Der letzte Weg

Der griechische Gewichtheber Kounellis, der vor der gesamten Weltelite der Kraftdisziplinen bei dem leichtfertigen Versuch, den Diskuswerfer, eine antike Bronzestatue im Museo Nazionale Napoli, vom Marmorsockel zu stoßen und zum Ruhme des Sports über sein Haupt zu reißen, starb, weil die Figur, die er an der rechten Hüfte und am linken Oberschenkel fasste, im Schwung nach oben sich unglücklich drehte und der rechte Arm – eben noch schleuderte er den Diskus ins Weite (in atto di aver lanciato il disco), aber die Augen des waagrecht in die Luft emporgehobenen Athleten konnten nicht mehr dem Flug der Scheibe folgen, sondern schauten nun zu Boden, während die linke Hand des Gewichthebers den Halt an der glatten Hüfte des metallenen Werfers verlor und ins Leere glitt – traf den Kopf, als wollte er ihn wegen dieser anachronistischen Störung ohrfeigen, so fest, dass Kounellis erst das Bewusstsein, dann endgültig die triumphierende Haltung verlor, die er immerhin für den Bruchteil einer Sekunde erreichte, der für das um die ganze Welt gehende Foto nötig war, schlug mit dem Rücken auf den harten Steinboden, bis die in seiner rechten Hand ruhende schwere Bronze, als trüge er immer noch den schönen Körper des römischen Jünglings, auf seinen Brustkorb fiel und ihn vollkommen zerschmetterte.

Vier türkische Simultangewichtheber, Zeugen des schrecklichen Falls, trugen nackt den Sarg ihres großen Kollegen zu Grabe. Kounellis, der kein Testament hinterließ, sollte auf dem Grundstück des Museums in Neapel beerdigt werden, ein folgenschwerer Vorschlag des Internationalen Olympischen Komitees, den die kunstsinnige Familie Kounellis wie die gesamte Sportwelt guthieß, denn Sport und Kunst bildeten schon in der Antike eine Einheit mit Kommerz und Politik oder mit dem ganzen Leben – und ist nicht diese Einheit heute so konsequent zu Ende gedacht, dass die Labore, in denen der Stoff der athletischen Träume hergestellt wird, zusammen mit den Börsen zu den wahren Tempeln unserer Zeit gehören, sodass man endlich sagen kann, die Religion des Übermenschen, der hier entsteht, ist die Kunst des Sports, die den Körper im doppelten Sinne aufhebt, und der Sport nichts anderes als die Expansion des Gehirns bis an den Rand der Haut?

Die virtuosen Sargträger trugen Kounellis in einem antiken Sarkophag aus Marmor in den Skulpturengarten des Museums, auf seinem letzten Weg begleiteten ihn die Staatspräsidenten Italiens und Griechenlands, die höchsten Funktionäre des Weltsports, alle lebenden Olympioniken der Gewichtheber, seine Familie und fünf Bläser der Fanfaren, dazu Reporter der gesamten Weltpresse und das Kamerateam der exklusiv sendenden Sport-Television.

Als der Zug mit dem Sarg an der Spitze in die kleine Allee der Lorbeerbäume eingebogen war, begannen die Simultankünstler, die mit leicht federnden Schritten den Sarg durch die Luft trugen, als schwebte er, in der scharfen Sonne des frühen Morgens zu tanzen, die Schatten ihrer langen Körper, die wie Marionetten von einem schwarzen Himmel gelenkt zu sein schienen, zappelten unter dem Sarg, an dem sie hingen, huschten zwischen den Baumstämmen über den Weg, hielten auf einmal inne, warfen den Sarg höher ins himmlische Blau, sprangen in den Handstand, fingen den fallenden Sarg mit den Füßen wieder auf, die ihn nun trugen, während sie auf Händen langsam weiterschritten – Achtung! der Sargdeckel! Wenn sie mitten in ihren Todesriten stolperten und der schwere Stein stürzte! -, aber schon tanzten sie weiter auf Händen, ach was! dachten alle, citius, altius, fortius – den nächsten Sarg tragen wir wie lebende Räder in die Grube – die Füße stießen den Steinkasten zur Sonne, da fuhr, als die vier Kraftmenschen mit einem Ruck in den Stand springen wollten um den Sarg wieder auf Händen zu tragen, mitten in ihre Bewegung der unabgesprochene Fanfarenstoß mit der Todeshymne, die sie verwirrte – heulte der Tote im Sarg? zeigte der entsetzlich knarrende Ton an: Der Versuch war ungültig? – : Sie versprangen sich, fielen auf den Rücken, mit den Köpfen unter den Sarg, der die zermalmten Schädel in die weiche Erde stieß.

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.

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