Die Welt ist nur Leinwand für unsere Vorstellungen

 

Ich sehe die Menschen rastlos bestrebt und bemüht, die Fähigkeiten ihres Geistes zum Nutzen ihrer Leiblichkeit anzuwenden; ich aber möchte diese Fähigkeiten – was nicht weniger mühevoll ist – für meine Ideenwelt verwerten, in der sicheren Überzeugung, daß es über den Bedürfnissen des Körpers und unabhängig von ihm ein geistiges Leben gibt. Oft wird der Körper erwärmt, während die Phantasie erstarrt bleibt; der Körper ist wohlgenährt, aber die Phantasie ist dürr und verschrumpft. Was helfen alle anderen Güter, wenn dieses eine fehlt? »Die Phantasie ist für den Geist die Luft«, in der er lebt und atmet. Alle Dinge sind so wie ich bin; wozu brauche ich die Wechselstube? Die Vergangenheit ist nur in dem Grade heroisch, in dem wir sie heroisch sehen. Sie ist die Leinwand, auf die unsere Vorstellung von Heroismus gemalt wird; daher ist sie auch in gewissem Sinne der dämmerige Ausblick in unsere Zukunft. Die Verhältnisse, in denen wir stehen, entsprechen den Erwartungen, die wir hegen, und den Forderungen unserer Natur.

 

 

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Henry David Thoreau gilt als Schriftsteller auch in formaler Hinsicht als eine der markantesten Gestalten der klassischen amerikanischen Literatur. Eine Einführung in Leben und Werk von Gerhard Gutherz findet sich hier. Als sorgfältig feilender Stilist, als hervorragender Sprachkünstler hat er durch die für ihn charakteristische Essayform auf Generationen von Schriftstellern anregend gewirkt. Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.

Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.