Gemüse

Sie hatte ihm einen Gemüsekuchen gebacken, mit viel Liebe versteht sich und Salz und Pfeffer auch. Mit Zucchini und Zwiebeln, Möhren, Lauch, Steckrübe. Leider hatte sie die Möhren draußen bei minus 15 Grad liegen lassen, der Kühlschrank war voll gewesen. „Die waren knüppelhart, ganz steif gefroren. Damit hätten die Polizisten eine ganze Demo zusammen prügeln können.“ Dabei weiß doch heute jeder, dass so etwas gar nicht vorkommen kann – hier und nirgendwo. Immer werden die Diener des Staates provoziert, niemals, wirklich niemals wären sie auch nur im Ansatz selber aggressiv. Wo hatte man je auf der gesamten gesehen, dass Polizisten ohne Vorwarnung zuschlugen? Die Demonstranten waren zweifelfrei selber daran schuldig, dass sie friedlich und unbewaffnet auf die Straße gingen und ihre demokratischen Möglichkeiten nutzten. Und außerdem würden Polizisten niemals Möhren einsetzen, wo es doch so hübsche, dekorative und vor allem effektive Welt Schlagstöcke aus Eschenholz, Aluminium oder Hartgummi gibt. (An dieser Stelle muss sich der Erzähler entschuldigen, dass er mal wieder nicht beim Thema Gemüsekuchen geblieben ist, man gebe ihm ein Stichwort und schon geht seine Fantasie mit ihm durch, da gibt es kein Halten mehr. Natürlich weiß er selber, dass dies den schönen Lesefluss stört, aber er kann einfach nicht anders. Man erinnere sich einfach an den Ausspruch einer damals jungen Kunstgeschichtswissenschaftlerin, die moniert hatte, dass die Wechselrate an Themen bei einem Gespräch mit ihm an die Situation eines ADHS-Patienten erinnere. Er halte es keine drei Minuten aus, auch nur ein Thema durchzuhalten. Nein, dies hat den Schreiber natürlich in keiner Weise getroffen, dieser Ausspruch wurde natürlich auch sofort vergessen und niemals darüber gegrummelt. Schließlich weiß doch jeder, dass nur Frauen, niemals jedoch Männer historisch werden und die alten Geschichten so lange aufwärmen, bis nichts davon übrig geblieben ist.)

Also nicht so viele Möhren in den Kuchen, nicht nur deswegen, weil man nicht weiß, wer damit verprügelt worden ist, sondern weil es schwierig ist, zutiefst gefrorene Möhren zu schälen. Aber viel vom anderen Gemüse, sollte ja auch gesund sein. Eine Käseeisoße darüber gegossen und unten einen Hefeteig. Man kann sich die Köstlichkeit schon ausmalen.

Der Tisch war wunderbar gedeckt. Zwischen den Tellern romantische Dekorationen und Kerzen aus Bienenwachs. Auch das gute Silberbesteck ihrer Großmutter hatte sie gedeckt. In der Dekantierkaraffe von Nachtmann leuchtete rubinrot der Wein – es sollte einen Dunkelfelder von der Nahe geben. Nicht zu verwechseln mit dem an jeder Hausecke zu erhaltenden Dornfelder, der diese geschmackliche Tiefe und Vielfalt nicht annähernd erreicht. Schon immer hatte Herr Nipp es wirklich geschätzt – und das wusste sie – wenn er solche Weine entdecken durfte, die eben nicht in jedem Supermarkt zu haben waren. Die sich entweder als uralte und wiederentdeckte Sorte oder als Neuzüchtung herausstellten. In Südtirol war der Blatterle gewesen, vom Eberlehof der Familie Zisser ein spritziger Genuss. Völlig begeistert hatte ihn auch die Weißweinspritzigkeit des Elblings von einem bischöflichen Weingut, dessen Namen er vergessen hatte. Aber natürlich ging es nur vordergründig um das Neue, eigentlich liebte er einfach den Genuss von guten Weinen, die er sich allerdings noch leisten konnte. Genuss in seiner puren Form. Dann ist es doch letztlich egal, wie dieser Tropfen heißt.

Das Dekantieren jedenfalls ließ den verheißungsvollen Geruch über die Tischplatte schweben. Die Wässer liefen im Mund zusammen. Probeweise goss er in die Gläser schon einmal ein, zwei Finger breit.

Dann der große Moment. Der Kuchen wurde aus dem heißen Backofen gezogen, mit zwei dicken Handschuhen zum Tisch getragen, fast feierlich. Der Raum wurde unter der Duftwolke, die sich in jede Ritze schob, fast erdrückt. Sie zückte das große Küchenmesser mit schwarzem Griff und Klinge aus Solingen, schnitt das erste Stück, das zweite heraus. Je ein Prachtexemplar auf den Dekor umflorten Tellern platziert. Erst vorsichtig, wegen der Stauhitze, dann mit Heißhunger fielen die beiden über die Speise her. Zwischendurch Wein. Tiefe Blicke. „Hm, lecker.“ „Ja, nur das Gemüse könnte etwas Geschmack haben.“

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421