Einziehen

„Vater, ach hilf, wenn Macht euch Strömen gegeben! 
Wandele diese Gestalt, darin zu sehr ich gefallen.“

(Ovid, Metamorphosen)

Als sie bei ihm einzieht, ist sie wieder einsam.

Viel hat er ihr nicht erzählt von seinem Leben, das könnte man so nicht sagen. Sie waren einander auf einem ihrer zahlreichen Ausflüge begegnet, als sie noch als Stewardess arbeitete. Er lud sie auf einen Kaffee ein, dann zu sich aufs Zimmer. Ziemlich bald war seine Hand zwischen ihren Beinen gewesen, lass mich. Sie hatte kokettiert, aber nur aus einem Gefühl von Anstand heraus. Nichts weiter. Wie wenig sie eigentlich von ihm weiß, fällt ihr auf, als sie den Stift zwischen ihren Fingern hin- und her dreht. Er hat ihr erzählt, dass er lange in Indien als Landschaftsarchitekt gearbeitet hat, eine riesige Hotelanlage geplant hat. Von einem Scheich. Er sei da bösen Menschen begegnet, hat er ihr erzählt. Und dann geschwiegen. Lange. Dann hatten sie miteinander geschlafen.

Sie blickt aus dem Fenster. Er müsste jetzt fertig sein damit, den Schimmel im Kellergeschoß weg zu putzen. Müsste demnächst als Figur über die Straße gehen. Rasche Schritte. Die farbbekleckerte Kordhose, der blaue, halb zerrissene Pullover. Seine Arbeitskleidung, würde sie wissen. Würde ihn vielleicht auch an der Art des Ganges erkennen, stramm, bestimmt. Kein Arsch in der Hose. Das Haar lockig und dicht, wirr abstehend von dem mittelgroßen Kopf, sich in einzelnen Wellen kräuselnd. Sie atmet tief ein und aus. Ob sie ihm vertraut, fragt sie sich auf einmal. Sie legt den Stift aus der Hand, streift den Gang entlang. Es kostet sie Überwindung, die Türe zu öffnen. In der Brust steckt es, steckt fest als beklemmendes Gefühl. Der Gang wächst sich in ihrer Wahrnehmung zu einem alptraumhaft langen Schlauch aus. Schließlich: Finger. Dass es ihre sind, fällt ihr auf. Sie streckt sie aus, vorsichtig. Drückt die Türklinke nach Unten. Kein Gefühl an den Kuppen. Vorsichtig streift sie die Treppen hinunter, setzt ihre Füße auf den schmutzigen Marmorboden.

Bemüht vorsichtig. Sie möchte nicht, dass er sie kommen hört. Duckt sich hinter der Kellertüre, als sie sie erreicht hat. Sie weiß, dass der Schimmel dort in wundersamen, verschnörkelten Strukturen die Wände hoch gekrochen ist. Weiß, dass er diese besprüht, nach und nach die schwarze Schicht von der weißen Oberfläche herunter putzt. Sie hört es schaben, hört ihn atmen. Macht sich klein im Schatten hinter der halb offen stehenden Türe. Irgendwann knarrt es. Sie sieht seine polierten schwarzen Schuhe, den Hosenansatz, dann das ganze Bein, das im Schnürlsamt steckt.

Das Profil. Die Stirn, die sich im Alter bereits ein wenig gesenkt hat, kleine Dippel über seinen buschigen Augenbrauen gebildet hat. Er wirft die Türe zu, ein Knall, er dreht sich nicht um. Blickt nicht zur Seite. Sie ist erleichtert, obwohl sie es weiß. Dass er wie ein Zug ist. Die Stationen seiner Arbeit abklappert, ohne zu sehen, was um ihn herum geschieht. Sie folgt ihm, beboachtet, wie er sich mit der breiten Hand den Nacken entlang fährt, das Haar, struppig wie es ist, stehen bleibt.

Dass sie ein Wunschkind gewesen sei, erzählte die Mutter ihr. Jahrelang. Das erste, woran sie sich erinnert: Fenster. Vorhänge. Eine ausgebreitete Decke in Pastellfarben, auf der ein Ballon zu sehen ist und eine weite Wiese. Sie liegt auf der Decke, tastet sich langsam nach vorne. Der Körper lässt sich nur schieben, er ist ein komisches Bündel. Sie tritt mit den Füßen aus, um voran zu kommen. Die Wände sind nahe, das Rauschen der Autos hinterm Fenster laut. Hin und wieder dringen Sprachfetzen zu ihr hinauf, oft türkisch. Aber davon weiß sie nichts. Sie robbt umher, will nach einem der Gegenstände grabschen, die da so verstreut auf der weichen, pastellfarben Decke liegen. Eine lange Reise, bis ihre kleinen Finger zum Greifen kommen. Das runde Ding hochheben. Es ist ein Behälter, mit Wasser gefüllt, in dem kleine Gegenstände schwimmen. Tierchen mit glitzernden Maschen im Haar, Katzen, wird man ihr später sagen, was für ein Kitsch, wird sie antworten. Wenn sie auf einen Knopf drückt, kann sie die weißen funkelnden Wesen in die Flüssigkeit hinein katapultieren. Sie bewegen sich dann langsam, gleiten. Glitter glitzert. Das Sonnenlicht bricht sich im Wasser, spiegelt sich in den Luftblasen, die da so umher gleiten. Manchmal schüttelt sie den Behälter, lange und fest. Ob da etwas aus ihm heraus schießen könnte, er vielleicht seine Form verändert, seine Kontur. Sie lotet ihn aus. Nichts. Nur kleine Wasserbläschen beginnen, sich zu bilden. Werden dichter und dichter, je mehr sie daran rüttelt. Kleine Kringel Schaum stoben. Sie ist fasziniert. Schaut und schaut. Neben dem Behälter liegt ein Stoffclown in Pastellfarben. Er ist weich, lässt sich leicht mit den kleinen speckigen Händen zusammen drücken. Aus einem Loch zwischen den Beinen hängt ihm eine Schnur, an der sie ziehen kann. Dann beginnt der Clown, zu singen. Sein Brustkorb vibriert. Und sie macht große Augen. Irgendwann wird ihr auch mit dem Stoffclown langweilig. Die Spieluhr, die in seiner Brust hockt, beginnt zu eiern. Die Schnur ist ausgeleiert. Aber sie wird nicht müde, die Gegenstände um sich herum abzuklopfen. Es ist ein gefährliches Spiel. Ecken, Kanten. Sie stößt manchmal an, fällt um, versteht nicht. Alles, was an ihr an Körper herunter hängt, hat noch nicht mit ihr zu tun. Seltsame Füße. Sie greift nach den Zehen, tastet die Knubbel ab, hebt sie in die Höhe. Sie entdeckt immer wieder mit Freude, dass sie sie bewegen kann. Die speckigen Beinchen gehorchen ihr. Sie lassen sich knicken. Ein wenig in die Höhe heben. Sie kann mit den Zehen wackeln. Sie gluckst. Auch die Finger sind ihr fremd. Manchmal spielt sie mit ihnen, als wären es Gegenstände. Lässt sie über die Pastelldecke wandern. Alle ihre Glieder sind Schauspieler, sie stellt sie auf die Bühne ihrer kleinen Welt. Diese Welt ist der Wohnzimmerboden. Sind die Fenster. Ist das gebauschte Sofa. Ist die weite Landschaft der Decke. Die Finger lassen sich drehen, bäumen sich nach ihrem Willen auf. Später beginnt sie, sie zu füttern. Singt ihnen etwas vor. Erzählt den Füßen, brabbelt. Gibt ihren Kniekehlen zu trinken. Manchmal kommt die Mutter vorbei, ihr Kopf läuft auf Hochtouren, sie muss die Dinge angreifen, begreifen, sortieren. Baum, sagt die Mutter, und deutet auf einen braunen Stab, der auf die Decke gemalt ist. An dessen Kopfende ragt ein Bündel kleinerer Stäbe heraus, grün an den Spitzen. Baum. Sie versteht erst später, dass das mit dem Baum im Park zu tun hat. Baum gefällt ihr. Aber sie kann nicht wirklich danach greifen. Baum lässt sich nur in Form einer Decke unter den Händen zusammenraffen, in Fäuste knüllen. Hinter dem Fenster verändert sich das Licht, jeder Tag ist dicht. Die Mutter scheint sich zu freuen, sie zu sehen, wie sie nach dem Baum greift, ihn in den Händen zusammen sammelt. Die Mutter beugt sich hinunter, sie riecht gut, hat eine Mulde unterm Kinn, in die es sich hinein schmiegen lässt. Manchmal, wenn sie sich an den Ecken oder Enden der Gegenstände stößt, und ein fremdes Gefühl in ihr aufsteigt, sie zu plärren beginnt, weil sie nicht weiß, wohin, nicht weiß, was das ist, kommt ihr vor, dass die Mutter noch trauriger ist als sie. Mit ihr mit plärrt. Das ist nicht gut. Sie wird dann gleich leise. Sie versucht, es der Mutter nicht zu schwer zu machen. Dann gibt die Mutter schneller Ruhe. Die Ruhe hilft. Das Programm in ihrem Kopf braucht Entspannung, muss die Bilder sortieren, die Geräusche, den Ablauf der Bewegungen. Sie ist sehr müde. Sie schläft lange. Die Tage strengen sie an.

 ***

 

Auszug aus: Holzzeitstag, Erzählung von Sophie Reyer, Edition taschenspiel, 2016

Sophie Reyer kann hart zupacken, so daß es schmerzt. In dieser Erzählung unternimmt sie eine Expedition in die Schmerzzonen der Existenz. Mit ihrem Text Holzzeitstag zeigt Sophie Reyer, dass sie aktuell nicht nur eine gefragte Dramatikerin an deutschen Bühnen ist. Sondern – ausgehend von Ovids Daphneerzählung – eine hintergründige, scharf beobachtende und die zwischenmenschlichen Abgründe unnachgiebig beschreibende Autorin. Ein Text der wortwörtlich unter die Haut geht.

Weiterführend →

Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. In ihrem preisgekrönten Essay Referenzuniversum geht sie der Frage nach, wie das Schreiben durch das schreibende Analysieren gebrochen wird. Vertiefend zur Lektüre empfohlen, das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Sophie Reyer und A.J. Weigoni zum Projekt Wortspielhalle. Hören kann man einen Auszug aus der Wortspielhalle in der Reihe MetaPhon.