Verbrannte Wurzeln

 

Es dämmert, als Adelhaid den alten abgebrannten Hof erreicht. Sie dreht ihre Runden, verstört, verwirrt. Nur langsam und in kreisförmigen Bewegungen nähert sie sich dem Hof, der zu Teilen in Schutt und Asche daliegt, genau wie damals in ihrer Kindheit. Sie schreitet noch einmal alles ab. Zunächst das Hauptgebäude, das Haus. Es war konstruiert wie andere Bauernhäuser auch. Neben einem Wohntrakt, in dem sie, die Schwester, die Mutter, der Bruder und die Großmutter gemeinsam lebten, gab es einen Stall für die Tierhaltung, einige Lager sowie einen Unterstand für ihre Geräte, den Pflug, die Äxte, das Geschirr für die Pferde. Daneben umfasste der Hof zwei weitere kleine Wohn- und Wirtschaftshäuser, zwei Stallungen, eine Scheune, einen Schuppen sowie ein Gärtchen mit Brunnen. Ein Teil der Stallungen ist immer noch erhalten, wie sie beruhigt feststellt. Weiter hinten haben sich die Speicher zur Lagerung oder Zwischenlagerung von Futtermitteln und Ähnlichem befunden, erinnert sie sich. Davon ist nur noch einer in Teilen übrig. Adelhaid starrt zu Boden. Sie kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Ihr Atem geht stoßweise und schnell. Wie allein ihre Mutter gewesen sein muss, nach dem Tod ihres Mannes, denkt sie auf einmal. Allein wie sie selbst, Adelhaid.Sie erinnert sich an »Salome«, an die niederschmetternde Musik, das Ziehen in ihrem Herzen, das diese ausgelöst hat. Es kommt ihr vor, als gäbe es keinen Platz in der Welt fürsie. Erl, der Letzte, der ihrem Herzen teuer war, hat sie ein Leben lang betrogen. Und Anna ist tot. Ob sie mehr über den Mord gewusst hat? Ihr schaudert. Was mag die gütige Frau darüber gedacht haben? Immer war sie sanft, erinnert sich Adelhaid, immer hat sie mit ihrer Gutmütigkeit die Stimmung im Haus milde gemacht, hat Hoffnung gegeben, hat die Menschen um sich herum gestärkt. Adelhaid spürt, wie ihre Knie weich werden, wie sie langsam nachgeben. Sie muss sich setzen.Im Gärtchen, neben dem steinernen Brunnenrest, nimmt sie Platz. Die Birken aus ihrer Kindheit fallen ihr ein, und es scheint, als dringe ihr Rauschen bis in die Gegenwart zu ihr herüber. Dabei weiß sie: Auch die Bäume sind mit ihrer Mutter, der Schwester, dem kleinen Johann und der Großmutter verbrannt. Adelhaid möchte etwas fühlen, aber da ist nichts zu finden. Nur immer wieder die alten Bilder, die ihr zwischen die Gegenwart schießen: Käfer, Feuer, Brandgeruch, das Knacken von loderndem Holz. Adelhaid sucht nach einem stärkenden Gedanken, nach etwas, das sie an das Leben binden könnte. Doch es ist nichts übrig. Einzig die verzerrte Fratze Simons aus ihrem Traum, die vor ihrem geistigen Auge auftaucht und die sie mit einem Mal an ein Monster erinnert, existiert noch. »Geh weg von mir«, sagt Adelhaid, und sie merkt nicht einmal, dass sie mit sich redet. Aber ihre Worte sind ohne Gefühl, der Schock ist zu groß, es ist, als wäre ihr Kopf in Watte eingehüllt. Sie sitzt lange einfach nur da und starrt ins Leere. Dann öffnet sie die Hand.

 

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Das stumme Tal, von Sophie Reyer, Emons Verlag, 2020

Die Wienerin Sophie Reyer hat sich in die schaurige Welt des Alpenlandes begeben und dort die Partnerstadt von Twin Peaks entdeckt. Feuer ist es, das die vierjährige Adelhaid aus ihrem Heim im Bergbauernhof in Stumm vertreibt. Bald stellt sich jedoch heraus, dass ihre Familie nicht in den Flammen, sondern bei einem grauenhaften Raubüberfall starb. Sind die Täter tatsächlich die zwei jungen Löter, die durch das Dorf zogen? Oder verbirgt sich hinter dem Verbrechen ein viel dunkleres Geheimnis?

Weiterführend →

Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. In ihrem preisgekrönten Essay Referenzuniversum geht sie der Frage nach, wie das Schreiben durch das schreibende Analysieren gebrochen wird. Vertiefend zur Lektüre empfohlen, das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Sophie Reyer und A.J. Weigoni zum Projekt Wortspielhalle. Hören kann man einen Auszug aus der Wortspielhallein der Reihe MetaPhon.