Das Konzert

 

Das Konzert begann. Der Dirigent hob den Stab und brach ihn über das Knie, das Orchester stand auf der dünnen Eisdecke eines drei Meter hohen Wasserwürfels in gläsernen Wänden.

Die Musiker stellten ihre Gehirne um.

Langsam zerlegten die Musiker ihre Instrumente, nach genauem Plan, dann zogen sie die Kleider aus, drehten sie zu dicken Seilen. Wie oft hatten sie die einmalige Choreographie geübt, immer und immer wieder, jede Bewegung des komplexen Zusammenspiels, auf Achtelnoten genau! Sie blieben genau im Takt, sie durften nicht zu schnell sich ganz hingeben ans Werk, sie mussten ihr Leben hinauszögern. In den Proben war alles nur Schein, zehn Jahre lang simulierten und spielten sie wie Interpreten, die Lösungen suchten und nicht fanden, sie probten den Tod wie jeder Lebende, nur intensiver, bewusster. Sie sehnten sich nach dem Tag dieses Konzerts, sie wollten den ganzen Sinn, sie wollten nicht mehr spielen. Jetzt wurde es endlich ernst.

Sie lösten die Saiten aus der großen Harfe, den Violinen, Celli, Bratschen und Contrabässen, dann demontierten sie das Klavier. Jede einzelne Aktion hatte einen bestimmten Bezug zum Ende, das spürte jeder in der ausverkauften Halle, sie durchschauten alle die Partitur des Prozesses, der auch ihr Leben betraf, das fühlten sie. Sie fesselten schon mit ihren Augen den Dirigenten, bevor die Streicher die miteinander verknüpften Saiten wie Netze über ihn warfen, dann banden sie sich selbst an Armen, Beinen und Hälsen, vernetzten und verdrahteten sich zu einem Körper, zu einem Instrument, das immer harmonischer spielte. Aus den Mündern tönte der Schmerz, der Gesang floss über die Haut des Instruments. Das Publikum war erst unsicher, Raunen mischte sich für eine Zeit in die Körpergesänge und verschmolz mit ihnen. Dann trat Stille ein, entsetzliche Stille, das Instrument explodierte, die Musiker strebten heftig auseinander, liefen hart bis zu den vier Rändern des Glaskörpers, der ihr Stern war, und zogen die Saiten immer enger zu. Sie fielen aufs Eis, das Blut schoss durchs Herz, sie bissen die knirschenden Zähne fest in die Seile am Rand ihres Sterns. Da wurde es leiser. Ihr Lied ging nach innen.

Die nackten Körper glühten weiß und grell. Sie blendeten die Augen. Die Saiten zergliederten die Körper in ungesehener Art, und in der Bewegung erschien das Stück wie die Summe aller möglichen Akte. Kein Bildhauer sah bisher so den menschlichen Körper. So schön und reizvoll erschien die Flut der Häute, die Schwellung der Muskeln, die Drehung der Glieder – weil sie im Schmerz klangen. Feine Drähte verstärkten elektronisch das Summen der Haut, die Reibung der Luft, das schlagende Herz, das rasende Blut. Die Körpermusik drang in die Ohren und verteilte sich in den Köpfen der Hörer, die sich entkleiden. Einer nimmt die scharf gespitzte Stimmgabel und sticht sie in die aufgerissenen Augen des Nachbarn, aus denen die zersplitterten Bilder seines Lebens herausfallen, wie Glasscherben ins harsch kratzende Eis. Ein anderer reißt den Geigenbogen hoch und rammt ihn in die Gurgel der Schönen neben ihm, er zieht den Bogen rauf und runter, spielt ein schwarzes Thema, zersägt den Rachen, die Luftröhre, die Lunge zu lauter neuen Melodien. Noch ein anderer setzt die Flöte am After einer Knienden an und stößt sie ihr so heftig in den Darm, dass spitzige Töne aufs Eis spritzen.

Vom Rand zurück stürzten sie zur Mitte des Eises. Im Zusammenprall ein einziger schriller Schrei, tierisch jetzt. Sie liefen wieder auseinander, zum Rand des Glases, zum Ufer des Todes. Nun schlugen die Schritte im Hin und Her einen melodischen Rhythmus aus dem Eis, aus den gespannten Saiten und zerfaserten Stimmbändern. Zuletzt sprangen sie mit der ganzen Kraft, die sie für die letzte Bewegung aufgehoben hatten, in alle Himmelsrichtungen über die Glasklippen in die Tiefe. Langsam schrumpften die Lungen, sie gaben ein leises chorisches Zischen, bis in den zugeschnürten Kehlen die letzten Saiten rissen, kleine Körner fielen aus den weit geöffneten Mündern.

Das Publikum war immer noch bewusstlos, in der langen Fermate des letzten Taktes fielen die Zuhörer wie Dominosteine, Reihe um Reihe, starr zu Boden. Das Aufschlagen der nackten Leiber war der Applaus. Die hingeschmetterten Schädel platzten, rissen auf, Perkussion jagender Pulse, zitternder Nervenstränge, innen trommelten die Körper. Nur eine kleine Weile. Hirngesang. Stille. Stockdunkel mit einem Schlag.

Sela.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.

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