Nachtgas

Am Abend eines schweren Sommertages dachte Kautsky, während er im Café Pathos einen Espresso trank, immer wieder an den Fall des Magdeburger Geldverleihers Max Glaser, der allein unter dem Dach eines Hochhauses mitten in der grauen Stadt lebte. Kautsky, der an diesem Abend nicht an der Bar, sondern auf der Steinterrasse saß, hielt mit beiden Händen den runden Marmortisch fest und starrte auf die Espressotasse. Glaser wollte sterben. Keiner weiß warum. Er hinterließ kein Testament, keinen Brief, kein Zeichen. In den letzten Gedichten, die er noch vor wenigen Tagen geschrieben hatte, kam er nicht vor. Er schluckte Schlaftabletten und setzte sich auf einen Stuhl an den Gasherd, band sich fest, drehte den Hahn auf, stülpte sich eine Plastiktüte über den Kopf und schlief, als die Tabletten wirkten, über dem rauschenden Gas ein. Dann war alles schwarz und still.

Glaser, der für immer schlafen wollte, erschrak, als er seinen Körper spürte, noch bevor er erwachte. Es war schwarz um ihn, er hörte unter seiner Totenhaube das Rauschen der Luft, die er atmete. Das Gas strömte nicht, er lebte. Er riss die Tüte vom Kopf, band sich los, sprang zum Lichtschalter. Das Licht schmerzte. Das Leben stach ihm in die Augen. Das war die Hölle. Doppelt leben. Das wollte er nicht. Er wollte das Nichts. Er hatte sein Leben wieder, ein zweites Leben. Absurd. Wie stark das Leben war! In der Zeit, in der er sterben wollte, schalteten die Gaswerke das Gas ab. Glaser interessierten nur Zinswerte und Aktienkurse, heute schlug er die Zeitung nicht auf. Die Dosis der Schlaftabletten war nicht tödlich.

Glaser verließ die Wohnung, ging am Lift vorbei, die Treppen hinunter und ein paar Häuser weiter in die Kneipe, die er hasste, weil ihn der Lärm der Besoffenen schmerzte. An der Theke kippte er einen Schnaps nach dem andern in sich hinein. Der Körper hielt das aus. Er redete wirres Zeug. Keiner verstand ihn. Bald wirkte er auf die Kampftrinker, die ihn nicht kannten, wie einer, der das Gleichgewicht verlor. Nach einer halben Stunde sagte Glaser, er habe eine Verabredung und zahlte. Beim Gehen riss er mit ausholendem Arm, als wollte er alle auffordern ihm zu folgen, das Glas vom Tresen, das auf den ziegelroten Kacheln zerbrach. Er senkte den Kopf in die Stille, starrte auf die Scherben, die vor ihm lagen, und ging langsam in die Knie. Er sammelte die Splitter in die linke Hand, die er zur Faust ballte, während er sich erhob. Er schreit. Die Worte fallen zu Boden. Der Boden brennt. Glaser stürzt aus der Kneipe, rennt durch die Nacht in die Tür, am Lift vorbei, springt die Treppen hinauf, an seiner Wohnung vorbei, aufs Dach, an die Luft, ins Freie, und wirft sich ins Gas der Nacht.

Kautsky stand auf und hob den Tisch hoch über den Kopf. Die Gespräche der Gäste verstummten. Im Hintergrund zischte die Kaffeemaschine. Alle sahen zu Kautsky. Die Serviererin ließ vor Schreck das leere Tablett fallen und bangte mit halb erhobenen Armen um die Marmorplatte. Aber Kautsky stellte den Tisch sanft auf den Steinboden zurück, und in die Stille hinein sagte er trocken: „Wir wissen, dass unsere Ziele nur durch eine Revolution erreicht werden können, wir wissen auch, dass es ebenso wenig in unserer Macht steht, diese Revolution zu machen, als in der unserer Gegner, sie zu verhindern!“, nahm die Tasse und trank sie, unter tosendem Beifall, in einem Zug aus.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.

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