Terres

Verblutung. Wer an das Göttliche glaubt, glaubt doch nur an sich selbst, sagt Terres, der Orgler, der Glasperlenspieler und Komponist des Selbstgesangs.

Im Herbst war die neue Orgel fertig, gebaut nach seinen Plänen. Eine Orgel ist eigentlich nie groß genug, dachte er. Die Musik kommt dahin, wo sonst nichts mehr hinkommen kann. Terres dachte an das Nichts. Ich will versanden. Ich bitte die Ärzte, gebt mir den kleinen Stoff, der mich ins Nichts hineinrauscht, ich will nicht mehr. Warum gebt ihr mir nicht das finale Pulver? Ich kann mich nicht in die Wanne legen. Ich weiß, ich weiß, ich kann mir die Ader im Arm aufschlitzen und sterben wie Seneca. Ich liege im warmen Bad, das Blut fließt langsam aus dem faulenden Körper, aber wie komm ich dann aus der Wanne wieder raus? Der Tod liegt auf meiner Wirklichkeit. Terres spürte, wie das Nichts zu ihm kam, das er so oft schon ersehnt hatte. Morgen bin ich tot – eleison! Das Leben ist ja weniger als ein Mückenschiss. Ich habe nichts verloren, wenn ich tot bin. Das dachte er Tag für Tag, wenn er seine Augen an die Fassaden der Kathedralen heftete und ihr Maßwerk in Musik verwandelte. Mein Licht wird immer matter, aber ich brenne, ich schreibe, schreibe, schreibe, damit ich nicht ganz untergehe, wenn ich verasche, ich schreibe die Noten gegen das Nichts, meine Blutkritzeleien, bevor die Augen wegrollen, bevor mein Hirn vertrocknet. Das ist alles so paradox! Terres wollte sterben, aber wenn der Tod ihn einlud – komm mit, du Schläfer in deiner Orgel, die so viel Luft braucht, du Peitscher, Tonfarbenmischer du, Mixturenschläger, ach, glaubst du wirklich, dass ich dich erschlage –, dann wollte er nicht sterben, nicht jetzt, nicht so, aber mit einer schnell wirkenden Pille sofort. Gestern war ich in der Zukunft, dachte er. Heute bin ich zurück. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich will nicht leben, ich will tot sein, weil ich nicht elend verrecken will, mich hat ja keiner gefragt, ob ich leben will. Ich wollte, als ich da war, als ich ungefragt leben musste, meinen Körper loswerden. Mein Fleisch verfault, die Augen sind schon trüb. Die ganze Zeit arbeite ich gegen meinen Tod. Orgelfürze. Ich habe Angst, ich verstinke. Nach der Ewigkeit liege ich bei den Irrtümern.

Terres dachte, er kippt jetzt um und verliert das Bewusstsein, so sehr verdünnte sich die Kraft. Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf, dass er genauso ungefragt wieder ging, wie er kam. In diesem Augenblick wollte er leben, nicht ganz, nicht alles, nur der Kopf, nicht der Körper, nicht die faulenden Füße, nicht die gezeichnete Haut, nur das, was in ihm dachte, fand, erfand, erschuf, das sollte sein – eine musikalische Chiffre für den Schluss. Terres schlug ein Buch auf, suchte einen trockenen mathematischen Cantus…

Was Gott tut, das ist wohlgetan; | es bleibt gerecht sein Wille. | …

Der Text war ihm egal, die Melodie aber war stark. Terres schrieb die Noten in die Linien. Absurd das alles, ich ende, ich schreibe jetzt das Letzte, das ich sagen kann, von meiner Hirnschwarte runter. Die Götter tropfen von der Leine. Bald bin ich tot und schweige… Er kritzelte den Chorsatz nieder und vergaß sich. Er dachte nicht: Ich will mich erschaffen in meinem Werk. Er dachte nur: Ich muss die Noten sauber schreiben, kopieren und jemandem bringen.

Terres ging in die Nacht. Er trug nur seine Haut. Und die Noten. Weg sein will ich, weg. Das ist alles. Er wankte. Das war’s gewesen. Es kommt nichts mehr.

Das ist alles so ein ungeheurer Scherz, dachte Terres, die werden doch alle glauben, wenn ich tot bin, dass ich in meiner letzten Stunde auf einmal doch noch angefangen habe zu glauben, zu glauben, wo Gott doch schon tot war, als er geboren wurde, und dass ich fromm geworden bin auf der Zielgeraden – weit gefehlt, da irren sich aber alle, und so entstehen die Legenden, die alle falsch sind, immer. Gott verschwindet, sage ich, noch nicht einmal in meiner Musik, auch wenn ihr mich nicht hört, dachte Terres, weil nicht verschwinden kann, was es nicht gibt – außer mir.

Misten. Bis zu seinem Tod hatte Terres den Stall, das Haus mit der schwarzen Tür, mit herkulischer Kraft gemistet. Ich muss mir einen Wahn ausdenken, sagte er immer wieder, nach dem ich leben kann. Da lagen die Werke alle auf dem Boden, im Flur, in allen Zimmern, bis ins Bad hinein waren sie von Mal zu Mal gefallen, wenn Terres in seinem Schreibwahn durch die Räume ging und gegen die Sedimente stieß, die auf allen Kommoden, Tischen und Stühlen lagen, auf dem Flügel auch.

Im Winter heizte er nicht. Das ganze ausgetrocknete Papier entzündet sich fast von selbst, sagte Terres, als ihm der Bürgermeister vorschlug, die alten Kanonenöfen mit Briketts zu befeuern.

Wichtiger als das Glück, dachte er, ist der Schmerz der dauernden Geburten! Ich bin nur glücklich in meinem Unglück… Terres fror nicht. Kälte trieb ihn an, Wärme macht faul. Das Bisschen Wärme und Durchblutung, damit die morschen Knochen nicht zerbrachen, erzeugte er mit der Kraft seiner Einbildung. Die Hand schrieb den Körper warm. Ich höre meine Musik, ehe die Noten in den Linien stehen, sagte er, Seiltänzer und Linienturner, da wird mir schon wärmer. Wenn ich den Abgrund aufmache, den Höllenschlund meines Ichs, das die Apokalypse der Weltseele widerspiegelt -, wenn die Seelenmathematik, die ich schreibe, in mir brennt -, dann wird mir so heiß, dass ich mir die Kleider von den Gliedern reiße. Ich grabe mich ein im geschichteten Papier, das mich kühlt und beruhigt, das die rote Farbe, die mir in die Augen stieg, wieder auswäscht. Ich brauche keine Badewanne.

Eines Tages – Terres schläft ein in den Seiten, nur der Kopf schaut heraus – besucht ihn der Auslöscher und will die Blätter anzünden. Aber nichts brennt. Terres wacht auf. Steigt aus dem Papier. Steht nackt und weiß im Flügelzimmer. Er brennt, die Flammen schießen wie bei einem Feuerschlucker, der ausatmet, aus dem Schwanz zu den schwarzen Tasten des Klaviers. Aber die brennen auch nicht. Musik erklingt. Jetzt brennt es heraus aus dem Nabel, dann aus dem Mund, Terres wird zum Feuerofen, immer roter. Aber der Mann steht, und die Hand schreibt eine Komposition in die Luft. Der Schwanz, ganz schwarz, verkohlt, fällt vom Leib, die Zähne klirren auf dem harten Holz, dann fallen die glühenden Augen zu Boden und kullern ins Papier, aber nichts entzündet sich im Zauberberg der Notengletscher, noch immer steht der Mann aufrecht zwischen den Bergen, ganz verloren auf dem Gipfel der Ebene …

Terres stirbt. Terres stirbt Tage und Nächte, das Haus wird heißer und heißer, die Papiere krümmen sich, aber sie brennen nicht, aus den Fenstern sprüht das Licht der Musik wie ein feiner roter Nebel. Mitten in der Nacht.

Der ganze Ort strömt zusammen auf dem Platz vor der Kirche. Das Licht, das der Sterbende aus dem Haus wirft, prallt gegen die Westfassade der Kirche und erleuchtet den ganzen Platz.

Die Menschen summen auf einmal alle. Leise zuerst. Kammerton. Dann steigt der Ton, wie eine Sirene, immer höher, ganz langsam schwillt die Stärke an, die versammelte Stadt wird zum Chor, ein großes Halleluja dröhnt über den Platz. Sie singen alle Notenberge, die Terres schrieb, gleichzeitig, alle Werke tönen aus tausend Kehlen, eine Tausendfuge, geschmolzene Polyphonie.

Hirn im Schädel. Terres sah nicht die vielen, die auf dem Platz im Schein der Musik standen, aber er hörte sie. Und wenn ihm die Ohren wie welkes Laub vom Kopf zur Erde fielen, er hörte alles. Es war alles in ihm. Der Gesang der Stadt war seine Schöpfung. Sie sangen stark. Verausgabung. So laut. So ein kollektiver Schrei, so unerhört, dass Terres glaubte, bald leben sie nicht mehr, sie sterben noch vor mir. Sie hatten Pech, sie starben nicht an ihrem Glück und mussten weiterleben.

Terres trat ans Fenster im ersten Stock. Da stand er und glomm. Kalt strahlte Abrahms Bart. Das Geziefer drin fror nicht. Von innen kam das Schwarze und griff nach dem Rot, stopfte das Maul ihm und schnürte den Hals zu. Terres bekam keine Luft mehr, schluckte das eigene Feuer, in dem er ertrank. Ich saufe die Funkenbrühe hier, dachte er zuletzt, und weiß nicht, ersticke ich oder ertrinke ich nun, oder ist es dasselbe.

… die Frau am Kreuz gebiert den neuen Menschen! Terres fühlte, wie die Frau sich in den Wehen wand, die stahlblauen Nägel hielten die Zeugung zusammen, der Schmerz war süß. Er schmeckte das Blut, das aus Händen und Füßen zu Boden rann. Gleich schreit die Wunde, dachte Terres, gleich singt er mit, der neue Mensch zwischen den Beinen. Da fällt er heraus! Das Weib schließt die Augen, während das Kind ins Rote taucht, aufsteht und lacht. Dann rennt es davon und dehnt die Nabelschnur und zieht sie über die ganze Erde, bis sie reißt, sie reißt, sie reißt mit einem saugenden Zischen die Luft über dem Platz weg, Atemnot, das Kind stürzt auf die Steinplatten, reibt sich an der Erde wund, steht wieder auf und schaut dann hinauf in den Spalt des Nichts. Da hat sich der dunkle Himmel versteckt. Die Luft, die zum Singen jetzt fehlt. Nun schnappen alle nach der Leere, beißen sich fest in der Tonlosigkeit des Spalts und spüren, wie ihnen die Kraft aus dem Leib schießt. Gleich kippen sie um, denkt Terres, liegen flach mit ausgestreckten Gliedern auf dem Platz, zwischen mir und der Kirche, zwischen Erde und Himmel, luftlos, schmerzlos, sang- und klanglos, matt und schon so gut wie tot. – Dann aber klingt die Leere selbst! Und alle hören, wie die Tochter ihr Lied ans Kreuz nagelt.

Die Bilder trennen sich von den Inhalten – die Musik ist gelöst von allen Bildern.

Draußen stampft die Masse auf dem Platz mit den Beinen im Rhythmus des Atems, Schluck um Schluck zuckt das Feuer dünner im Hals, Terres verliert den Halt auf den Füßen, stürzt nach vorn, hängt mit dem aschenen Körper über der Fensterbank – bis zuletzt der Rumpf nach unten fällt, vor die Stufen der schwarzen Haustür, die schon verkohlt war, ehe sie nun noch einmal brennen muss. In diesem Moment stehen sie still, alle, der Gesang erstickt, die Beine ertrinken im Schritt.

Verwurstung. In der Wurstfabrik. Hier werden die Leiber aufgestallt, das sehen Sie dann. Wir gehen jetzt immer von einer höheren in die niedrigere Hygienestufe. Auf der höchsten kommen die Würste fertig aus der Maschine. Die Verpackerinnen berühren sie kurz mit weißen Handschuhen. Auf einem Aussichtssturm sitzt ein Mann und überwacht die Packerinnen. Dann steigen wir hinunter. Kompliziert vernetzte Förderschienen, zahllose rohe Fleischstücke schweben durch den Raum.
Terres schaut von oben auf das Schienengeflecht, Männer, die weiße Hüte tragen und jedes Fleischstück mit Messern öffnen. Hier sehen Sie die Schlachthälften, sagt der Schlachtmeister. Viel Lärm, Motorsägen, Haken, die aufs Blech knallen, Schlachthälften baumeln an Haken in langer Reihe. Auf dem Förderband grob behauene Stücke, Arbeiterinnen entknorpeln Hüftknochen in ein Bodenloch. Wurstfleisch aus der Feinzerteilerei. Brühkessel. Vom Band tropfen feuchte Stücke. Der Boden glitschig – dünner Film zermalmter Schnecken. Karren voller roter Chips. Blutplasma, sagt der Schlachtmeister. In der Halle schreie ich, ich sehe Dampf. Der kommt aus dem Fleisch, das ist die Wärme nach der Zerteilung. Sägen kreischen, Dampf brüllt, Wasser zischt. Dann die Borstenbrennmaschine – aus der Trommel kommt der Lärm der Schlachtkörper, die rotieren über der Gasflamme.

Terres denkt: Hier ist alles wie Glas, alles ist klar, ich sehe mir an, wie sie mich verwursten, aber wenn sie mich verwursten, verwursten sie sich selbst. Die sind auch nur aus Fleisch. Zum Ende… Zum Ende alle Dinge so betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung sich darstellen, das ist es! Erkenntnis hat kein Licht! Mein Gott, der Schlachtmeister, schön bist du, agios o theos, sanctus Deus, sanctus fortis, agios athánatos, eléison imas, sanctus immortalis… Wie schön bist du, Schlachtmeister, ich will deine Haut streicheln. Du bist schön, dulce lignum, so schön, ich will dich, denkt Terres, als er zusieht, wie der Schlachtmeister die Risse und Schründe offen­bart, ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus. Darauf allein kommt es dem Denken an, denkt Terres. Die Technik in dieser Fabrik ist das Allereinfachste. Terres ahnt, wie sie, einmal ganz ins Auge gefasst, zur Spiegelschrift ihres Gegen­teils zusammenschießt. Er erkennt nun den Schlachtraum als Kirche seines Lebens. Vor ihm steht der junge Schlachtmeister, den er liebt, der nichts weiß von dieser Liebe. Durch den zarten Leib mit Wut * bohr ich Dorn und Nagel * Wasser fließt heraus und Blut * Erde, Meere, Sterne, Welten * waschen sich in dieser Flut. Terres ist heiß, das Blut steigt ihm zu Kopf. Ich allein bin ausersehen. Das ist mein Schlachtaltar. Das ist meine Arche, da bin ich dem Untergang entrissen. Schlachtmeister, spanne dein Glied aus auf zartem Schaft! Aber es ist ganz unmöglich. Ich will ihn berühren, ich will eine Antwort vor der letzten Verneinung, aber er schaut gar nicht zu mir hin.

Ich spüre: Je leidenschaftlicher ich mich gegen mein Bedingtsein abdichte um des Unbedingten willen, umso bewusstloser falle ich. Ich weiß nicht, was ich mehr liebe, die Musik oder die Menschen. Jetzt sehe ich nur noch Symbole, alt bin ich, wo ich kaum noch sehe, was ich sehe. Wie schön die dreigeteilte Schlachtbank! Die Technik der Tötung ist die Theologie unserer Zeit. Ich bin Abraham! Ich bin Isaak! Ich töte mich. Meine eigene Unmöglichkeit muss ich noch begreifen um der Möglich­keit willen. Ob ich mich erlösen kann, ist mir egal.

Hier werden die Stücke gewaschen, sagt der Schlachtmeister, hier schlittern sie aus der Borstenbrennmaschine, hinter dieser Tür. Sind da Haare? Terres! Ist das Blut? Diese ernste Halle ist nur eine Naht zwischen Fleisch und Tier, ein Übergang. Hier sehen Sie, wie der Arbeiter die Augen aussticht, gleichzeitig hören wir die Schlachtung. Was ist denn das?

Die Königin der Nacht, sagt der Schlachtmeister, spitze Koloraturen im Sprühregen der Sprenkleranlage. Sanft berieselt sollen sie entspannt auf die Schlachtbank, wir wollen Qualitätsfleisch. Da ist die Betäubungsbucht. Hier das Schlachtband, eine Röhre. Schreie aus den Betäubungskörben. In der Röhre bewegen sich zwei Leiber vorwärts, stauen sich, warten, rücken vor. Zwei bewusstlose Schlachtkörper rutschen auf ein Blech. Zu eng. Manchmal kriecht der eine Körper auf den Rücken des anderen. Sie laufen ins Helle. Ich renne weg, schwebe in den Schacht zum Kohlendioxyd-See, in dem ich versinke. Ein Arbeiter schlägt mich mit dem Morgenstern. Die Dornen sind stumpf, sagt der Schlachtmeister. Ich krümme mich, kann nicht zurück und nicht nach vorn. Dann bin ich wieder wach.

Terres steht hinter dem Schlachtmeister. Ich stehe hinter dir. — Terres! Was tust du da! Terres! Agios o theos! Terres stößt den Schlachtmeister in den Schacht. Es war… Es war, als hätt die Erde, ich weiß nicht was ich tat, den Himmel totgeküsst… Ich weiß nicht, was ich tu. Kyrie eléison.

Der Schlachtmeister: Sehen Sie, dieser Mann hängt die Betäubten auf. Er treibt einen Haken durch die Fußgelenke. Vita tollitur. Kopfüber baumeln die Bewusstlosen an der Förderschiene in den Tod. Ein anderer Arbeiter steckt ihnen den Schlauch mit der Speerspitze in den Hals. In den Schlauch verbluten sie. Er nimmt die Lanze jetzt wieder raus. Blut sprudelt über seine Hände. Über einem gekachelten Trog hängen die Geschlitzten, rote Fäden am Hals.

Terres erschrickt nicht.

So, sagt der Schlachtmeister, ich darf Sie jetzt bitten.

Schlachtung. Terres zog die schwarze Ledermaske über die Stirn. Das Leder schloss die Augen. Zehn Schritte nur vom Hungerstall zur Nacht! sog und strudel. Es ist Zeit, dachte er, ich stehe auf dem Gipfel meines Lebens, jetzt falle ich am allerbesten. An der Tür zum Schlachtzimmer blieb er einen Moment stehen, unter den Füßen spürte er das Laub seiner Musik. bedrohung und angst. Oben unter der Decke war das System. Auf der Schiene lief das Rad, an dem die Stange hing mit dem scharfen Haken. versagen und zusammenbruch. Terres setzte den Federbolzen an die Stirn. Die Maske schützte ihn vor dem letzten Blick in die Welt. begegnung und angst. Die Beine knickten ein und der Körper sackte zusammen. Wenn die Kirche birst, scheint das Mauerwerk langsam ins Tal zu fallen. solidarität in der not. Terres trieb die Feder durch den Schädel ins Hirn. Er ließ sie vibrieren, dann zog er sie heraus. tuch und wahrheit. Er schlitzte nun mit dem Messer den Hals auf, das Blut floss ins Laub. Das ist der Wundrand. Die Zunge fiel ihm aus dem Mund.

Er schnitt die Zunge ab und hängte sie später neben den Kopf und die Leber. Kopf, Zunge, Leber hängen immer in einer Reihe. schlagstock und schreibtischkommando. Die Kiefer klafften. fluch und sinnlosigkeit. Auf dem Laub waren Flecken hellen, zinnoberroten Bluts, der Farbe des Mohns. Terres lag auf dem Rücken. schwäche und zusammenbruch. Im Stich gelassen von Blut und Hirn, krümmte sich der Körper, die Beine stießen in die Luft. entblößung und entsetzen. Dann schlitzte er die Beine auf und steckte die Haken hinein, drückte den Knopf und setzte den elektrischen Hebezug in Gang. aufspießen! annageln! Der Körper wurde hochgezogen und auf dem Rücken in den Wagen gesenkt. Unter der Haut ist die Haut weiß. verzweiflung und tod. Er öffnete sich vom Hals bis zum Schwanz, bis er zu einem aufgeknöpften Mantel wurde. Dann zerhackte er das Brustbein. Er wird Fleisch. erstarrte gesichter der trauer. Er schiebt sich an der Schiene zur Waage. Drei Euro das Kilo. Er bekommt nichts für die Zunge, die Leber, den Kopf, die Därme. umkehrung und offene himmel.

Bierbeißer

Ich bin für mich die letzte Instanz

Das ist auch eine Kunst, dachte Terres, als er sich in den Auslagen der Metzger sah. Die Farbe des Fleischs in den gekühlten Glastheken ist die Farbe meiner Kunst. In der ganzen Stadt verkauften sie die Terres-Würstchen und Bierbeißer. Das Fressen ist die Hauptsache im Leben. Aber das Fressen ist nur ein Weglaufen vor dem Tod, genau wie die Arbeit des Künstlers, meine Arbeit. Da haben sie mich nun verwurstet und fressen mich noch einmal auf. Terres stellte sich in die lange Schlange vor dem Geschäft des Metzgers. Was trieb die Leute so an, was war dran an den Bierbeißern. Das wollte er wissen.

Darf es etwas mehr sein?, fragte die Verkäuferin, als sie den Aufschnitt wog. Terres fand die Frage, von seinem Standpunkt aus betrachtet, dilettantisch, vom Geschäftsinteresse her aber nicht so falsch. Ob ich alles aufesse, steht ja sowieso auf einem anderen Blatt, dachte er. Ja, sagte er. Das macht genau einhundertsieben Euro, sagte die Frau. Schreiben Sie an, sagte Terres, soviel Geld habe ich nicht bei mir. Tut mir leid, sagte die Frau, wir schreiben nicht an. Sie kennen mich doch!, sagte Terres. Das spielt keine Rolle, sagte sie, wir haben genug Kunden. Das war ungeheuerlich. Warum kaufen die Leute nicht die billige Wurst? Satt werden sie doch dann auch. Ich weiß auch nicht, sagte die Verkäuferin, die Leute machen Schulden bei der Bank, alle wollen Ihre Wurst, vor allem die Bierbeißer gehen weg wie warme Semmeln. Warme Semmeln, dachte Terres, ich bin doch keine warme Semmel. Terres verließ den Laden. Gut dass ich nichts gekauft habe, sagte er sich, es wäre zu eitel gewesen. Er ging durch die Stadt, überall Schlangen vor den Geschäften. Sie verkauften ihn auch beim Bäcker, in der Eisdiele, in der Drogerie, in den Restaurants.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, das wusste er schon lange. Wieviel Brot habe ich gebraucht in meinem Leben? Er ging auf die Kirche zu. Die Füße taten ihm weh. Das Westwerk stach in die Augen, da wird mir noch schwindliger als bei Richters grauen Schwindelbildern. Er ging zu seiner Orgel. Die ist mein bestes Bett. Auf dem Altar stand der Kopf. Terres ahnte, was er sah, da stand der Kopf, der Priester hatte alles vorbereitet, Töpfe, Schalen, Löffel, Messer, Gewürze, alles stand auf dem weißen Stein. Darüber das Kreuz. Das ist mein Kopf! Terres griff mit der Hand zum Hals, da ließ er die Hand ruhen. Ich will es nicht wissen.

Man nehme einen Kopf, sagte der Priester, als er den eisernen Großtopf auf das offene Feuer stellte – er nimmt doch nicht das ewige Licht? – und mit dem Messer das Maul und die Fettbacken ausschnitt, mit dem Schlagbeil die Ohren abhackte, die Hirnschale ausgoss, Zwiebeln zugab mit Nelken und Lorbeerblatt, während der Ministrant zur Rechten aus seiner kleinen Hand die Senfkörner schüttete, der Ministrant zur Linken einen gestrichenen Löffel mittleren Knatsch zugab, bis das Salzwasser kochte, aufschäumte, verdammt, Terres sah nichts mehr, das Ohrläppchen setzt an, das absolute Ohrläppchen!, flach auf den Grund des Topfs gepresst. Aber da schöpfte der rechte Ministrant mit der Schaumkelle den grauen Seim ab, um Klarheit zu schaffen, die Gerinnung des Knatschs, diese ohnmächtige hormonische Passion, die den Schaum verwässert, wenn wir sie nicht schnell und beherzt einrühren. Zwei Äpfel, geschält, Exstirpation des Kerngehäuses, zerscheibt und unverzuckert, wirft der linke Ministrant ins Köcheln, sticht probeweis ins fett gebackte Kopffleisch, sammelt die auf dem Topfgrund klopfenden Zähne ein, gefallen aus blühendem Zahnbett. Gelee gebiert sich währenddessen aus der Haut der Ohren, spaltgerändert und, gemischt mit Splittern vom Klitter der Knochen, wächst sandig knirschender Schleim geplatzter Pupillen, Mund und Rachen schälen sich, unschnittiger Knorpel gallertiert und will, geschabt vom Messer, ein letztes Wort, doch schnürt die immer noch hornige Luftspeiseröhre den Knatsch noch fester zu, obwohl – das gewürfelte Fleisch der Weichteile, das gesammelte Fett im Gurkenbad, im Pfefferwind, im Zwiebelsud und Kapernschock, der langsam eingedickte Knatsch begehrt sich selbst und will, dass es sich möglichst hoch verliert.  Nimm auf die makellose Gabe!, dachte Terres, als er sah, wie der Priester, den er verachtete, den Großtopf von der kleinen Flamme hob, für die unzähligen Beleidigungen und Nachlässigkeiten, lebende und abgestorbene, die ihr mir zufügtet, als ich noch unter euch weilte. Ich bin nicht euer Engel im Bett, ich schlafe nicht mehr mit euch. Das ist vorbei. Der Priester goss ein wenig Wasser in den Topf, dessen Inhalt sich unsichtbar verwandeln wird. Da opfern sie den Topf mit unzerknirschten Herzen – meine Kopfsülze! Das kann mir nicht gefallen, wie sie mich fressen! Du dummer Topfheiliger!

Terres stieg zur Orgel hoch, accendat tempestatem!, und mitten in das unheilige Opferspiel blies er den Sturm, blähte alle Segel des Schiffs, bis sich die Masten bogen. Das Feuer erlosch – so sehr tanzte Terres auf dem Pedal, die Schmerzen flogen weit hinaus ins Freie, die dicken Pfeifen schrieen das NEIN zum falschen Herd, und nun vibrierte alles – Schüsseln, Löffel, Kellen, Messer hüpften über die Opferplatte, im Topf zappelte die Sülze, sprang hoch in die Luft, und schon stand ein Fuß auf ebner Bahn, der andere wuchs ganz schnell dazu, o Gott, verdirb mich nicht zusamt den Sündern, noch auch meinen Tod, dachte Terres, und es wuchsen aus dem Kopf Hände, die stopften den Mund des Priesters, nimm hin!, und setzten eine Tür rings um seine Lippen, dass nicht sein Herz sich neige zu bösen Worten. Amen.

Cis

Ich hatte das höchste Amt, ich schwebte immer über allen Köpfen.

Mitten in der Nacht stand der Tote auf. Sie haben mich geschlachtet, verwurstet, jetzt sind sie mich los, glauben sie, sie glauben immer das Falsche. Ich bin immer da, auch wenn ich nicht da bin, bin ich da. Er ging über den Kirchplatz auf das Westwerk zu, das seine Musik enthielt, die er ablas, die er ins Maßwerk hineinlas, die er nur neu wieder herausschrieb. Aber das verstanden sie nicht alle, manche schon, nicht alle, die Weihrauchschwenker verstanden es nicht, wollten diese Musik nicht, denn die neuen Töne störten den Märchencharakter der una sancta ecclesia. Terres spielte noch ein letztes Mal auf der Orgel von St. Peter zu S. Mitten in der Nacht sollten sie alle das Wunder hören, das eigentliche Wunder, das er in den Falten der alten Kirche aus reiner Luft erschuf. Meine Orgel ist ein Wunder, ein bares Gesamtkunstwerk, dachte er, als er die angelehnte Seitentür aufstieß. Solange kein Klempner sich an ihr vergreift, kein falscher Organist, erklingt das Wunder, das ich ihr einhauchte.

Terres spielte Worte und Zahlen auf seiner Orgel. Wie herrlich klang das Wort Nichts. Es gibt auch eine Flucht vor der Flucht aus dem Leben, dachte er, meine Flucht aus der Welt ist meine Bewegung zum Leben hin, die einzige Möglichkeit zu sein, was ich bin. Aber was ich bin, sagt mein Werk nur eine kurze Weile in dieser höllischen Ewigkeit. Alles verstinkt und verbraucht sich in der Zeit, verwest vielleicht noch eine kleine Zeit in anderen, die dann auch verstinken, und so ad infinitum.

Terres spielte so kraftvoll, dass seine Glocke dem Pfarrer, als der vom schönen Lärm, der die Kirche und den ganzen Platz erhellte, herbeieilte aus seiner armen Nacht, aufs Haupt fiel – „Terres cum alibus civibus campanam condidit“, stand am Metall, das nicht zersprang. Cis machte die Glocke, als sie den Pfarrer einkerkerte, dem nun die Luft ausging, der mit sich und seinem letzten Amen ganz allein war, das keiner mehr hörte, cis war das tödliche Geräusch der fallenden Glocke. Cis wie Scheiße, murmelte Terres. Das fromme Gesocks, diese Weihwasserasseln! Das sind die Außenstehenden! Die Pfeifen zürnten immer schriller. Alles bebte unter den neuen Registern, die der Tote spielte, die Masten des steinernen Schiffs splitterten, die Scheiben flogen aus den Fenstern weit über die Stadt. Dann krachte der Bau zusammen, nur die Westfassade blieb stehen, hinter der die Orgel auf gotischen Pfeilern noch immer raste, das große Sexualorgan. Meine Musik ist ein Reigen permanenter Orgasmen, dachte Terres, als die Spermien auf die Stadt nieder nieselten.

Da endlich kam Gott. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Terres traute seinen Augen nicht. Der da, was macht der da, das ist eine Fata Morgana, wo bin ich? Aber als die Trompeta magna aus dem Pfeifenwerk der Hauptorgel sich löste, zischend nach unten sauste und Gott erschlug, war alles wieder gut. Jetzt kann ich mich wieder hinlegen, sagte Terres, es ist vollbracht. Unser Leben ist, wenns hoch kommt, ein Seiltanz, im besten Fall ein Gleichnis des Scheiterns. Aber wer scheitert, hat gelebt.

Dann kippte das Westwerk um.

Fraß. Am Tag nach der Himmelfahrt feierten die Bewohner der Stadt S. das große Mahl inmitten der Kirchenruine. Sie wollten die Kirche nicht wieder aufbauen, die Ruine sollte so stehen bleiben, wie sie war, zumal sie jetzt viel schöner aussah als vor dem Einsturz. Die Orgel blieb vollkommen unversehrt! Terres war tot, Gott war tot, wer soll nun auf der Orgel spielen? Die Musik war eingefroren, das Eis klang weiter. Die Bürger verspeisten zweitausendfünfhundertachtundsiebzig Siedewürstchen, Bierbeißer und Speckschwarten, die der Geschlachtete hergab, Bierbeißer für die reichen und angesehenen Bürger, Siedewürstchen für die kleinen Leute, und Speckschwarten für die Armen.

Der Höhepunkt des Abends ereignete sich, als die Kopfsülze aufgetragen wurde, der Schmaus oder, wie sie hier zu sagen pflegten, wenn ein schwieriger Fall abgeschlossen war, der Knatsch – der Sülzkopf, der Knatschkopf, der nach dem großen Fressen, wie so gesagt wird, gegessen war, die Lösung einer unlösbaren Frage. Die unlösbare Frage war Terres, zeitlebens, er war der Knatsch, der nun endgültig gegessen wurde: Diese entsetzliche Musik, die er auf der Orgel spielte, bis die Seelen quietschten, die immer erst geölt wurden, wenn es schon zu spät war. Terres spielte sich mit Händen und Füßen in ungedachte Räume. Die Atmosphäre wusch sich, wenn die Orgelfürze in die Kirche knallten, die Schlachthalle.

Die Messdienerin trug Terres hoch über ihrem Kopf zum dreigeteilten Tisch, auf empor gestreckten Händen ruhte das steinerne Tablett, auf dem die Sülze zitterte, das Haupt aus Fleisch und Blut.

Was denkt dieser Kopf? Er sagt nein. Er wackelt hin und her. Erinnert sich. Nein. Erst haben sie mir die Ohren und Fettbacken angehackt, das Hirn ausgenommen, jetzt denkt es woanders und ganz versprengt. Jetzt will ich meine Hände wiederhaben, meine Orgel reiten, dass sich die Säulen biegen und der Raum nach innen platzt, wenn ich die Abgründe öffne, die mich verschlucken.

Elegie. Alle Bürger der Stadt wurden krank – es war eine wunderbare Fernwirkung des großen Fressens in der Orgelstätte –, bis ihnen das Heilige über den Schoß lief, das Obszöne, die Kehrseite des Heiligen, das Wunder der Verführung, aber das geschieht nie.

Wissen Sie, den Realitätssinn und Pragmatismus unserer Stadtbewohner nenne ich eine Flucht in die Arme des Todes mitten im Leben, pfui Teufel! Da stehen sie alle mit beiden Beinen auf der Erde und reißen Träume aus! Träume!

Aber das ist noch nicht alles. Immer wieder kommt es vor, nicht nur in den Nächten vor dem Auferstehungstag, da fangen die Pfeifen ganz von allein an zu spielen, ohne Noten, ohne irgendeine Harmonie, und es ist nicht der Wind, der in sie hinein fährt.

***

Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.