Die Multiversumidee

Quanten und Relativität

Von aufmerksamem Beobachtern nicht unerwartet traten im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts revolutionäre Auf- und Umbrüche in nahezu allen Bereichen der Kultur gleichsam epidemisch auf, in der Malerei, im Roman und im Gedicht, auf der Bühne und im Film, in der Musik, der Philosophie, in den Naturwissenschaften, besonders deutlich in der magna mater der Naturwissenschaften: der Physik. Dabei sind gewisse Analogien, Symmetrien, formale Entsprechungen zwischen den Äußerungen der Künste und der Wissenschaften unschwer erkennbar. Es schien als wäre Hölderlins Ruf Komm ins Offne, Freund von vielen Akteuren in Ateliers, Bibliotheken und Laboratorien gleichzeitig aufgenommen und befolgt worden. Werner Heisenberg notierte: Die moderne Physik ist auch nur ein, wenn auch sehr charakteristischer Teil eines allgemeinen geschichtlichen Prozesses, der auf eine Vereinheitlichung und ein Offenerwerden unserer gegenwärtigen Welt zielt.. Und Erwin Schrödinger sagte noch deutlicher: Es werden sich auf allen Gebieten einer Kultur gemeinsame weltanschauliche Züge und, noch sehr viel zahlreicher, gemeinsame stilistische Züge vorfinden – in der Politik, in der Kunst, in der Wissenschaft. (Nur, was die Weltanschauung und die Politik in Deutschland anging, irrte Schrödinger: Der NS-Staat war von Beginn an anti-intellektuell, die moderne Kunst wurde als „entartet“ bezeichnet, der modernen „jüdischen“ Physik eine „deutsche Physik“ entgegengesetzt).

Die moderne Physik, die im Jahre 1900 mit Max Plancks Quantenhypothese ihren Anfang nahm und im Wesentlichen die vier großen Theoriengebäude Quantenmechanik, Wellenmechanik, Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie umfasst, übte bei ihrem Auftreten auf viele Zeitgenossen, auch viele Insider, geradezu eine Schockwirkung aus. Dazu hat Russel McCormick einen interessanten, kenntnisreichen Roman geschrieben, Nachtgedanken eines klassischen Physikers (Suhrkamp, 1990). Was waren die Ursachen  für diese Schockwirkung? Zweierlei: Die auch für viele Physiker der damaligen Zeit enorme mathematische Herausforderung der neuen Theorien und deren damit verbundene „Unanschaulichkeit“. „Werden wir die Struktur, das Wesen der Atome jemals verstehen?“  fragte der junge Heisenberg seinen Freund und Förderer Niels Bohr. Und der antwortete: „Wir werden erst lernen müssen, was das Wort „verstehen“ bedeutet“. (Dem Leser, den Bohrs Antwort an ein ähnliches Problem in einer ganz anderen Sparte menschlicher Produktivität erinnert, nämlich das „Verstehen“ von Gedichten, ist wenig entgegenzuhalten).

Ein starke Antriebskräfte verleihendes Motiv für die Ausübung von Forschung ist die Eliminierung von Widersprüchen, Widersprüchen zwischen traditioneller Theorie und neuen oder neuartig verstandenen Experimenten, aber auch binnentheoretischen Widersprüchen. Viele große Fortschritte bei der Entwicklung neuer oder der Verbesserung bekannter Theorien sind auf die Eliminierung von Widersprüchen zurückzuführen. Nun gibt es aber eine Klasse von Widersprüchen, die zwar für die mathematischen Gleichungen, d.h. für die „Syntax“ der Theorie keine Schwierigkeiten darstellen, wohl aber für die Beschreibung ihrer physikalischen Bedeutung, die mit Sprache vorgenommen werden muss. Ein bekanntes Beispiel für Widersprüche, die mit unserem von evolutionsgeschichtlich gegebenen Notwendigkeiten erzogenem Gehirn nicht auflösbar sind, ist der bekannte „Welle-Teilchen-Dualismus“ der Quantentheorie. Niels Bohr hat den sehr einleuchtenden und – wie sich zeigte – heuristisch erfolgreichen Vorschlag gemacht, derartige Widersprüche, zu deren Ausheilung unser Vorstellungsvermögen nicht fähig ist, einfach zu akzeptieren. Er hat dafür einen Begriff vorgeschlagen: „Komplementarität“; die widersprüchlichen Erscheinungsformen oder Eigenschaften eines Elementarteilchen sind „komplementär“, d.h. das Objekt ist sowohl Welle wie Teilchen.

Mit dem sehr hohen Abstraktionsgrad der modernen Physik korrespondiert ihre große Anwendungsbreite. Nicht viele naturwissenschaftliche Theorien sind so vielfältig, zahlreich und überzeugend durch Experimente bestätigt worden wie Quanten- und Relativitätstheorie. Sehr viele praktische Anwendungen ergaben sich aus den Theorien oder spielten bei ihrer Ausgestaltung eine Rolle. So müssen zum Beispiel im Global Positioning System (GPS), von dem wir alle auf vielfältige Weise Nutzen haben, die Einsteinschen Feldgleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie  berücksichtigt werden.

Strings

Im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts betrat ein neuer, bislang allerdings noch  umstrittener Kandidat die Bühne der theoretischen Physik: Die Stringtheorie. Die Grundidee und ihr Clou sind leicht zu beschreiben. Die Entitäten der mittlerweile klassischen Quantenfeldtheorie des Elektromagnetismus und der (Atom)kernkräfte sind nulldimensional, also mathematische Punkte; das ist der Grund, warum die Gleichungen in bestimmten physikalischen Situationen unsinnige Ergebnisse liefern. Die Entitäten der Stringtheorie sind ein- oder zweidimensional, anschaulich: sehr kleine, vibrierende Fäden oder Flächen („sehr klein“ heißt hier in der Größenordnung von 10-33 cm). In der Stringtheorie verschwinden die erwähnten Schwierigkeiten der Quantenfeldtheorie, und mehr noch: es gibt Hinweise, dass der Stringansatz die Etablierung einer Großen Vereinheitlichten Theorie des Elektromagnetismus, der Kernkräfte und auch der Gravitation erlauben sollte, was die Quantenfeldtheorie aus prinzipiellen Gründen nicht leisten kann.

An die Wissenschaftler, die auf dem Gebiet der Stringtheorie und vor allem ihrer aktuellen Version, der „Superstringtheorie“, forschen (wobei das „Super“ keine kalauernde Funktion hat sondern von der wichtigen „Supersymmetrie“ stammt“) werden höchste Anforderungen gestellt: Sie müssen außerordentliche mathematische Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen, ein sicheres Gespür für die Verknüpfung von Mathematik und Physik haben, scharfsinniger  als ein gewiefter Anwalt denken können, aber auch über die Phantasie des Künstlers verfügen. Der Stringphysiker Brian Green (siehe „Literatur“) sagt, die Kunst der Physik liege  in der Entscheidung, was man berücksichtigt und was nicht, ein Satz, der sehr stark an eine Feststellung von Gottfried Benn über die Produktion von Kunst erinnert: „… man muss suchen und wissen, was zusammengehört, was wirklich zusammengehört, und das muss  man nehmen. Vielleicht kann man die Vermutung wagen, dass es heute keine menschliche Tätigkeit gibt, die intellektuell anspruchsvoller ist als Forschung auf dem Gebiet der theoretischen Physik.

Natürlich können Theorien  falsch sein, die Mathematik fehlerhaft, was in der Regel nicht lange verborgen bleibt, die Physik unzutreffend, was sich schon länger dem Nachweis entziehen kann, insbesondere wenn die Theorie nicht an der Erfahrung, am Experiment geprüft werden konnte, wie das bisher bei der Stringtheorie der Fall ist. Durch Untersuchungen insbesondere von Martin Carrier (1992) weiß man, dass zwischen Theorie und Empirie ein „supervenientes“ Verhältnis bestehen kann: Eine Theorie führt zwar auf eindeutige empirische Konsequenzen, aber die empirische Datenlage lässt nicht umgekehrt einen eindeutigen Schluss auf die zu ihrer Erklärung geeignete theoretische Struktur zu. Möglicherweise, so kann man spekulieren, besteht ein supervenientes Verhältnis auch zwischen einer mathematischen Struktur und ihrer physikalischen Interpretation: Eine bestimmte physikalische Theorie führt zwar auf eindeutige  mathematische Konsequenzen, aber eine mathematische Struktur lässt nicht umgekehrt einen eindeutigen Schluss auf die Physik zu, mit der sie vereinbar ist.. Auf ein grundsätzliches Problem der Theorienbildung hat Oswald Spengler hingewiesen: Es gibt einfach keine anderen Begriffe als anthropomorphe Begriffe (…) dies gilt sicherlich auch für jede physikalische Theorie, gleichgültig wie gut begründet sie auch erscheinen mag (zitiert nach Franco Selleri „Die Debatte um die Quantentheorie“, Vieweg, Braunschweig 1990). (Doch muss man hinzufügen, dass diese Feststellung nur die „Semantik“, nicht die „Syntax“ der Theorie, ihre Mathematik, betrifft).

Multiversum

Im Verlauf der Weiterentwicklung der Stringtheorie wurde eine dramatische Komplikation offenbar: die Theorie funktioniert physikalisch sinnvoll nur in einem 11-dimensionalen Raum, 10 Raumdimensionen, 1 Zeitdimension. Aber was stellt man mit den „überschüssigen“ 7 Raumdimensionen an? Es gibt mehrere (mathematische) Möglichkeiten, sich von ihnen zu „befreien“, eine davon ist die sog. „Kompaktifizierung“. Als Resultat erhält man die Gleichungen einer (Super)stringtheorie in 4 Raum-Zeit-Dimensionen (also in der vertrauten Raumzeit der Allgemeinen Relativitätstheorie). Aber die nächste Überraschung folgte sofort:  Die Gleichungen der vier-dimensionalen Stringtheorie haben unendlich viele Lösungen. Sind die Gleichungen also physikalisch sinnleer? Das sind sie nicht, aber für diese Aussage musste eine Entscheidung getroffen werden. Sie lautet: Wir postulieren, dass jede Lösung der Stringgleichungen einer jeweils anderen Physik entspricht, die zu einem jeweils anderen „Universum“ gehört. Also gibt es eine zwar unvorstellbar aber berechenbar große Anzahl von verschiedenen „Universen“ (in einem davon leben wir), zwischen denen keine irgendwie geartete Verbindung besteht. Die komplette Gesamtheit dieser „Universen“ nennen die Physiker „Multiversum“.

Im geozentrischen Weltbild war der Ort des Menschen der Mittelpunkt des Universums, dann kam die kopernikanische Wende, und aus jetziger Sicht, nach der Theorie nicht aller, aber vieler Physiker, leben wir auf einem Planeten am Rand einer von sehr vielen Galaxien in einem von sehr vielen, voneinander getrennten Universen. Mit dieser Vorstellung wird eine Frage der Physik, um deren Beantwortung viele Forscher, auch Albert Einstein, lange und vergeblich gerungen haben,  plötzlich sinnleer: Warum ist die Physik des Universums, in dem wir leben, so beschaffen wie sie ist und nicht anders? Oder mit Albert Einsteins oft zitierten Worten: Ich frage mich, ob Gott irgendeine Wahl hatte, als er das Universum erschuf? Ja, sagen viele Physiker heute, eine gewaltige Auswahl, und was die Frage nach den Gründen für die spezielle Beschaffenheit „unserer“ Physik angeht: es gibt keine „Gründe“, es ist reiner Zufall in einem Multiversum, in dem sich die Physik von Universum zu Universum ändert. Ist die Tatsache, dass wir in einem dieser Universen, in „unserem“ Universum, leben, auch reiner Zufall? Sicher nicht. Wären die Naturkonstanten wie die „kosmologische Konstante“, die „Gravitationskonstante“, die „elektrische Elementarladung“ usw. nur geringfügig größer oder kleiner als sie in unserem Universum sind, gäbe es möglicherweise nicht einmal Galaxien und sicherlich kein Leben. Aber dass diese „Feinabstimmung“ so ist wie sie ist, hat wieder keine erforschbaren Ursachen sondern ist  – aus dem voranstehend  schon erläuterten Grund –  reiner Zufall.

Manche Wissenschaftler glauben, dass zukünftige Forschung (z.B. mit den Methoden der Hochenergie- oder der Astrophysik) experimentelle Hinweise auf die Existenz des Multiversums liefern wird. Andere fragen sich, ob die derzeitige Superstring- und Multiversum-Forschung überhaupt noch Wissenschaft im traditionellen Sinne ist. Immerhin spielt diese Forschung aber weltweit eine wichtige Rolle in der theoretischen Physik, kennzeichnet also zumindest einen bedeutenden Trend.

 

 

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Literatur

Brian Green, Das elegante Universum, Siedler Verlag, Berlin 2000

Brian Green, Die verborgene Wirklichkeit, Siedler Verlag, München 2012

Dieter Lüst, Quantenfische / Die Stringtheorie und die Suche nach der Weltformel, C.H.Beck, München 2011

 

Der Lyriker, Essayist und Aphoristiker Maximilian Zander ist am 21.11.2016 im Alter von 87 Jahren in Castrop-Rauxel gestorben. Seit Mitte der 1990er-Jahre veröffentlichte Zander Gedichte und Aphorismen. Seine lakonischen (immer wieder auch metalyrischen) Gedichte, die u. a. in Literaturzeitschriften wie ndl, Muschelhaufen, Faltblatt und Anthologien wie Axel Kutsch, Versnetze (2005) oder Theo Breuer, NordWestSüdOst (2003) sowie in bislang vier Gedichtbänden erschienen, setzen sich auf ironisch-distanzierte Art und Weise mit Alltag und Gesellschaft aus der Sicht eines welterfahrenen Menschen auseinander.

Weiterführend Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik. – Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.