Die Uhr

 

Eines Abends – in der Zeit der Dämmerung, wenn die Autofahrer das Scheinwerferlicht einschalten – geschah das Schreckliche, das Mama Louise immer befürchtet hatte. Carl kam nach einem Vortrag über die Bundesrepublik als Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs mit der Straßenbahn aus Godesberg zurück. Er stieg am Hochkreuz aus und ging, ohne nach rechts oder links zu sehen, schräg über die B9, um den Weg zur Hochkreuzallee zu verkürzen. Der Fahrer des Personenkraftwagens, der ihn überfuhr, hatte den alten Mann im dunkelgrauen Mantel nicht gesehen, oder zu spät, oder angenommen, der  Fußgänger passiere die Straße noch rechtzeitig.

Carl wollte verbrannt werden. Mama Louise lud zur Trauerfeier im Krematorium des Kölner Westfriedhofs ein, das innen wie eine Kapelle gebaut war. An der Stelle des Altars stand der große Feuerofen, in den man durch eine Glaswand hineinsehen konnte. Janus glaubte zu sehen, wie sich im lodernden Feuer der Leichnam entzündete. Er hörte das Knistern. Hokus pocus, malus jocus … Janus spielte den Hänsel. Dresden, die Elbwiesen, der Zwinger, die Hofkirche, ganz oben war er, wie August der Starke, der einen Diener zum Fenster hinaushielt und fallen zu lassen drohte, weil er aufmuckte. Janus verbrachte den vorletzten Sommer im Ferienheim. Die Kinder bastelten für die Aufführung einen Ofen, stellten Kerzen hinein und zündeten sie an … Nun lag der Großvater im Ofen. Erlöst, befreit, für alle Zeit. Der Feuerschein strömte zu Janus und wärmte ihn. Hokus pocus Holderbusch, schwinde, Gliederstarre, husch! Der Großvater stieg für immer zum Himmel auf. Den Rauch erfasst der Wind, der Wind, das himmlische Kind … Carl brannte so leicht wie Papier. Janus sah vor seinen Augen schon die Asche. Er war nicht traurig. Nun hatte er das Zimmer für sich allein. Carl schnarchte nachts so laut und brummte seltsame Melodien, bevor er einschlief. Janus verstand die Worte, die der Großvater vor sich hin murmelte, nur bruchstückhaft: „In fernem Land …“

Das Trauer-Harmonium spielte „Ich trage, wo ich gehe, stets eine Uhr bei mir …“ Da spürte Janus, wie sehr er am Großvater hing. Er erinnerte sich an die Uhr, die ihm Carl schenkte, als er sieben Jahre alt wurde. Aber die Uhr besaß er nicht lange. Auf dem Weg zur Saale nahmen ihm ältere Kinder die Uhr weg. Er lief weinend nach Hause, und Carl schenkte ihm seine alte Taschenuhr, die trug er nun in der Hosentasche. „Sei nicht traurig“, sagte Carl, „sie haben dir nur die Uhr gestohlen, aber die Zeit hast du behalten!“ Oben auf der Empore sang Carls Freund Buchholz unsichtbar das Loewe-Lied von der Uhr zu Ende.

Doch stände sie einmal stille,

Dann wär’s um sie geschehn,

Kein andrer, als der sie fügte,

Bringt die Zerstörte zum Gehn.

Am Abend wurde Janus schnell müde, er legte sich früh ins Bett und las, bis ihm das Buch aus der Hand fiel, knipste die Stehlampe aus und wartete auf den Sandmann und die vierzehn Engel, die er als Einschlafbilder mit unter die Decke nahm. In der Nacht hatte Janus einen Traum, den er keinem erzählte, noch nicht einmal Mama Louise. Er überlegte, ob er ihn Elfi verraten sollte. Aber dann entschied er, es lieber nicht zu tun.

Janus betrat die Vorhalle der Höhle, in der ihm ein reich gedeckter Tisch entgegen leuchtete. Er starrte auf das leere Trinkglas neben der mit Rotwein gefüllten Kristallkaraffe auf dem weißen Damast in der Mitte der Tafel, an der ein einziger Schemel stand. Auf dem Tisch brannte eine flackernde Kerze, die manchmal zitterte. Seine Schritte wurden schneller, ohne dass er die Beine willentlich bewegte. Ein altes Weib, eingehüllt in weite rostrote Tücher, kauerte im Hintergrund auf felsigem Boden, wo sich die Halle verengte und ein matter Lichtstrahl aus dem Inneren fiel. ‚Ich habe Durst’, sagte Janus. ‚Ich weiß’, antwortete das alte Weib, forderte ihn jedoch nicht auf, sich an den Tisch zu setzen. Aber da saß Janus plötzlich auf dem Schemel, während das Weib den Wein aus der Karaffe in sein Glas goss. Er hob das Glas zum Mund und trank es in einem Zuge aus. ‚Der Wein wirkt schnell’, sagte er, ‚er tut mir gut.’ Ihm drehte sich alles. ‚Wo bin ich?’ Der Kerzenschein fiel auf das Gesicht der alten Frau, das Janus plötzlich bekannt vorkam. Sie sah jetzt nicht mehr so alt aus. ‚Ich warne dich’, sagte sie, ‚wenn du tief in die Höhle eindringst, verlierst du dich. Die Zeit vergeht dort schneller, sie rast durch dein Hirn. Dagegen ist dein Schwindel, den du jetzt spürst, noch gar nichts.’ ‚Ich will’, sagte Janus, ‚ich habe keine Angst.’ ‚Das werden wir sehen’, sagte die Frau, die jetzt noch jünger schien als eben. Sie ging voran und zeigte in die Tiefe der Höhle. ‚Nun musst du allein weitergehen’, sagte sie. Ihre Stimme klang so vertraut, dass sich Janus noch einmal umschaute. Er sah in Mama Louises liebevolle Augen. Eine Täuschung, die der Wein verursachte? Er wandte den Blick schnell wieder nach vorn. Seine Füße flogen nicht mehr über den Boden wie vorhin, er wurde schwerer; und je tiefer er in die Höhle eindrang, umso langsamer bewegten sich seine Beine. Im grünlichen Zwielicht sah er kaum den harten, unebenen Boden. In der Ferne wurde das Licht stärker. Mit der Zeit gelangte er in eine große Halle, deren Wände blaues Licht verströmten. Auf einem Marmorthron saß ein Jüngling, den er aber im Gegenlicht nicht erkennen konnte. Rings um den Thron lagen die Kronen von Kaisern und Königen, verbogene Lanzen, rostige Kanonen, zerstörte Burgen und Paläste, versunkene Städte, zerbrochne Guillotinen … die Trümmer der Zeit. ‚Komm näher’, sagte der junge Mann auf dem Thron, ‚du kennst mich.’ Kälte floss vom Felsboden in seine Füße und stieg den Leib hinauf. Und mit der Kälte kam auch die Angst. Mühsam erklomm Janus die drei Stufen des Throns. Der junge Mann griff nach seiner Hand, zog ihn fest an sich heran, sah ihn ernst und liebevoll an und umarmte ihn … ‚Carl’, sagte Janus und erwiderte die Umarmung. Carl sah aus wie auf dem Foto, das Janus so sehr liebte, wo Carls Kopf zu glühen schien vor lauter Begierde nach Louise. Nun zog Carl einen silbernen Spiegel aus der Jackentasche und hielt ihn Janus vors Gesicht. Janus nahm ihn selbst in die Hand – er begriff nicht, was er im Spiegel sah. Ein alter Mann schaute ihn an, das Gesicht zerfurcht, der Mund eingefallen, die Haare schütter und weiß, die Adern geschwollen, die Augen schon fast hohl. Janus will den Spiegel wegwerfen, aber der Spiegel bleibt wie angewachsen. Und Carl ist verschwunden. ‚Mich wirst du nicht los!’, hört er den Spiegel rufen. Janus verliert das Bewusstsein und sinkt zwischen den Schutt der Zeit in einen Haufen faulender Bücher. Aber er erwacht wieder, steht auf und schleppt sich mit letzter Kraft heraus aus dem Blauschleier der Halle und durch den Grünschimmer der engen Gänge zurück zum Ausgang. Die Kälte fällt von ihm ab, die Beine laufen leicht, die Füße schweben zuletzt fast über dem Grund, auch die Angst ist wie weggeblasen. Nun wächst seine ganze Kraft. Und wo ist der Spiegel? Janus denkt nicht daran. Er sieht das Licht der Welt, wo ihn die junge Frau schon erwartet, ein Glas funkelndes Wasser in der Hand. ‚Trink’, sagt sie, ‚aber verschluck dich nicht.’

 

 

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Weiterführend → Lesen Sie zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.