Café Pathos

„Hier geht’s runter, Sie werden erwartet“, sagte Ortmann, der Regisseur, zu dem einzigen Zuschauer, der an einem Sommerabend im letzten Jahr des letzten Jahrtausends das Stück eines Schauspielers erleben wollte, das nur für einen einzigen Zuschauer gedacht war. Kautsky hatte sich immer schon für einen solchen Zuschauer gehalten. Ortmann öffnete eine Spiegeltür im Foyer, die Kautsky, als er das Café Pathos betrat, sofort aufgefallen war, weil er die Dinge, die sich verbargen,  durchschaute, denn er kannte sie, weil er sich auch verbarg. Wie ein Spiegel ging Kautsky durch die Welt und wollte geöffnet werden, um sich selber zu erkennen. Er lief in die Südstadt und ging in das begehrte Café. Er wusste sofort, dass sich unter dem Parkett die Bühne befand. Er war eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung gekommen, um noch einen Espresso zu trinken. Der Eintritt für die einmalige Vorstellung war verdammt hoch: Zehntausend Mark kassierte der Intendant, der zugleich der Regisseur der Inszenierung war, für das absolut authentische Stück. Das Café war laut, alle Tische waren besetzt. Die Gäste sahen wie Schauspieler aus, dachte Kautsky. Ich sehe zwei Stücke, dachte er, eins jetzt, und eins nachher. Hier bin ich, wenn ich will,  Schauspieler, wenn ich nicht will, Zuschauer. Hier bin ich beides. Er war gespannt, wie das da unten sein würde. Die Form war offen. Ortmann versprach Kautsky das ultimative Erlebnis, die Unwiederholbarkeit des Dramas. „Einakter“, sagte Ortmann, „das ist vielleicht der unverfänglichste Begriff für das, was Sie gleich erleben.“ Die Länge ist nicht entscheidend, dachte Kautsky. Er hatte schon viele Stücke gesehen. Er rannte, ein Besessener, laufend ins Theater, er sah die alten Stücke so gern wie die neuen, er liebte neue Inszenierungen der alten Schinken, dann waren sie wie neu, er liebte auch die einfachen, unprätentiösen Inszenierungen ganz neuer Stücke, die er besser verstand. Er fragte sich schon als er das Pathos betrat, ob er in dem Stück, das heute nur für ihn spielte, allmählich zum Schauspieler würde, wenn er der einzige Zuschauer sei. Er hoffte es, denn er versprach sich davon eine bessere Selbsterkenntnis, weil in der bewussten Simulation einer fremden Handlung die Übereinstimmung mit ihr sinnlich erfahrbar und nicht mehr verdrängt und weggelogen wird. Als er die Scheine auf den kleinen runden Marmortisch blätterte, bestellte Kautsky noch einen Campari Soda. „Bin ich der einzige Zuschauer, der das Stück sehen will?“, fragte er. Das Stück hatte eine extrem kommerzielle Seite. Es staute sich in ihm aber auch eine ungeheure philosophische Erwartung. „Sie sind der einzige Zuschauer“, antwortete Ortmann. Er schaute in die Tiefe. „Sie zahlen den vollen Preis für die Einmaligkeit.“ Ich gehe aufs Ganze, dachte Kautsky, ich zahle jeden Preis.

Ortmann zeigte auf die schwarzen Stufen der Treppe. „Sie sind noch schwarz von den Briketts aus der Kohlenzeit“, sagte er. Sie sind schon ganz schwarz von der Nacht, die mich in diesem Heizungskeller erwartet, dachte Kautsky. „Da unten stört Sie kein Publikum“, sagte Ortmann. Kautsky erwiderte: „Aber ich stehe mir im Weg, wenn ich so allein bin mit einem Stück.“ „Sie sind nicht allein“, rief Ortmann, als Kautsky die dunkle Treppe hinunterstieg. Ich verliere in dieser Nacht meinen Körper, dachte er, alle Stücke spielen nur im Kopf, auch dieses Stück ist ein Kopfstück. Das Stück dringt in die Augen des Zuschauers, es reist von Kopf zu Kopf. Kautsky tastete sich ein paar Schritte weiter. Oben fiel die Tür ins Schloss.

Das Café war weg. Die Welt war weg. Kautsky blieb stehen. Er sah nichts. Die Zeit tropfte in einen Eimer. Ganz langsam fuhr ein Schein in die Schwärze, die Wände kamen näher. Der Raum war nun da. Aber da war keine Bühne, kein Vorhang, kein Zuschauerstuhl. Der Schein wurde heller. Kautsky fühlte den Schauspieler. Der sah ihm in die Augen, die zwei Kugeln flackerten in dem wachsenden Licht, aus dem die Gegenstände der neuen Welt kamen. „Du bist nicht allein!“, sagte die Stimme mit den Augen. Der Schauspieler war eine Frau. Kautsky war im Stück. Das wusste er nun. Aus dem Schatten tauchte eine Lampe, ein Spiegel, ein Bett. Im Licht der Lampe sah Kautsky die Frau so nah, als betrachtete er sich selbst im Spiegel. Sie spielte sich selbst, dachte Kautsky. Sie sieht mich nicht, aber sie weiß, dass ich da bin. Sie spielt mir ihre Szenen zu, als wäre ich nicht da. Sie ging ein paar Schritte, kletterte auf das hohe Bett, ihr schwindelte, sie war der Sonne so nah, sie nickte ihr zu und sah immer hinauf. Auf einmal bemerkte sie den Abgrund zu ihren Füßen. Sie wich nicht zurück, sie stand nicht still, sie taumelte vorwärts – zu Kautsky hin. Ein Weib hat das Recht von jedem Mann zu verlangen, dass er ein Held sei. Er sprang zu ihr. Sie warf sich ihm in die Arme. Er konnte sie nicht halten. Sie fiel zu Boden. Kautsky wollte etwas sagen, aber er konnte nicht. Ihre Schönheit, dachte er, ist die der Tollkirsche. Sie stand auf, warf den Kopf nach hinten und griff mit beiden Händen durchs fallende Haar. Seine Wangen glühten, als wollte das Blut herausspringen. „Ich bin dein Gott!“, sagte sie ins Licht der Lampe.  Kautsky lächelte. Die Frau beherrschte ihre Rolle. Nach einer Weile bemerkte er, wie sie mit ihm spielte. Kautsky, der sich in seiner Rolle immer wohler fühlte, durchschaute das Doppelspiel der Frau und dachte: Jetzt schauen wir uns gegenseitig zu. Und je mehr die Frau spielte, umso mehr fing Kautsky an sein Zuschauen zu schauspielern, und gleichzeitig wurde die Frau immer mehr zum Zuschauer in einem anderen Stück. „Wer bezahlt dich?“, fragte Kautsky. „Ich spiele nur für dich“, antwortete die Frau. „Aber du gehst vom Text ab“, sagte er. „Nein, du bist eingeplant.“ Sie schaute ihn herausfordernd an, spitzte die Lippen und blies ihn an. Es ist mein Stück, sagte sich Kautsky, von Anfang an war es mein Stück. Sein Wille, die Strategie der Frau zu spiegeln, schlug um in den Wahn sie zu verführen. Kautsky legte seine Hand auf ihre Schulter und ließ seine Hand langsam auf ihrer Haut hinabgleiten. Sie spiegelte das Licht der Lampe, so glatt war sie. Er trat eng an die Haut und beugte sich über sie, sein Blick schnitt von der Haut das straff gespannte Kleid. Ihre Arme und Brüste waren eingeölt. Das Zittern der Finger fuhr ihm ins Herz. Als die Fingerkuppen die harte Brustspitze berührten, fauchte sie. Er lachte: „Du gehst zu weit!“ Er verlor den Kopf, er verlor seine Zeit. Er arbeitete immer hastiger. Kautsky hatte Hunger, er wollte die Frau. Sie fasste unter ihre Brüste und presste sie nach oben. Sie spritzte ihn an. Sein Körper schrie. Während er sie auszog, schlitzte sie mit einem Messer, das sie mit dem Fuß vom Boden in ihre Hand hochschleuderte, seine Hose auf, ohne dass er es merkte. Er warf sie aufs Bett. Sie wehrte sich nicht. Sie spreizte die Beine. Das war eine Drohung. Aber er war schon blind – – – Kautsky steckte fest zwischen ihren Schenkeln. Sie ließ ihn nicht los. Er dachte, sie spielt. Sie hob den Rumpf an, stemmte die Arme ins Laken, stieß die Stirn in seinen Kopf, packte ihn an den Schultern, warf seinen Körper nach hinten und schmetterte ihn mit dem Nacken auf die Bettstange am Fußende. Der Kopf ist noch da. Er weiß nicht, wo der Körper ist. Er begreift das Spiel nicht. Aber er bleibt erregt. Jetzt steht sie im Bett, zieht den Mann am Kopf hoch. Die Arme hängen schlaff am Leib herunter. Wortlos. Die Augen fallen aus dem Licht. Die Bühne wird weiß. Dann fällt der Schwanz.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.