Runner’s World

Boom, der letzte Philosoph unter den Langstreckenläufern („Training ist nichts anderes als die Fortsetzung des Dopings mit anderen Mitteln“), der sein Training, als er seinen Altersstil erreichte, selbst in die Hand nahm, was in den Augen der Fachwelt nicht nur dem gesunden Menschenverstand ins Gesicht schlug, sondern auch aller professionellen Erfahrung zuwiderlief, weil ein Läufer, der sein eigener Trainer ist, im Dialog mit sich selbst der Gefahr unterliegt, in ein Laufloch zu fallen, aus dem er nie wieder herauskommt, lief zuletzt seine Trainingsstrecke, um seinen Laufstil zu transzendieren, mit täglich verdoppelten Gewichten.

Die immer schwerer werdenden Manschetten, in deren kleine Taschen er Bleiplatten gesteckt hatte, band er sich zuerst um die Waden, dann um die Oberschenkel und den linken Oberarm; die letzte Manschette, welche auf einem hohen Pult lag, band er am siebten Tag seines mörderischen Spezialtrainings schon mit einiger Mühe um den rechten Oberarm und zog mit den Zähnen die vier kleinen Lederriemen fest.

Mit langsamen, anfangs noch leicht federnden Schritten machte sich Boom auf seinen schweren Weg. Ich laufe, also bin ich, hatte er sich immer wieder gesagt, wenn er die lange Strecke, die er trotz der schweren Gewichte nicht verkürzte, auf dem weichen Boden durch die menschenleere Waldszene lief, als ginge er über ein endloses Bett, und heute dachte er, nicht ohne Stolz auf seine internationalen Erfolge und nicht ohne hochfahrenden Sinn für die Zukunft, in der er Bahn um Bahn, von den Gewichten befreit, auf schnellen Beinen, die von Flügeln getragen werden, als Sieger ins Ziel läuft: Das Ganze eines Laufs ist eben mehr als die Summe seiner Einzelschritte. Boom meinte damit nur seinen Lauf, er genoss die paradoxe Lage, in der er sich befand, und spürte kaum die schweren Gewichte, die ihn zu Boden zogen, er entschied diesen Lauf wieder einmal im Kopf. Ich streife meinen Körper ab um leichter zu sein, ich könnte auch sagen, ich werfe meine Beine weg, um schneller zu laufen. Natürlich ahnte Boom immer schon, dass in dieser Haltung die Spur einer suizidalen Sehnsucht angelegt war, denn wenn der Läufer seinen Körper überwindet, weil er mit dem Kopf laufen will, wenn er also nur läuft, um seinen Lauf aufzuheben, dann ist dieser schizophrene Lauf mit den schweren Gewichten eine absurde Sehnsucht nach dem Leben, indem der Läufer seinen Kopf überwindet, weil er mit den Beinen laufen will, er hebt sozusagen den Lauf auf um laufen zu können, dachte Boom, als seine Schritte immer kälter wurden. Wenn es zutrifft, dass jeder Lauf eine eigene Welt ist, dann bin ich der Schöpfer meiner Gegenwart, Gott ist tot.

Aber immer härter wurden seine Zweifel an dieser Philosophie, die er sich in langen Läufen und in vielen Jahren erarbeitet hatte, denn die Kraft der Erde, die seine Schritte verlangsamte, machte seinen Kopf so schwer wie seinen Körper, den er immer heftiger fühlte. Die Kraft der Erde, dieser fatale Zweite Hauptsatz der Thermodynamik, dieses verdammte Gesetz der Erosion, nahm ihm seine Kraft, das spürte er. Aber – gab er sich nicht selbst das Gesetz des Handelns? War der Weg, den er lief, nicht der Weg, den er gehen wollte? Er wollte es sich nicht leicht machen, weil er wusste, dass sein Lauf dann schwerer war. Er hatte es sich schwer gemacht, um leichter zu werden. Aber immer kühler wehte ihn nun die Frage an: Ist mein Weg die Falle, die ich mir selbst erlaufe? Ich weiß es nicht.

Boom war stehen geblieben. („Stehenbleiben ist bei genauer Betrachtung nichts anderes als die Fortsetzung des Laufs mit anderen Mitteln.“) Er stand verglüht zwischen den vielen Bäumen des Waldes und konnte sich nicht mehr bewegen. Das Herz lärmte, der Atem stotterte und stockte. Die Arme hingen an ihm herunter, er konnte sie nicht mehr heben. Die Arme wollten fallen, Boom stellte sich schon vor, wie die Arme aus den Schultern rissen, so weh taten sie ihm. Vom Himmelslicht der Baumwipfel schlugen die schnellen Klavierläufe der Papillons. Eiskalt stach ihm die Klarheit über seine Lage ins Hirn. Der Lauf war beendet. Bin ich am Ziel?, war sein letzter Gedanke. Dann siegte das Blei. Boom brach zusammen und fiel mit den Augen in die aufgewirbelten Nadeln.

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.