Vita omnis mortis hora

 

Arthur liest die Zeitung gern. Melancholie

ist täglich Ziel und Ausgang seiner Sucht nach schweren

Katastrophen, die ihn trösten, wenn er unter

Schmerzen seiner Seele neues Leben findet.

Sein Lebensthema ist der Tod, in allen Varianten

liest er, was passieren kann, wenn einer lebt,

wie also stets das Leben durch sein Gegenteil bedroht ist.

 

Es hatte, liest nun Arthur, übermäßiger Genuss von Alkohol

am Samstagabend gegen zweiundzwanzig Uhr,

nach Angaben der Polizei, fatale Folgen:

Es fiel ein Mann im zweiten Stock der Prager Straße in Berlin

durchs Fenster seiner Wohnung auf den betonierten

Hinterhof – er hatte sich hinausgelehnt, weil ihm,

wie’s hieß, vom Alkoholgenuss sehr übel war.

Knapp eine Stunde später wurde einem Hosendieb

die bittre Kälte in Helsinki zum Verhängnis,

so lautete das Protokoll der Polizei. Der Mann,

der sich im Keller eines Hauses die nassen Jeans

von einer Wäscheleine stahl und unter seiner eignen

Hose anzog, wurde schließlich aufgefunden

in der Unterführung einer Autostraße

nahe jener Stadtrandsiedlung, wo er stahl.

Die Temperatur von minus fünfzehn Grad besorgte

ihm den Rest: Die Hose fror am Körper fest,

sodass der Mann nicht einen Schritt mehr vorwärts kam.

Sein Hilferuf blieb offensichtlich unerhört.

 

Arthur legt die Zeitung weg und dann beschließt er

vor dem Abend noch ein neues Buch zu kaufen.

Den teuren Toten heißt ein Titel, den er sieht,

und Arthur denkt, den billig Lebenden sind bisher

keine analogen Ehrungen zuteil geworden,

doch lähmt die Aussicht auf den eignen Tod die Kraft,

die lindernden Sentenzen selbst zu schreiben.

Es ist ja sowieso, sagt er zu sich,

das ungeschriebne Blatt am reinsten und vollkommensten.

Er stellt das Buch zurück und nimmt sich vor,

das Zeitungsabonnement zu kündigen, um desto

melancholischer sein Leben zu verlängern,

indem er seine Katastrophe, die er immer wieder

braucht, in allen Varianten neu erfindet – sich.

 

 

***

Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann. KUNO 2018.

Als intensiver Beobachter verfügt Ulrich Bergmann über die Begabung, noch die alltäglichsten Details in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, um etwas über das Leben und die menschlichen Beziehungen zu erzählen. Er nennt seine Kurzprosa ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Wir präsentieren in diesem Jahr auf KUNO alle Arthurgeschichten und warnen Sie: Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Toten oder lebenden Toten sind zufällig, rein zufällig, absichtlich zufällig, zufällig absichtlich, rein absichtlich und nichts als die reine Absicht.

Weiterführend → Lesen Sie zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.