Mein Traumberuf

 

Nein, Astronaut wollte ich nie werden. Was aber sicher nicht so sehr an meiner ausgeprägten Höhenangst liegt. Die hätte sich ja vielleicht ab 380.000 Kilometer über der Erde etwas gelegt. Doch darüber will ich jetzt nicht groß spekulieren, der Zug ist, angesichts meines Alters, abgefahren. Weshalb ich mir auch keine Sorgen mehr um meine Neigung zur Klaustrophobie mache, die mich in beengten Verhältnissen, wie sie nun mal da oben in Raumkapseln herrschen, vielleicht übermannt hätte. Zumal ich diese Neigung mit rund 7% der Bevölkerung teile. Und geteiltes Leid ist halbes Leid, also alles halb so wild. Schwamm drüber.

An meinen marginalen persönlichen Unzulänglichkeiten lag es demnach nicht, dass ich mich einfach nicht zum Astronauten berufen gefühlt habe. Obwohl auch ich natürlich, wie wohl alle, deren Familie bereits im Juli `69 einen Fernseher ihr Eigen nannten, zu nachtschlafender Zeit vor der Glotze saß, um mit meinem Vater um Punkt 3:56 Uhr MEZ gebannt die ersten Schritte des Man on the Moon zu verfolgen.

Aber trotz dieses epochalen Ereignisses: Sigfried Held war mein Held, der Dortmunder Stürmer, das kongeniale Pendant zur linken Klebe Lothar ‚Emma’ Emmerich. Und nicht Neil Armstrong. Warum? Was für eine Frage: Weil der Spaziergang auf dem Erdtrabanten nun mal nicht Armstrongs Idee war. Er hat doch nur getan, was er tun sollte. Als Kind stand mir aber nun wirklich nicht der Sinn danach, jemanden toll zu finden, der nur tut, was andere ihm sagen. Ob’s nun die NASA war oder der eigene Vater.

In meinen Zukunftsträumen schwebt mir was anderes vor. Radikaleres. Verwegenes. Etwas, wo ich selber bestimmen konnte, wo die Reise hingeht. Wobei ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen möchte, dass ich bei aller Radikalität und Verwegenheit doch äußerst bescheiden war: Meine Zukunftsträume scherten sich damals nämlich nicht um die Zukunft, sie waren schlichte Träume. Weshalb ich eben auch kein Astronaut sein wollte. Sondern ein einfacher Oneironaut.

Nie gehört? Macht nichts. Ich auch nicht. Bis vor kurzem zumindest. Was aber auch nichts zur Sache tut. So wollte ich eben etwas sein, von dem ich zwar bis dato nicht wusste, wie es heißt, ich aber wusste, was es heißt, einer zu sein. Ein Oneironaut. Oder auf gut Deutsch: ein Traum-Seefahrer.

Der kann das, wovon ich als Kind immer geträumt habe: Die schnöde Realität mit leichter Hand hinter sich lassen. Er kann Klarträume erleben, also Träume, in denen er sich bewusst ist, dass er träumt. Er kann sie gezielt erleben. Und kann sie sie steuern, wie er will.

Wenn ich’s mir recht überlege, hat sich seitdem bei mir eigentlich nicht viel geändert.

 

 

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Die Essays von Stefan Oehm auf KUNO kann man als eine Reihe von Versuchsanordnungen betrachten, sie sind undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Er betrachtet diese Art des Textens als Medium und Movens der Reflektion in einer Zeit, die einem bekannten Diktum zufolge ohne verbindliche Meta-Erzählungen auskommt. Der Essay ist ein Forum des Denkens nach der großen Theorie und schon gar nach den großen Ideologien und Antagonismen, die das letzte Jahrhundert beherrscht haben. Auf die offene Form, die der Essayist bespielen muss, damit dieser immer wieder neu entstehende „integrale Prozesscharakter von Denken und Schreiben“ auf der „Bühne der Schrift“ in Gang gesetzt werden kann, verweist der Literaturwissenschaftler Christian Schärf. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend. Daher verleihen wir Stefan Oehm den KUNO-Essaypreis 2018.