Notenbegründung

 

Jeweils einen Pott Kaffe in der Hand, den brauchen sie jetzt ganz dringend, denn rauchen darf man in öffentlichen Gebäuden nicht mehr, stehen drei Lehrer in ihrem angestammten Reservat innerhalb des Lebensraums Schule. Für sie geschaffen, nach ihnen benannt und von ihnen gegen jeglichen Zugang und Zugriff von Seiten der Schülerschaft verteidigt. Sogar Legenden ob der Ausstattung und Größe ranken sich in der Schulgemeinde, befeuert von den Bemerkungen einzelner Kollegen, sie würden sich jetzt in ihrer Freistunde in den Whirlpoolbereich zurückziehen, andere sprechen gar von den Massagesesseln und dem kleinen, sehr warmen Swimmingpool. All das natürlich völliger Blödsinn, denn die meisten dieser Lehrerzimmer sind vollgerümpelte Verwaltungseinheiten mit Stapeln voller Bücher und Klausuren, Klassenarbeitsheften und den Pausenbroten, ziemlich altem Mobiliar, einer meist nach älterem Kaffe stinkenden Kaffemaschine. Trotzdem wird dieser Rückzugsraum von den meisten Lehrern geliebt, denn jeder weiß, dass es kaum einen Ort gibt, an dem man so unter sich sein kann. Nur vom Klopfen der Schüler an die Tür muss man sich unterbrechen lassen – und das kommt häufig vor.

Die hier erfundene Unterhaltung findet jetzt allerdings in einer modernen Schule statt, einem stetig modernisierten Bildungsinstitut, das Lehrerzimmer ist hell und freundlich und gegen das Chaos wird regelmäßig eine Aufräumaktion vorgeschoben, böse Stimmen behaupten, damit die Eltern, wenn die Schulkonferenz tagt, einen guten Eindruck bekommen. Oder die Schulinspektion. Nein, ehrlich, hier achten die Kollegen gegenseitig ganz genau darauf, dass niemand seine Territorialansprüche zu sehr ausweitet. „Natürlich haben wir keine festen Sitzplätze.“ Aber jeder weiß, wo jeder sich bevorzugt niederlässt, seit Jahren schon, wo man irgendwelche Dinge deponieren muss, damit sie zügig gelesen werden. Denn in den Fächern können Notizen auch schon mal übersehen werden. Nicht bei allen Kollegen, denn einige haben immer eine fast schon penible Leere, dort bleibt keinen Tag ein Zettelchen unbearbeitet liegen. Ordnung ist höchstes Ziel, nur wer Ordnung hält, kommt zum Erfolg. Diese Kollegen tragen dann auch gerne die standesgemäßen Jacketts und Hemden, dazu sehr ordentliche Schuhe, sind immer glatt rasiert und strahlen eine Aura von Autorität und purem Wissen aus. Außerdem riecht es immer nach frischem Kaffe, denn man hat sich gemeinsam eine Jurakaffemaschine gegönnt, jede Tasse wird mit fair gehandelten frisch gemahlenen Bohnen einzeln aufgebrüht. Das ist zwar teuer, schmeckt dafür aber nicht so gut. Man handelt immerhin sozial.

Nur hier also können die drei ungestört und unbelauscht ihre Unterhaltung führen, sich über die Leistungen der Schüler austauschen, die Erfahrungen, die sie mit den Eltern gemacht haben, denn der Dialog wird hier großgeschrieben und ernsthaft / gewissenhaft betrieben. Nur hier können sie Prognosen abgeben und Anekdoten erzählen. Alles dies ganz beschaulich, man will niemandem wehtun, hat man auch nicht nötig, denn das Klima an dieser Schule ist verdammt gut. Schwierig wird es meist erst, wenn die Notendiskussionen losgehen. Die Schüler sind ja nicht immer einsichtig, dass das ständige Melden nicht immer zur Eins führt, dann nämlich, wenn die Inhalte einfach zu einfach sind, nachgeplappert oder schlichtweg falsch. Eine Schülerin, so berichtet einer der Lehrer, bekam also im Fach Religion die Note vier, die Mutter konnte dies nun gar nicht verstehen und meldete sich zu einer der wöchentlichen Sprechstunden an. „Wie kann meine Tochter denn in Religion eine vier haben, ihre Tante ist doch Nonne!“

 

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421