Stangerbad

Es war die erste Nacht nach der Operation.

Ich konnte nicht einschlafen. Trotz aller Mattheit war ich aufgeregt und neugierig darauf, wie ich aussehe, wenn alle Wunden verheilt sind. Aber jetzt war alles verbunden, der Kopf, der Hals, die Brust, der Bauch, die Beine. Wieso der Kopf? Ich wusste es nicht, ich war zu schwach für eine Antwort. Ich erinnerte mich nur noch an die Vorbereitungen zur Operation.

Ich war in einem Zimmer mit vielen Leuten, die ich alle kannte, aber ich kannte keinen. Die Leute lachten, sie lachten mich an, sie griffen nach mir, und auf einmal wurde ich emporgehoben, über alle Köpfe hinweg, auf Händen getragen, dem Licht entgegen. Ich war völlig geblendet. Es war so hell, dass ich nichts mehr sah. Ich spürte die festen Griffe an Armen und Beinen, am ganzen Körper, und ich hörte das Lachen. Das ganze Zimmer lachte!

Die vielen Hände arbeiteten an mir. Nach einer Weile merkte ich, wie die Hände einer Ordnung gehorchten, sie griffen fest zu und ließen wieder locker, der Druck war rhythmisch, und zugleich pflanzte er sich vom Kopf bis zu den Füßen fort wie eine Welle. Ich war nun ganz nackt. Die Hände spielten mit meinem Körper, und ich selbst fühlte mich wie Musik. Der ganze Raum sang.

Die Hände ließen den Körper langsam sinken. Ich spürte das Wasser zuerst am Rücken. Ich tauchte ein in das Wasser. Die Hände ließen mich nicht los. Tiefer tauchten die Hände den Körper. Ich spürte, wie das Wasser sich auf die ganze Haut verteilte, dann drang das Wasser in mich ein und floss in mir, es floss durch mich hindurch. Es tanzte. Mit dem Kopf unter Wasser genoss ich den süßen Schrecken. Die Brüste wurden starr wie durch Gefahr entstanden – es war die Geburt des Entsetzens: Ich riss die Augen auf und erstarrte ganz, als ich sah, wie die Hände, die mich unter Wasser drückten, meine eigenen Hände waren.

Das Wasser hat die Aufgabe, den Strom (über großflächige Graphitelektroden) der im Bade befindlichen Körperoberfläche zuzuführen. Da der Strom sich auf der ganzen Haut verteilt, können hohe Stromstärken angewendet werden. Durch entsprechende Schaltungen  wird eine Querdurchströmung des ganzen Körpers vorgenommen. Dem Badewasser wird meist Lohtannin zugesetzt.

 Natürlich war das nur ein Traum. Das wusste ich. Aber eine Woche später wusste ich das nicht mehr.

Ich war wieder zu Hause, der Körper erholte sich von den schweren Eingriffen. Am ersten Morgen stand ich früh auf, ich war neugierig auf meinen Körper. Ich streifte das Hemd vom straffen Körper  und ging zum Spiegel: Und ich sah, dass ich schön war, schöner als je zuvor. Ich sah auch die Falle im Spiegel, die Gefahrenstelle, den Mann, der nach mir Ausschau hält, das Begehren. Ich empfand meine Operation immer mehr als ein Ereignis der erotischen Magie.

Ich zog mich an und ging, wie immer, zum Briefkasten. Der Brief von der Klinik. Ich dachte: Die Rechnung. Dann sah ich den Zettel am Paketfach. Ich öffnete das Fach. Was ich da sah, traf mich wie ein Stromschlag – im Fach stand mein Kopf und starrte mich mit aufgerissenen Augen an, der weit geöffnete Mund lachte. – Ich fiel tot um.

 

 

***

Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.