Winterdienst

 

Patrick schon wieder er steht mit seinen kurzen Beinen breitbeinig da wollen wir reden

Patrick ich weiß er will jetzt nicht reden weiß nicht was er will Benjamin kommt herein und geht in sein Zimmer Sandra ist mit den anderen in der Küche beschäftigt

Mesut steht plötzlich im Türrahmen

Patrick rennt wieder auf mich zu wie ich es schon einmal erlebte  ich weiß was er will und sage dann komm dann komm eben wenn du nicht anders kannst er rennt und holt zum ersten Schlag aus ich fange ihn ein ziehe ihn an mich heran umarme ihn mit aller Kraft er stellt mir ein Bein, wir stürzen zu Boden ich lasse meine Umarmung nicht los schlinge am Boden liegend meine Beine um seine Beine halte ihn fest er zappelt er schlägt mit dem Kopf nach oben aber ich halte ihn fest spreche ihn an

Patrick siehst du ich bin stärker als du bin größer und stärker wenn ich will kannst du mir nichts tun aber ich will dir auch nichts tun verstehst du

Patrick ich will dich nicht schlagen werde dich nicht schlagen verstehst du wie ich nicht von dir geschlagen werden will er zappelt ich halte ihn oberhalb seiner Handverbände fest dann sehe ich von weitem wie Mesut auf uns zu kommt während ich Patrick nun fest in meinem Haltegriff habe und weiter spreche ich will dir nichts tun Patrick also brauchst du auch keine Hilfe von einem anderen

Mesut kommt näher und ich weiß nicht was ich tun sollte wenn er sich auch gegen mich wendet er ist größer als ich stärker als ich es bin ich rede weiter niemals habe ich Kinder geschlagen will niemals von Kindern geschlagen werden lasst uns lieber reden und Freunde sein

Mesut steht jetzt direkt über mir plötzlich kommt Sandra herein geht auf Mesut zu sagt die können das unter sich selbst ausmachen

Mesut komm du wirst in der Küche gebraucht wenn du Hunger hast Mesut geht mit Sandra ohne noch ein Wort zu sagen  während ich noch immer mit Patrick am Boden liege also gut sagt Patrick hören wir auf er hat einen ganz roten Kopf ist völlig abgekämpft kann nicht mehr

also gut lass uns lieber Freunde sein sage ich und er sagt du kannst mich loslassen jetzt kannst du mich loslassen und ich lasse ihn los er geht in sein Zimmer legt sich auf sein Bett gut er hat sich wieder beruhigt jedenfalls will er sich ausruhen für den Moment ist alles getan alles gesagt ich bin froh und setze mich an seine Seite

Patrick weißt du ich will nicht dass Du dir selbst weh tust oder mir oder sonst jemand verstehst du das das hilft nicht schadet dir selbst wie die Sache mit der Glastür du hättest dabei sterben können hattest Glück dass keine Schlagader aufgeschnitten wurde die Schnittwunden waren so tief gingen haarscharf an den Pulsadern vorbei verstehst du das es hätte dein Tod sein können Patrick er hebt seinen Kopf ein wenig und fragt was heißt sterben was heißt es wie Tod du weißt es nicht was Tod bedeutet weißt du es nicht

er hatte keine Vorstellung davon das wurde klar wusste nicht was sterben bedeutete also gab es für ihn keinen Tod weil er ihn sich nicht vorstellen konnte nehme ich an keiner hatte jemals mit ihm über den Tod gesprochen

über das Leben meine Güte Patrick er weiß nicht wie es ist geliebt zu werden zu lieben kennt kein Bild der Ruhe in sich weiß nicht wen oder was er sieht wenn er sich im Spiegel betrachtet weiß nichts von Erholung von einem Tag am Strand unter Palmen weiß nicht was Wohlgefühl bedeutet Schutz Geborgenheit schwebt nicht über dem Boden in den Wolken weint nicht lacht nicht weiß nichts von Vernunft Anstand Achtung Respekt kennt keine Ausgeglichenheit Sicherheit weiß nichts von Vertrauen nichts vom Leben bis auf die Schmerzen nichts vom Tod ganz gleich wir sind zusammen hier im Getümmel ausgesetzt also geht es um dich und um mich

Benjamin Patrick unwirklich wie eine Wolke ein Winter über dem Fluss in der Erinnerung jeweils versunken im Schmerz verschlungen im Unheil Patrick weiß nicht dass er sterblich ist

also geht es um eine Erklärung

Patrick reißt sich immer wieder die genähte Wunde auf an manchen Tagen ist er blass wie die Wand kennt keine Achtung Schonung aber er spricht mit mir sagte dass ihm schlecht ist wir können ja mal miteinander spazieren gehen

Patrick oder etwas spielen wie du willst vielleicht legst du dich erst mal ein wenig hin ich bin da wenn du sprechen willst

Patrick will einmal ein großer Rapper werden darüber hat er auch mit mir gesprochen er will ganz berühmt werden auf der Bühne stehen alle sollen zu ihm hochschauen

Kinder Kinder immerhin er redet mit mir und Michael sagte heute plötzlich dass er weinen muss und traurig ist

ein Weihnachtsbaum wurde vom Heimleiter aufgestellt mit elektrischen Kerzen bruchsicheren Kugeln die Kinder schauen einen Film Hotel Transsilvanien zusammen gekauert

Simon ist mit dabei wo ist Michael ist verschwunden dann kommt Rike angerannt und sagt dass er davongelaufen wäre als sie den Müll rausbringen wollte wäre er davon gerannt die Straße entlang  nun sei er draußen

Rike ruft den Heimleiter per Handy an der heute dienstfrei hat was zu tun wäre er beruhigt sie das wäre schon öfter geschehen und er würde schon wieder zurückkommen wenn ihm kalt ist und er Hunger hat also keine Sorge

die anderen sechs Kinder schauen den Film nicht mehr lange dann wird es dämmern

Michael ist draußen in der Kälte wer weiß wohin er will heute sagte er noch dass er traurig ist und weinen muss jetzt ist er dort draußen ohne Winterkleidung der Heimleiter sagte wir sollten abwarten der wird bald wieder auftauchen also wir warten wie lange warten wir er kann nicht weit sein

ich werde ihn suchen werde raus gehen und ihn suchen bevor es dunkel ist wer weiß was geschieht ich gehe erst einmal die Straße entlang

ich gehe es ist kalt ein einziges zähes Bemühen um Ordnung Verständigung bald an der ersten Kreuzung

Michael die Frage wer hat ihn gesehen es ist keiner da alle in ihren Häusern wer weiß keiner hat etwas mitbekommen die alte Geschichte keiner kann irgendwelche Hinweise geben wohin es geht was geschah wo keiner gewesen sein will als es geschah aus den Fugen brach in der Spaltung  Zelle um Zelle Atom um Atom aufgespalten nun jedes für sich jeder gegen jeden

das alte Lied dieselbe Geschichte Generation auf Generation zurück verfolgt nach vorne verfolgt von klein auf geschlagen getreten gejagt hinaus in die Kälte vor Schreck Verzweiflung

Michael ich rufe Michael ich schreie Ruhe schreit mir jemand aus einem Haus zurück

die Ruhe die ist hin und weg also schreie ich weiter in die kommende Dämmerung hinein mit aller Kraft hat jemand ein Kind gesehen

wir vermissen ein Kind ich gehe weiter rufe in die Stille weiß nicht wer hier noch Licht ins Dunkel bringen könnte bis mir die Stimme versagt es langsam Dunkel wird kälter was zu befürchten war es tritt nun ein das fortschreitende Elend

Wort für Wort wer hört noch etwas das ist alles eine unsichere Sache das innere Gebäude auf der Suche wer gibt mir eine Art innere Sicherheit leicht gefragt auf der Straße ich weiß wenn ich davon spreche weiß davon worüber ich kein Wort verliere was mich treibt wer weiß ich gehe weiter

Michael rufe ich auf der Suche gehe weiter bin ich gegangen die Kälte ging mit ich höre die Ansprachen in meiner Geschichte es fließt zusammen kommen ist gemeint bleiben eine Anstrengung sich finden zusammen der eine den anderen jetzt

Michael draußen die Möglichkeiten sind beschränkt was fürchte ich kann es nicht sagen in dieser Aufregung ihr dreht euch nicht um was wollt ihr hören von dieser Wucherung im Winter draußen die Geschwulst welches Wort es gibt kein anderes das es trifft die Sache zur Annäherung kann es nicht beim besten Willen diese fortlaufende Lektion nichts anderes im Angebot die Geschwulst wenn sie zu pochen beginnt leuchtet in allen Farben obwohl es wurde herausgeschält ausgeschabt Michael wo bist du es verfolgt mich ohne Frage das eine andere besser es wäre bereits ausgeschöpft zum Glück es kann nicht mehr lange dauern ich gehe weiter was soll ich tun ich schreie Michael in diesem Augenblick nichts zu sehen womöglich gehe ich im Kreis geht er im Kreis gehen wir im Kreis wie ich denke es ist meine Pflicht zu schreien weiter zu gehen wenn ich aufgebe werden alle aufgeben denke ich in diesem Moment wer wenn nicht ich

Michael wo bist du ich gehe weiter schreie suche will es versuchen zusammen kommen Kontakt aufnehmen ich weiß auf den ersten Blick von wem in welchem Augen es nicht steht das eine das andere unvergleichlich keine zwei gleichen Augenpaare im All keine vergleichbaren Augenblicke wie also zusammen kommen unter diesen Umständen beim besten Willen ich will es versuchen absurd genug wovon ich spreche von der Geschwulst bei Licht betrachtet die ich bin in Scheiben geschnitten die Löcher nicht zu bestimmen nicht die Spur einer eine Aufregung wert im Grunde

Michael wovon ich spreche mit mir selbst wie jetzt in aller Stille ein Meer von Stimmen ich wiederhole ein fortdauerndes Wuchern nicht zu fassen diese Kälte draußen in Wirklichkeit ist es noch schlimmer nur der Anfang das lange Ende wird folgen

Fieber Schüttelfrost ich breche zusammen es kann nicht mehr lange dauern dann bricht das System vage gesagt ich kenne meine Aufgabe im Grunde sie wächst mir über den Kopf

das Immunsystem bereits am Boden die schmerzende Rippe zu viel Schlamm auf einmal in der Vergrößerung

Michael er hat keine Winterkleidung es bricht der Frost in die Nacht herein wenn ich liegen bleibe ist es zu Ende

Michael in naher Zukunft das gefrierende Dunkel ich spüre es gibt keine Liebe mehr unter diesen Umständen den anderen wie es war sein wird wie es ist diese kalten Stimmen auch ich werde sie nie gehört haben wirklich nie mehr hören was war nicht eingebildet der weiße Atem der Schreie

 

 

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Winterdienst, Trauma Prosa und Gedichte von Norbert Sternmut. edition monrepos 2020

Norbert Sternmut gehört ohne Zweifel zu den begabtesten Lyrikern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In seinen Gedichten entfaltet er einen beziehungsreichen Hexensabbat der Vergänglichkeit, in dem Dinge und Menschen einander er- hellend und ver dunkelnd, gleichermaßen zu reden beginnen. Aber darin, dass es Sternmut gelungen ist, „den Austausch/ der Klopfzeichen/ auf die Nullinie“ mit geradezu materieller Intensität zu präsentieren, liegt sicher eines der wesentlichen Verdienste seiner Lyrik, die damit beispielhaft Czeslaw Miloszs These bestätigt, dass man die Möglichkeit der Philosophie in der Wirklichkeit der Lyrik realisiert finden kann.

Jürgen Hachmann

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Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.