt Schwitters mit viel Witz, raffinierter Erzähltechnik und Einfühlvermögen erzählt, ein Roman, der auf ungewöhnliche Weise das Innenleben eines Künstlers mit raffinierten Wort- und Satz-Collagen offenbart.   

 

 

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Kurt Schwitters, vor 1927, auf einer Fotografie von Genja Jonas

SCHWITTERS. Roman von Ulrike Draesner. München (Penguin Verlag) 2020